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"Coming Society"
Die Zukunft trägt Leggins

Schauspieler in schrillen Kostümen, die Nietzsche ins Ohr flüstern: In Susanne Kennedys Inszenierung "Coming Society" wandert der Zuschauer durch eine begehbare Installation. Die Aufführung passt aber eher ins Museum als an die Berliner Volksbühne.

Von Barbara Behrendt | 18.01.2019
    Ein Szene aus "Coming Society" von Susanne Kennedy und Markus Selg. Auf den Bild: Suzan Boogaerdt, Frank Willens, Jone San Martin, Bianca van der Schoot und Dieter Rita Scholl.
    Coming Society von Susanne Kennedy und Markus Selg. Mit: Suzan Boogaerdt, Frank Willens, Jone San Martin, Bianca van der Schoot und Dieter Rita Scholl. (Julian Röder, Volksbühne Berlin)
    "Hello and welcome. What is it, that brings you to this virtual reality? To play this physical body that is your avatar?"
    Noch sitzen wir im Zuschauerraum. Auf der Bühne ein Tor, der Durchgang in eine andere Welt. Eine weichgespülte Computerstimme fragt, was uns in diese virtuelle Realität geführt habe. Was uns dazu gebracht habe, in diesem Körper, diesem "Avatar" zu spielen. Das Spiel sei unendlich: Sobald unsere Figur sterbe, bekämen wir eine neue.
    "You are the player."
    Der Eiserne Vorhang hebt sich, legt den Blick frei auf eine knallbunte Bühne, die wir betreten sollen:
    "Attention. Please stand up and walk towards the stage."
    Auf diesem Parcours schlendern wir die nächsten 75 Minuten ziellos herum. Kleine Zimmer sind mit grellen Mustern bedeckt. Eine Höhle wirkt wie ein Vulkan, die Wände mit feuerrotem Magma ausgeschlagen. Bilder erinnern an menschliche Gliedmaßen, dann wieder an Gesteinsbrocken, die durchs All zu fliegen scheinen. Eine psychedelische Mischung, erschaffen vom Künstler Markus Selg, der schon früher mit Kennedy gearbeitet hat. Die Bühne dreht sich und erzeugt einen leichten Schwindel.
    Klebeband für extremes Face-Lifting
    Sonst geschieht nicht viel. Die Schauspieler tragen diesmal keine Masken, wirken aber dennoch wenig menschlich – es liegt am Klebeband, das die Haut um ihre Augen nach hinten zieht wie bei einem extremen Face-Lifting. In schrillen Leggins oder Plastikanzügen sitzen sie in den Kammern und bewegen ihre Lippen zum Text aus dem Off. Nur Dieter Rita Scholl schreitet beseelt über die Bühne und raunt einem ein Nietzsche-Zitat zu. Erst gegen Ende kommt mehr Bewegung in die Spieler, Füße werden gesalbt, Avatare von der "Inkubationsstation" bedeutungsschwer ins nächste Leben getragen.
    Menschen der Zukunft sollen diese Roboter sein, Kennedy bezeichnet sie als Schamanen, als Gastgeber oder Heiler. Ihre Worte sind, wie schon bei "Women in Trouble", Kennedys erster Arbeit an der Volksbühne, hanebüchen esoterisch. Der Weg zum Licht soll eingeschlagen, die Entwicklung des Bewusstseins vorangetrieben werden.
    Nietzsche zwischen pseudophilosophischem Geraune
    "There is only one way for you: It is a total, complete and unconditional surrender."
    Der Pfad durch die Widerstände des Lebens führt, heißt es, nur durch die bedingungslose Kapitulation. Für die Erkenntnis, der Mensch müsse sich selbst überwinden, zieht Kennedy Nietzsche heran – eine höchst abenteuerliche Verortung des großen Denkers in dieser assoziativen Mischung aus pseudophilosophischem Geraune und spiritistischer Erweckungssitzung. Gesprochen wird auf Englisch – und es ist wahrlich nicht das Schlechteste, dabei nicht jedes Wort zu verstehen.
    Man mag es kaum glauben, doch für Kennedy ist diese "Coming Society" eine Wunschwelt. Mit befremdlichem Optimismus beschwört sie in Interviews die "ungeahnten Möglichkeiten" der Technikwelt, die uns bei der "Transformation" unseres Selbst behilflich sein könnten. Zu sehen ist jedoch ein Schreckensszenario. Menschen, die ihr Menschsein, ihre Individualität, ihre Gefühle überwunden haben: eine gleichgeschaltete Brave New World.
    Schwacher Text, wenig Ereignisse
    Wie auch immer man Kennedys Weltsicht bewerten mag – das Problem dieser Installation, die deutlich besser im Museum aufgehoben wäre, liegt in ihrer Ereignislosigkeit und ihrem schwachen Text. Als sich Kennedy noch an Stücken von Marieluise Fleißer und Rainer Werner Fassbinder abarbeitete, zeigte sie neue Blicke auf deren Figuren, Menschheitsstudien. Nun jedoch klittert sie ihre Texte aus, wie sie sagt, Fernsehserien, Airbnb-Inseraten und Internetschnipseln zusammen.
    Auch wenn die Bühne zunächst beeindruckt – ein Eintauchen in diese Welt findet nicht statt. Dafür haben die Avatare viel zu wenig mit uns zu tun. Zum Glück, möchte man sagen.