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Contergan

Heute auf den Tag vor 40 Jahren nahm die Pharmafirma Grünenthal das Medikament Contergan vom Markt. 5000 schwer missgebildete Kinder waren in den Jahren 1957-61 zur Welt gekommen - sie hatten fehlgebildete Arme und Beine, teilweise fehlten ganze Knochen, hinzu kamen Schädigungen an inneren Organen wie dem Herzen oder dem Magen-Darmtrakt. Der Zusammenhang zwischen diesen Missbildungen der Neugeborenen und der Einnahme des Medikaments "Contergan" war eindeutig belegt - vier Jahre nachdem das Präparat als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gekommen war. Bis heute zählt der Contergan-Skandal zu einem der größten und erschreckendsten der Arzneimittelgeschichte. Doch der Contergan-Wirkstoff, das Thalidomid, wurde nicht für immer verbannt. Seit einiger Zeit weiß man, dass diese Substanz auch positive Wirkung haben kann, z. B. bei der Behandlung von Patienten mit Knochenmarkkrebs.

Grit Kienzlen | 27.11.2001
    Wir haben zwischenzeitlich durchweg alle gesundheitliche Probleme, überwiegend, was den Gesundheitsapparat betrifft. Wir müssen sehr beweglich sein, von morgens bis abends. Es sind so richtig atypische Bewegungen. Ich muss mich zum schreiben sehr weit vorbeugen, ich muss immer, wenn ich etwas aufheben möchte vom Boden mich sehr weit herunterbücken und da kommt es halt einfach zu Überdehnungen der einzelnen Gelenke, was sich dahingehend auswirkt, dass wir im Schulterbereich mit dauerhaften Schmerzen rechnen müssen.

    Margit Hudelmaier kennt durch ihre Arbeit im Bundesverband Contergangeschädigter viele Contergan-Opfer und deren Probleme. Sie selbst meistert ihr inzwischen 41 jähriges Leben ohne Arme. Ihre Hände sind direkt am Rumpf angewachsen. Den Kaffee nippt sie während des Interviews aus einer Tasse an der Tischkante. Andere Contergan-Opfer haben neben den Schulterschmerzen auch Hüftprobleme. Oder von außen unsichtbare Fehlbildungen am Herzen, am Magen-Darm Trakt oder am Uterus machen ihnen zu schaffen.

    Manche, die ohne Beine geboren wurden und nun 40 Jahre im Rollstuhl hinter sich haben, leiden oft an Stoffwechselproblemen, bedingt durch mangelnde Bewegung. Doch obwohl das Contergan, Thalidomid mit wissenschaftlichem Namen zur größten Arzneimittelkatastrophe in der deutschen Geschichte führte, ist die Substanz heute wieder im Einsatz. An der Medizinischen Klinik 5 der Universität Heidelberg beispielsweise wird sie von Leuten geschluckt, die an Knochenmarkkrebs leiden.

    Wir behandeln mit Thalidomid Patienten mit einer bösartigen Erkrankung, die heißt multiples Myelom und seit 1999 haben wir Erfahrungen mit der Behandlung mit diesem Thalidomid bei dieser Erkrankung.

    ...so der verantwortliche Mediziner Prof. Hartmut Goldschmidt. Gut vier Jahre hätten Patienten mit dieser Form des Knochenmarkkrebs im Schnitt noch zu leben, wenn die Erkrankung erkannt ist, erzählt er. Plasmazellen im Mark wachsen dabei unkontrolliert, zerstören den Knochen und vergiften den Körper. Chemotherapien und die Transplantation von Blutstammzellen helfen, aber häufig kommt der Krebs zurück und dann setzt Goldschmidt Thalidomid ein.

    Wir wissen, dass 1/3 der Patienten , die durch eine Chemotherapie nicht mehr positiv beeinflusst werden können mit einer Thalidomid-Behandlung die Krankheit zurückgedrängt bekommen. Und wir wissen, dass eine Kombination Chemotherapie+Thalidomid sogar dazu führt, dass 70 Prozent der Patienten, die sonst keine Behandlungsmöglichkeit mehr haben, wieder ansprechen.

    Die Lebenserwartung steigt also in den Studien. Goldschmidt hat bislang 200 Patienten mit Thalidomid behandelt. Dabei hat die Substanz neben der fruchtschädigenden Eigenschaft eine weitere schwere Nebenwirkung: Taubheit und Gefühllosigkeit in Händen und Füßen, die auf Schädigung der Nerven zurückgeht und oft nicht umkehrbar ist.

    wir sehen bei 1/3 unserer Patienten mittelschwere neurologische Komplikationen, die dazu führen, dass das Medikament reduziert werden muss und wir haben auch Patienten, die eine schwere Nervenleitungsbeieinträchtigung haben, die ganz wesentlich ihre täglichen Arbeiten im Leben beeinflusst.

    Allerdings, sagt Goldschmidt, seien die Nebenwirkungen bei der Chemotherapie oft noch schwerer und seine Patienten sind todkrank.

    Es gibt eben Patienten, die das als einzige Medikation für sich sehen, um überhaupt zu leben und die das in Kauf nehmen über viele Monate in ihrer nervlichen Befindlichkeit beeinträchtigt zu sein.

    Thalidomid ist in Deutschland nicht zugelassen, kann also nur im Rahmen kontrollierter Studien gegeben werden. Doch die französische Firma Laphal bereitet derzeit einen Zulassungsantrag vor. Der Knochenmarkkrebs Multiples Myelom soll nach ihrer Vorstellung eine der Indikationen sein, für die Thalidomid dann per Rezept verschrieben werden kann. Außerdem ist die Wirksamkeit von Thalidomid als Entzündungshemmer bei bestimmte Geschwürbildungen von Aids-Kranken und einer entzündlichen Form der Lepra belegt. Ob die Daten eine Zulassung tatsächlich rechtfertigen, wird die europäische Arzneimittelbehörde in London entscheiden.