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Cornelia Funke: Die Klassiker sind wunderbar zum Vorlesen

Beim Vorlesen von Literatur passiert "etwas ganz Magisches", weil die Worte dann "ihren Klang zurückbekommen", sagt die deutsche Jugendbuchautorin Cornelia Funke: "Wir vergessen das schnell, weil wir uns so ans gedruckte Wort gewöhnt haben", betont die in den USA lebende Schriftstellerin am heutigen bundesweiten Vorlesetag.

Cornelia Funke im Gespräch mit Christoph Heinemann | 18.11.2011
    Christoph Heinemann: Der französische sterngekrönte Küchenchef Jacques Le Divellec hat einmal gesagt: Ohne dass er als Kind seinen Eltern und der Großmutter in der Küche über die Schultern geschaut hätte, wäre er wohl niemals Koch geworden. Dieses Verhältnis gilt auch für das Vorlesen in Kindertagen und die Lektüre als Erwachsener oder die spätere Fähigkeit, schreiben zu können. Einfacher ausgedrückt: Wenn man Hänschen nicht vorliest, wird Hans vermutlich auch nicht ins Bücherregal greifen.

    Heute findet der bundesweite Vorlesetag der Stiftung Lesen und der Wochenzeitung "Die Zeit" statt. Wir haben vor dieser Sendung die Schriftstellerin Cornelia Funke in ihrer Heimat an der US-Westküste erreicht, die Erfinderin unter anderem der wilden Hühner und natürlich der Tintenwelt-Trilogie, des Jacob Reckless und vieler anderer Personen, die in den Köpfen vieler Kinder, Jugendlicher und manch eines Erwachsenen leben. Guten Morgen, Frau Funke.

    Cornelia Funke: Guten Morgen, Herr Heinemann!

    Heinemann: Frau Funke, was passiert mit Literatur, wenn sie nicht nur gelesen, sondern eben vorgelesen wird?

    Funke: Ich finde ja immer, dass dann etwas ganz Magisches passiert. Ich denke fast, man schreibt als Schriftsteller eigentlich die Worte auf, damit die dann irgendwann laut gelesen werden, weil sie dann ihren Klang zurückbekommen. Wir vergessen das ja so ganz schnell, weil wir uns so ans gedruckte Wort gewöhnt haben, dass die ja eigentlich klingen. Und ich habe Gott sei Dank immer wunderbare Vorleser wie den Rainer Strecker, die das dann auch sehr deutlich machen.

    Heinemann: Arbeiten Sie beim Schreiben mit Vorlesen?

    Funke: Ja, ganz intensiv. Wenn ich erst mal in der dritten oder vierten Fassung eines Buches bin, fange ich an, mir das immer laut vorzulesen, während ich schreibe, weil man dabei nichts deutlicher merkt, ob was nicht funktioniert. Und dann ist es natürlich immer das Allerwunderbarste, wenn man dann in irgendeiner Schulklasse oder vor Kindern eine Geschichte laut vorliest und richtig merkt, wie die dann zu atmen beginnt.

    Heinemann: Gilt das auch für den berühmten ersten Satz eines Buches?

    Funke: Oh, für den gilt das ganz besonders. Da macht man ja die Tür mit auf. Das heißt, wenn der nicht gut klingt, dann fällt die Tür gleich wieder zu.

    Heinemann: Da gibt es eine berühmte Geschichte bei Albert Camus. Kennen Sie "Die Pest", dieser Angestellte im Rathaus, Grand, der einen Roman schreiben möchte, aber der über den ersten Satz partout nicht herauskommen will? Das ist Ihnen aber noch nie passiert?

    Funke: Ja. Ich glaube, dann muss man ganz schnell weiter und den ersten Satz später finden. Das ist ganz gefährlich, wenn man den dann gleich perfekt haben will, denn das gelingt sehr selten.

    Heinemann: Frau Funke, die Bücher, die Sie geschrieben haben, gehören längst zum Kanon. Welche weiteren Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur sollten Eltern ihren Kindern vor allem vorlesen? Was gehört unbedingt dazu, was empfehlen Sie?

    Funke: Es ist natürlich da die große, große Frage, mit welchem Alter sie es hier zu tun haben. Aber sagen wir mal so: Ich würde immer sagen, bei den kleineren - fangen wir mal bei den jüngeren an - würde ich immer sagen, dass man Astrid Lindgren liest, immer noch und immer wieder, und da muss man sehen, ob das Kind lieber Geschichten über den Michel hört, oder vielleicht doch schon "Die Brüder Löwenherz", was mein Lieblingsbuch von ihr ist. Dann gibt es den "Hobbit" von Tolkien, mit dem ich die allerwunderbarsten Vorleseerfahrungen gemacht habe bei meinen Kindern. Und dann habe ich, weiß ich noch ganz genau, meinem 14-jährigen Bruder den ganzen "König auf Camelot" von T. H. White vorgelesen und das hat uns sehr, sehr viele Tage beschäftigt, und der 14-Jährige saß ruhig auf seinem Stuhl dabei.

