Samstag, 20. April 2024

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Claudio Monteverdis Marienvesper
Aufruf zum gemeinsamen Gebet

Simon-Pierre Bestion und sein Ensemble La Tempête haben eine sehr persönliche Fassung der Marienvesper von Claudio Monteverdi eingespielt. Dahinter stand der Wunsch, das Ritual eines Abendgottesdienstes nachzuempfinden, an dem viele Kulturen gemeinsam teilnehmen können. Das Ergebnis trifft ins Herz.

Am Mikrofon: Christiane Lehnigk | 27.10.2019
    Das Ensemble La Tempête mit Solistinnen und Solisten, Chor und Orchester mit historischen Instrumenten, im Halbkreis aufgestellt.. Alle tragen schwarze Konzertkleidung. Der Dirigent hebt gerade die Hände zum Einsatz.
    Das Ensemble La Tempête unter der Leitung von Simon-Pierre Bestion wählte Notre-Dame-du-Liban in Paris als Klangraum für die Aufnahme (Hubert Caldaguès)
    Das Weihnachtsgeschäft ist schon in vollem Gange, und allen Unkenrufen zum Trotz veröffentlichen die Label auch im Bereich der Alten Musik noch eine nicht geringe Anzahl an interessanten CDs. Aus dieser Menge ragt eine Aufnahme besonders hervor, die jetzt bei Alpha Classics / Outhere Music erschienene Doppel-CD des französischen Ensembles La Tempête unter der Leitung von Simon-Pierre Bestion. Es ist eine Neueinspielung der "Marienvesper", "Vespro della Beata Vergine" von Claudio Monteverdi.
    Der Organist, Cembalist und Dirigent Simon-Pierre Bestion hat einen sehr persönlichen Zugang zu dem Werk, das 1610 veröffentlicht wurde, aber damals als solches wohl kaum im Zusammenhang aufgeführt wurde. Er betrachtet diese Vesper "als ein großartiges und zauberhaftes Ritual, das das Heilige mit dem Heidnischen verbinde, das Intime mit dem Kollektiven".
    Bestion empfindet sie als "extrem spirituell" und möchte mit seiner Interpretation auch bewusst Gefühle ausdrücken und ansprechen. Dies gelingt ihm gleich zu Beginn, denn so hat man den Chor "Domine ad adiuvandum" zuvor noch nicht gehört.
    Musik: Claudio Monteverdi. Marienvesper SV 206, Deus in adiutorium meum
    Bezug zu den Traditionen des Mittelmeerraumes
    Mit der inständigen Bitte im akkordischen Chorpart, "Herr, eile mir zu Hilfe" beginnt Monteverdis Marienvesper nach dem Invitatorium. Ähnlich wie auch schon das belgische Ensemble Graindelavoix strebt Simon-Pierre Bestion bei seiner Version einen Mischklang an. Er habe bewusst "kräftige, direkte Stimmen mit wenig Vibrato ausgewählt" und vor allem die Sänger zu einer gutturalen Stimmgebung angehalten, wie sie in korsischen, sardischen baskischen und georgischen Gesängen üblich ist. Damit wird gleich zu Beginn ein Bezug zu den Traditionen rund ums Mittelmeer hergestellt, die auch arabische und sephardische Elemente mit einschließen.
    Der Organist und Ensembleleiter Simon-Pierre Bestion mit Gesangsstimmen in alter Notation (in der linken Hand) in der Kirche Notre- Dame-de-Liban in Paris
    Der Organist und Ensembleleiter Simon-Pierre Bestion mit Gesangsstimmen in alter Notation (Hubert Caldaguès)
    Bestion geht es schon darum, den "festlichen, theatralischen Charakter des Sakralen" darzustellen, aber er möchte den starken kollektiven Impuls dieser Gebete betonen. Seiner Meinung nach ist die Aufführungsgeschichte Alter Musik in Mitteleuropa noch zu sehr vom 19. Jahrhundert geprägt, sie müsse sich eher an mediterranen und auch außereuropäischen Traditionen orientieren. Gerade Venedig, die "Stella Maris", "der Meeresstern", war als See- und Handelsmetropole in Kontakt zum Orient, den griechischen Inseln, Sardinien und Konstantinopel.
