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Chronik ost-westdeutscher Geschichte(n)

In "Schubladen" befragen sich drei Frauenpaare aus Ost und West nach ihren Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Ein Stück, das reichlich Platz für Vorurteile über zupackende, trinkfeste, sexaktive Ostfrauen und Konsummiezen aus dem Westen bieten könnte. Am Berliner Hebbel am Ufer hat das Autorenkollektiv She She Pop etwas anderes daraus gemacht.

Autor: Eberhard Spreng | 10.03.2012
    Hier ist nicht zusammengewachsen, was doch irgendwie zusammengehört: Sechs junge Frauen sitzen in Zweiergruppen an drei Tischen und berichten wechselnd aus ihren Lebensgeschichten: von der Kindheit im Westen, von der Kindheit im Osten. Und immer wenn einer jener merkwürdigen Begriffe auftaucht, die nur in jeweils einem Teil Deutschlands gebräuchlich waren, sagt der zuhörende Partner "Stop" und "Erkläre"! "Pazifist", "Dividende" "Brigadeführer" sind solche Schlüsselbegriffe, deren Definitionen mal spontan und präzis, mal unsicher und verschwommen klingen. She She Pop belässt es also nicht bei der üblichen deutsch-deutschen Plauderei über Unterschiede und Gemeinsamkeiten, sondern forscht in der Sprache selbst nach den grundlegenden ideologischen und lebenspraktischen Divergenzen. Und die beginnen schon früh:

    "Mir wurde erzählt, meine Mutter hätte mich genau geplant, mein Vater musste seine Dienstreise unterbrechen, um mich zu zeugen. Für meine Erziehung hat sich meine Mutter dann sechs Monate Zeit genommen, dann hat sie wieder angefangen zu arbeiten und ich bin in die Krippe gekommen."

    "Mir wurde erzählt, dass meine Mutter Kindergärtnerin war. Als ich geboren wurde, hatte meine Mutter einen Grund nicht mehr zu arbeiten. Die ersten Jahre meines Lebens verbringe ich mit meiner Mutter vornehmlich in unserem Wohnzimmer. "

    Überbehütung ist einer der Vorwürfe, die die DDR-Frauen ihren Westkameradinnen machen: ein Leben in heimischen Wohnzimmern, mit Müttern, die nicht arbeiten. Und während Performerin Nina Tecklenburg davon berichtet, wie sie sich zwischen Sofa und Gardine versteckt, erklärt Sängerin Alexandra Lachmann das quasi militärisch geschulte Tarnverhalten im freien Gelände.

    Gegenseitig werden Buchempfehlungen gegeben: Alice Millers "Am Anfang war Erziehung" und das "Drama des begabten Kindes" wirft die Unternehmerinnentochter ihrer DDR-Gesprächspartnerin hin, eine Wissenschaftsposition, die aber auch irgendwie zum Individualismus und zum Denken im kapitalistischen Westen passt. Bücher von Simone de Beauvoir, und Virginia Woolf stapeln sich neben den persönlichen Aufzeichnungen. Der Osten hat hier nur Lektüre unbekannter Autoren aufzubieten. Die Frauenemanzipation des Westens wartet also mit deutlich üppigerem Überbau auf. Nach mehr sexueller Experimentierfreude in Kindheit und Jugend klingen indessen die Berichte von den Ostfrauen, die sich die West-Performertruppe als Pendant für diese Produktion geholt hat. Diverse Lebensbereiche kommen so unter die Lupe, nur spärlich interpunktiert von Bewegung, gegenseitigem Porträtieren mit kleinen Videokameras vor einem Hintergrund, der schemenhaft Sitzungs- und andere Versammlungsräume zeigt.

    Wenn das Ende der 80er-Jahre naht und von den ersten ernsthaften Liebesgeschichten die Rede ist, werden immer wieder Platten aufgelegt. Und während die Westdamen für jede Liebschaft einen anderen Song in Erinnerung haben, hat Ex-Brigadeführerin Wenke Seemann wohl immer nur dieselbe Platte aufgelegt. Mit der Musik kommt an diesem mit viel nostalgischem Schmunzeln und befreiendem Lachen aufgenommenen Schubladenabend im Publikum richtig Stimmung auf. Der als "Neidlied" bekannte "Traumzauberbaum" von Reinhard Lakomy kommt als gesellschaftspolitischer Kommentar aus dem Osten, "Wir sind geboren, um frei zu sein" von den westlichen Ton Steine Sterben. Für Momente sieht es so aus, als käme es jetzt tatsächlich zur Wiedervereinigung, waren da ja auch mit Eiskunstläuferin Katharina Witt und Autor Heiner Müller schon zwei Figuren im Gespräch, die sowohl die Ost- als auch die Westfrauen bewundern. Es gibt wohl Berührungspunkte, aber immer noch keine sagen wir mal gemeinsame gesellschaftliche Praxis. Beispiel wäre der Berliner Prenzlauer Berg, wo Ost-Autorin Annett Gröschner 1990 an der Ausrufung der Autonomen Republik Utopia beteiligt war und der gut 20 Jahre später ein Ort ist, wo die Wessis kleine Könige in Kinderwagen über die Trottoirs schieben. She She Pops lustiger Blicke in sechs Schubladen mit Lebenserinnerungen endet so in einer Kaskade der Vorwürfe.
    "
    Hast Du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man eine Sprache spricht und sich nicht versteht?"

    "Hast Du eine Ahnung davon, wie sich das anfühlt, wenn man für jeden Scheiß verantwortlich gemacht wird, der in Deinem Leben schief geht?"

    "Hast Du eigentlich eine Ahnung, wie das ist, wenn man den Kapitalismus eigentlich für eine Zumutung hält, aber keine Alternative mehr hat? "

    "Hast du eigentlich eine Ahnung wie das ist, wenn man den Kapitalismus für eine Zumutung hält, aber keine Alternative mehr hat wegen Dir!"