    Heinemann: Sie haben Ausdauer!

    Funke: Ich habe Ausdauer, aber ich muss sagen, er hatte die auch. - Ich würde sagen, natürlich gibt es etliches von Kästner. Sie sehen schon, ich bin in den Klassikern, aber die sind einfach auch immer noch so wunderbar zum Vorlesen. Ich glaube, man sollte auch immer gucken, was für ein Kind habe ich denn da vor mir. Will das fantastische Geschichten hören, will das ganz realistische Geschichten hören, denn das gibt es ja durchaus. Ich habe immer gesagt, wenn ich meine Zuhörer vor mir habe, wie viele Drachenreiter sind hier, wie viele wilde Hühner, weil das oft schon sehr verschiedene Leser sind mit sehr verschiedenen Bedürfnissen.

    Heinemann: Wie bekommt man insbesondere die Jungs, die ja weniger lesen, statistisch jedenfalls, als die Mädchen, wie bekommt man die zum Zuhören und dann natürlich auch an die Bücher?

    Funke: Ich habe Gott sei Dank die Erfahrung, dass fast die Hälfte meiner Leser Jungs sind, was auch meine Verleger immer erstaunt. Ich glaube, dass Harry Potter das aufs Wunderbarste geschafft hat, die auch zu bekommen - übrigens auch ein fantastisches Vorlesebuch. Ich glaube, in England gibt es statistische Ergebnisse, dass 40 Prozent mehr Eltern inzwischen vorlesen seit Harry Potter. Man muss abenteuerliche Geschichten für Jungs lesen. Das habe ich als Kind, als Mädchen allerdings auch gelesen. Ich war zum Beispiel auch besessen von "Tom Sawyer". Man sollte die Kinder auch wirklich einfach mal selbst aussuchen lassen. Ich glaube, dass ein großer Fehler, den man machen kann, der ist, dass man Kindern zu lesen gibt, was man denkt, was die lesen sollten, sodass sich das Buch plötzlich fast wie Medizin anfühlt, aber nicht wie Schokolade. Das heißt, die Medizin werden sie natürlich sehr schwer verkaufen, aber die Schokolade ganz leicht.

    Heinemann: Frau Funke, Sie leben in den USA. Ist das Leseverhalten der Kinder und Jugendlichen und das Vorleseverhalten der Erwachsenen dort anders als in Deutschland?

    Funke: Dazu gibt es sehr widersprüchliche Sachen zu sagen. Zum einen gibt es ja in Deutschland diese öffentliche Vorlesekultur inzwischen, die sich ja auch erst in den letzten Jahren so deutlich entwickelt hat, dass ich zum Beispiel eine Stunde vor Publikum lese und es ganz still ist. Dieses Format gibt es in Amerika nur für Erwachsenenliteratur, für Kinder eigentlich kaum, denn die Kinder hier haben es viel lieber, wenn man ihnen zehn Minuten vorliest und dann eine Stunde lang ihre Fragen beantwortet. Die sind sehr am Handwerk interessiert. Die wollen wissen, wie machst du das, wann schreibst du, wie findest du den Anfang und so weiter und so weiter. Aber was die Schulen betrifft, finde ich, dass hier unglaubliche Dinge für die Leseförderung gemacht werden, denn es gibt die sogenannte Summer Reading List, das heißt, jedes Kind bekommt eine Liste von Büchern, die über den Sommer gelesen werden sollen, eines oder zwei sind immer ein Muss, und es wird unglaublich viel mit Büchern während des Unterrichts gearbeitet, sodass meine Kinder sich am Ende des Jahres meist durch mindestens ein Dutzend großer Romane haben durchlesen müssen und auch dazu in der Schule gearbeitet haben. Außerdem wird das Kreative Schreiben hier von Kindern sehr, sehr ermutigt, sodass die ihnen dann mit fünf Jahren schon ihre Gedichte im Kindergarten vorlesen.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk - ein Gespräch mit der Schriftstellerin Cornelia Funke. - Wir sprechen von den Kindern. Ein Teil von deren Lebenswelt ist längst digital. Internet, E-Mails liefern uns Milliarden Wörter per Mausklick. Wie wirkt sich diese Allgegenwart, ständige Verfügbarkeit von Texten aller Art auf Sprache aus?

    Funke: Auch da gibt es, glaube ich, sehr, sehr viele Dinge zu beobachten, und viele sind nicht so eindeutig, wie das im Moment oft eingeordnet wird: Oh Gott, was passiert jetzt, die Lesekultur geht verloren. Das Erstaunliche ist ja, dass Kinder im Moment mehr mit Wörtern kommunizieren als je zuvor. Die gehen ja nicht ans Telefon, die texten. Da entsteht natürlich eine andere Art von Sprache; ich finde aber, dass wir der trotzdem Respekt zollen sollten. Und was sehr interessant ist - und da haben mich auch erst Kinder drauf aufmerksam gemacht -, es gibt ja im Internet inzwischen unglaublich viele Seiten, auf denen Kinder selber schreiben. Hier heißt das FanFiction.com, wo sie ihre Lieblingsfiguren zum Leben erwecken. Da habe ich Hunderte von Geschichten über meine Figuren gefunden, na, ganze Romane über meine Figuren.