    Nicht nur Italia first
    Die Volkstraditionen der Händler vermischten sich zwar nicht direkt, kamen aber miteinander in Kontakt und beeinflussten sich. Der Blick darauf brachte Simon-Pierre Bestion dazu, mehrere Gesangsstile miteinander zu vermischen und unterschiedliche Techniken und auch Instrumente einzubinden. Diese Herangehensweise ist nicht mehr neu, eine ganze Reihe von Ensembles hat den interkulturellen Austausch in ihre Interpretationen integriert, aber bei Monteverdis Marienvesper ist das so bisher noch nicht geschehen.
    Bestion hat sich hier auch die Freiheit genommen, einige Teile der Marienvesper noch zu erweitern und "Faux bourdons", Gesänge, bei denen die Melodielinien parallel verlaufen, hinzugefügt. Das geht musikalisch gut auf und gibt einen noch intensiveren Sog in diese Klangwelt, ist aber weder liturgisch erlaubt, noch historisch oder authentisch.
    Nicht historisch korrekt, aber berührend
    Nach der Anrufung zu Beginn erklingt alternierend die eindrucksvolle Eröffnungs-Toccata aus der drei Jahre zuvor entstandenen Oper "Orfeo" von Monteverdi, eine der kürzesten Opernouvertüren der Musikgeschichte. Das Ensemble La Tempête vereinigt in diesem Stück zum ersten Mal alle Stimmen, Frauen und Männer, sowie Instrumente, es ist ein eindringlicher Aufruf zum gemeinsamen Gebet.
    Musik: Claudio Monteverdi. Marienvesper, Toccata et Domine ad adjuvandum me (Ausschnitt)
    Die Marienvesper von Claudio Monteverdi gilt als eines der ersten großen geistlichen Werke des Barockzeitalters. Veröffentlicht wurde sie 1610 zusammen mit seiner 'Missa in illo tempore‘ unter dem Titel: "Messe der heiligsten Jungfrau zu 6 Stimmen für Kirchenchöre und Vesper für mehrere Stimmen mit einigen geistlichen Gesängen für Kapellen oder Fürstengemächer geeignet".
    Die Einteilung besteht aus zwei Abschnitten, auf eine Messe im alten Stil folgt eine ganz modernere Vesper. Bedeutsam ist vor allem die formale und stilistische Heterogenität seiner Bestandteile, die zeigt, wie sich Monteverdi das traditionelle Erbe der Polyphonie der Renaissance und die neue Ästhetik der katholischen Gegenreformation und die Neuerungen der weltlichen ‚seconda prattica‘ zu eigen gemacht hat, was damals revolutionär war.
    Monteverdis Gesellenstück ist einzigartig
    Gewidmet ist die Marienvesper dem damaligen Papst Paul dem V., alias Camillo Borghese, und vielleicht hoffte Monteverdi auf eine Festanstellung in Rom. Er hatte den Druck der Partitur mit dem prachtvoll gestalteten Titelblatt selbst finanziert, in der Hoffnung, dass sich die Investition auch lohnen würde. Doch eine Audienz beim Papst zu bekommen, gelang ihm nicht und so war seine Rom-Reise in dieser Hinsicht erfolglos geblieben.
    Doch lange musste Monteverdi nicht mehr in Mantua ausharren, drei Jahre später stellte er sich erfolgreich in Venedig vor, um Maestro di Cappella an der Basilica di San Marco zu werden, dem religiösen und musikalischen Mittelpunkt der Stadt und zugleich auch die Privatkapelle des Dogen. Eine Position, die er bis zu seinem Tode 1643 inne hatte.
    Musik: Claudio Monteverdi. Marienvesper, Laetatus sum (Ausschnitt)
    Simon-Pierre Bestion und sein Ensemble La Tempête arbeiten bei ihrer emotionalen Interpretation der Marienvesper von Monteverdi mit einer ganzen Reihe von Effekten und Stilmitteln, die die Universalität und Zeitlosigkeit des Werkes noch verstärken sollen. Ob das bei der Musik nötig ist, ist eine andere Frage.
    Neuer Klangfarben-Kosmos
    In jedem Fall gelingt es aber hier, ein ganzes Kaleidoskop an Klangfarben zum Leuchten zu bringen, mit neuen Wendungen, die immer wieder überraschen, einen aber zugleich tiefer in das Geschehen mit hinein ziehen. Die Gestaltung der Klangaufnahme, bei der wirklich alles gegeben wurde, tut ein Übriges dazu.