    Heinemann: Geschichten über Ihre Geschichten?

    Funke: Ja! Bei FanFiction gehen die Kinder drauf und schreiben über Harry Potter, schreiben über Jim Knopf, wenn sie den lieben, nehmen ihre Lieblingsfiguren aus Büchern und fangen an, denen ein Eigenleben zu geben, was ich ganz faszinierend finde. Das heißt, es besteht ein unglaublicher Drang zurzeit bei Kindern, Geschichten zu erzählen, und was ich von einigen Teenagern gehört habe, ist, dass die sich auch inzwischen zusammentun und Geschichten erzählen, indem sie nämlich aus dem Internet Software haben, mit der sie von drei Computern aus die gleiche Geschichte schreiben und da auch reinschreiben, sodass da im Moment ganz seltsame und ungewöhnliche Dinge passieren, wo ich manchmal denke, trotz der Krise, in der ja das Buchgewerbe sicherlich ist, aufgrund der Umstellung aufs Elektronische, ist da aber doch was am Passieren, das uns vielleicht irgendwann viele große Erzähler bringt.

    Heinemann: Das heißt, im Internet kann jeder Schriftsteller werden, unabhängig von Verlagen?

    Funke: Ganz genau, was interessant gerade eben natürlich für Kinder und Jugendliche ist, weil diese unglaubliche Schwelle nicht da ist, oh Gott, ich muss da jetzt aber, wo schicke ich denn das hin, wie fange ich denn an zu schreiben, wird das denn jetzt irgendwann gedruckt. Dadurch, dass natürlich der Computer einem auch ganz schnell vormacht, dass das schon gedruckt ist, kommt da gleich diese Pseudoprofessionalität hin, die natürlich manchmal dazu verführt, die eigene Arbeit zu überschätzen, die aber auch Gott sei Dank diese Angstschwelle wegnimmt vor dem ersten Satz, vor dem Schreiben, weil das alles ja gleich so schön aussieht und weil man da ja auch gleich schon relativ offiziell mit spielen kann.

    Heinemann: Frau Funke, würden Sie anders schreiben, wenn Sie wüssten, dass Ihre Werke nicht mehr auf Papier gedruckt, sondern elektronisch, also im E-Book, gelesen würden - ausschließlich?

    Funke: Das ist eine sehr interessante Frage und ich glaube nicht, dass ich die beantworten kann, denn das würde ich wahrscheinlich erst wissen, wenn das dann so wäre. Es ist natürlich hier so: Ich habe gerade gehört, dass in Amerika inzwischen der Anteil des elektronischen Buches fast 50 Prozent ist. Das heißt, das ist so radikal schnell gegangen, dass wir alle davon erstaunt sind. Ich hatte zwar erwartet, dass das elektronische Buch irgendwann kommt, aber dass es so schnell kommt, ist schon erstaunlich. Das heißt, ich habe eigentlich schon die Situation, dass sehr viel von meinen Büchern auf einem Kindle oder auf einem iPad oder was immer gelesen wird. Ich merke bei mir noch nicht, dass sich da irgendwas ändert. Ich schreibe sowieso seit Jahrzehnten auf einem Computer. Das heißt, ich sehe meine Worte ja sowieso als Allererstes auf einem Bildschirm. Für mich ist das, glaube ich, wesentlich bedenkenswerter als Illustrator, weil man da natürlich sehr, sehr darüber nachdenkt, das auf Papier zu sehen und dieses Gefühl zu haben. Dann ist es natürlich auch so, dass ich einfach schöne Bücher liebe und das Handwerk, das damit verbunden ist. Aber gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich 52 bin und dass das einem Zehnjährigen heute vielleicht ganz anders geht.

    Heinemann: Das heißt, Sie nehmen diese Entwicklung eher mit weinendem oder mit lachendem Auge zur Kenntnis?

    Funke: Ich habe beides, ein lachendes und ein weinendes. Das heißt, ich glaube eher, dass was passieren wird, dass Bücher wahrscheinlich irgendwann auf Papier was relativ Kostbares sein werden, fast so was wie Antiquitäten. Ich glaube, dass es immer Bücher auf Papier geben wird, weil wir die Schönheit eines Buches auch wieder entdecken. Aber das wird natürlich nicht unbedingt im Taschenbuch so sein. Vielleicht - und das ist jetzt nur meine wilde Theorie - werden einfach die billigen Bücher verschwinden, weil die einfach so viel leichter auf dem Bildschirm zu lesen sind und weil Menschen die heute sowieso schon wegschmeißen, nach dem Urlaub nicht wieder mit nach Hause nehmen, oder auch sonst nicht allzu respektvoll damit umgehen, während das schöne Buch - und das weiß ich, dass das einige kleine Verlage im Moment hoffen -, das schöne Buch zurückkommt, weil es dadurch im Grunde so was wie ein Lustobjekt wieder wird.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.