    Bewusst gewählt ist für die solistischen Antiphonen auch die androgyne Stimme von Eugénie de Mey.
    Musik: Claudio Monteverdi. Marienvesper, Recordare Virgo Mater
    Besonders originell und anrührend haben Simon-Pierre Bestion und sein Ensemble La Tempête den Marienhymnus "Ave Maris stella", "Meerstern, sei gegrüßt" gestaltet, bei dem in der Partitur die Instrumentalstimmen nicht verzeichnet sind. Hier wurden bestimmte Strophen herausgestellt und den Solisten zugewiesen, die ursprünglich für die Interpretation durch den Chor vorgesehen waren. Dadurch solle der poetische Text besser zur Geltung kommen. Eine Strophe wird dann wiederum nur gesummt, was einmal mehr für Gänsehaut sorgt.
    Musik: Claudio Monteverdi. Marienvesper, Ave Maris Stella
    Kaum einer der großen Dirigenten, die sich mit Alter Musik und historischer Aufführungspraxis beschäftigen, hat in den letzten 30 Jahren nicht "seine" Version der Marienvesper von Monteverdi eingespielt, mit jeweils verschiedenen Schwerpunkten. Legendär und kaum übertroffen ist dabei vor allem die Aufnahme von John Eliot Gardiner von 1989, die am Originalschauplatz sozusagen, im Markusdom in Venedig live von der Deutschen Grammophon und der BBC aufgenommen wurde. Kaum vorstellbar, dass so etwas heute noch möglich wäre. Wobei, die Deutsche Grammophon hat es ja auch schon bis in die Sixistinische Kapelle im Vatikan geschafft.
    Viele Freiheiten für die Interpreten
    Gardiner, der die Marienvesper erstmals 1974 auf Schallplatte vorgestellt hatte, hat sich viel mit deren Quellen und der Geschichte beschäftigt. Aber auch er bekannte sich zu seiner persönlichen Herangehensweise und kam zu dem Schluss, dass sich "jeglicher Dogmatismus bezüglich einer alleingültigen Lösung aufführungspraktischer Fragen umso mehr verbietet, je mehr man den Quellen nachspürt."
    Der französische Organist und Dirigent Simon-Pierre Bestion und sein 2015 gegründetes Ensemble La Tempête haben jetzt eine ganz eigene, sehr persönliche Fassung vorgestellt, und eine phantasievolle Reise durch die Klangwelt des Mittelmeeres im Rahmen einer Messe unternommen. Monteverdi selbst hat Interpreten viele Freiheiten gelassen. Die kann man aber nur auskosten, wenn man, wie Bestion, in der Musik dieser Zeit zu Hause ist und mit allen Stilmitteln jonglieren kann. Und auch die Klangaufnahme muss dem entsprechen. Hier diente Notre-Dame-du-Liban, eine maronitische Kathedrale im 5. Pariser Arrondissement als adäquater Raum.
    Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Niveaus in der Alte Musik-Szene
    Auch, wenn man die Marienvesper anders kennt, sollte man sich auf dieses Experiment einlassen, das auch so etwas ist, wie eine Bestandsaufnahme dessen, was die lebendige Alte-Musikszene heute ausmacht. Und es erinnert auch an die Verbindungen und Einflüsse, die es in der europäischen Musikgeschichte immer gegeben hat.
    Der Höhepunkt der Marienvesper ist das Magnificat, das zu seiner Zeit wohl kaum opulenter vertont wurde.
    Für Bestion ist nicht zuletzt das 'Gloria' daraus von besonderer Bedeutung. Hier ist die Stimme des Engels als drei entfernte Echos zu hören, die die Stimmen der vier Erzengel versinnbildlichen sollen.
    Musik: Claudio Monteverdi. Marienvesper, Gloria Patri (Ausschnitt) aus Magnificat
    Claudio Monteverdi: Vespro della Beata Vergine SV 206
    Claire Lefilliâtre, Fiona McGown, Eugénie de Mey, Francisco Mañalich u.a.
    La Tempête
    Leitung: Simon-Pierre Bestion
    Alpha Classics / Outhere Music LC-00516 // ALPHA552