Freitag, 29. März 2024

Archiv

Corona als Kreuzwegerfahrung
"Es ist wichtig, eine Form des Andenkens an die Krise zu finden"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat eine Trauerfeier für die Corona-Toten vorgeschlagen - bisher gab es wenig Resonanz. Holger Zaborowski, Philosophieprofessor in Erfurt, plädiert dafür, schon jetzt darüber nachzudenken, wie wir uns später an die Erfahrung von Leid und Hilfe erinnern wollen.

Holger Zaborowski im Gespräch mit Christiane Florin | 09.09.2020
Papst Franzikus beim traditionellen Kreuzweg am Karfreitag auf dem fast menschenleeren Petersplatz.
Eines der Bilder, die Holger Zaborowski zu seinem Buchprojekt inspiriert haben: Papst Franziskus beim traditionellen Kreuzweg am Karfreitag 2020 auf dem fast menschenleeren Petersplatz. (afp // CLAUDIO PERI)
Christiane Florin: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am Wochenende vorgeschlagen, der Corona-Toten mit einer Trauerfeier zu gedenken. In Italien und Spanien gab es staatliche und kirchliche Zeremonien. Das Echo in Deutschland auf diesen Vorschlag war eher verhalten. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass gut 9.000 Tote für eine Art Staatstrauer nicht reichen.
Kürzlich ist ein Buch erschienen, in dem über Corona, Leid und Tod reflektiert wird. Es heißt "Auf dem Weg zum Kreuz. Meditationen in Zeiten der Corona-Pandemie". Der Kreuzweg hat 14 Stationen – von der Geißelung bis zur Grablegung –, diesen Weg gehen Christinnen und Christen normalerweise in Karwoche. Auch das war in diesem Jahr anders, weil Gottesdienste und andere liturgische Feiern wegen des Versammlungsverbots nicht stattfinden konnten. Die Kreuzweg-Meditationen konnte man vor Ostern auf dem online-Portal katholisch.de esen, sie wurden für das Buch ergänzt und mit aktuellen Fotos kombiniert.
Einer der Herausgeber ist Holger Zaborowski, Philosophie-Professor an der Universität Erfurt. Er lehrt an der katholischen Fakultät. Herr Zaborowski, warum halten Sie die Kombination aus Kreuzweg und Corona-Krise für passend?
Holger Zaborowski: Es gibt einen unmittelbaren Grund: Dass der Höhepunkt der Corona-Pandemie ja auch in der Osterzeit war, in der Karzeit. Und dass dann dieser Bezug - Was hat Ostern zu tun mit der Pandemie? Was sagt uns die Pandemie in dieser jetzigen Situation? - direkt auf der Hand lag. Das war ja ein Osterfest, wie es lange keines gegeben hat. Die Bilder des Papstes auf dem leeren Petersplatz sind uns ja allen in Erinnerung. Und das ist ein erster äußerer Bezug gewesen, aber es gibt, denke ich,auch einen inneren Bezug, der darin liegt, dass uns in der Corona-Pandemie nochmal ganz neu die Frage nach Leid, nach Sterben, nach auch Trauer und auch Trost im Leiden stellt. Der Kreuzweg hat historisch, in der Tradition der Frömmigkeit bis in die Gegenwart hinein immer auch diese Dimensionen gehabt. Also er hat uns das Leid Jesu auf dem Weg zum Kreuz gezeigt, aber dabei gleichzeitig nicht nur zu einer inneren Reflexion geführt, sondern immer auch auf die Bedeutung des Mitleidens, der Barmherzigkeit, der Hinwendung zum anderen hingewiesen und im Grunde auch immer ein Moment der Hoffnung beinhaltet, weil der Weg zum Kreuz auch ein Weg zur Auferstehung, zum Sieg über das Leid, über den Tod ist.
"Ikonen der Verzweiflung, Ikonen der Solidarität"
Florin: Corona heißt Kranz, Krone und es bietet sich an, die Dornenkrone zu meditieren, die zweite Station des Kreuzwegs. Wie haben Sie sich davor geschützt, dass es zu platt wird?
Zaborowski: Wir haben die Autorinnen und Autoren natürlich sehr sorgfältig ausgewählt, wir haben mit denen auch kommuniziert, wir haben auch unser Anliegen erklärt, dass es eben nicht darum geht, wirklich zu platt oder zu schnell die Parallelen zu ziehen. Das ist eigentlich sehr sehr gut gelungen, weil die Autorinnen und Autoren schon sehr sehr sensibel gewesen sind, für die Aufgabe, die sich da gestellt hat. Die Texte sind ja auch alle noch während dieser Zeit entstanden, das Buch ist Ende Juli herausgekommen, aber die Texte lagen alle wenige Wochen nach Ostern vor, als wir in Deutschland noch mitten in der Pandemie gewesen sind. Und das hat, glaube ich, auch verhindert, dass es zu platt wird. Und wir haben versucht auch durch Fotos, aktuelle Fotos, Bezüge in die Gegenwart zu schaffen. Manche dieser Fotos sind fast schon Ikonen geworden. Auf der einen Seite Ikonen der Verzweiflung, die wir sehen, von Menschen, die ihr Kreuz zu tragen haben, aber auch Ikonen der Solidarität oder des Daseins für andere.
Philosoph Holger Zaborowski
Der Religionsphilosoph Holger Zaborowski hat sich dem Kreuzweg gewidmet und daraus Inspirationen zu Meditationen in der Corona-Pandemie gezogen (Matthias Cameran )
Florin: Sie selbst haben über die Pilatus-Szene geschrieben und vor allem über die Frage "Was ist Wahrheit?". Und sie schreiben: "Letztlich ist die Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus auch dies: eine Verurteilung des Pontius Pilatus durch den Wahrheitsanspruch Jesu." Illustriert ist diese Kreuzwegstation mit einem Foto von Donald Trump. Trump als Pilatus, wenn ich das richtig sehe - ist das nicht ein bisschen viel der Ehre oder der Unehre?
Zaborowski: Es ist vielleicht ein bisschen viel der Ehre ihn mit dieser historischen Figur sofort gleichzustellen. Aber es ging ja darum, auch auf eine gewisse Parallele aufmerksam zu machen, nämlich auf die Frage: Was ist das Verhältnis in der Politik zwischen Macht und Wahrheit? Ich denke, dass wir in dieser Pandemie ja gesehen haben, dass es Politikerinnen und Politiker gibt, weltweit, die die Krise kleingeredet haben, die gesagt haben: "Hier gibt es eigentlich überhaupt kein Problem". Die sich bis vor Kurzem sich geweigert haben, gegen den Rat der Ärzte, gegen den Rat der Wissenschaft, Masken zu tragen. Die im Grunde die Krise auch genutzt haben, um eigene Machtpositionen auszubauen.
Ich glaube, was man hier sieht, ist etwas, was man dann schon bei der Verurteilung Jesu gesehen hat, nämlich dass es eine zynische Form der Politik gibt, die sich letztlich um Wahrheit gar nicht schert. Die sagt, was brauche ich denn die Wahrheit. Stichwort postfaktische Politik, das heißt ja im Englischen Post-truths, also Politik nach der Wahrheit, die im Grunde sagt: "Die Wahrheit kann mir egal sein, solange es darum geht, dass ich meine Macht festigen kann, solange es möglich ist, dass ich wiedergewählt werde oder mich durchsetzen kann." Da tritt der Wille zur Macht an die Stelle der Wahrheit. Ich glaube, dass gerade diese Station, die Verurteilung Jesu, das ja zeigt. Jesus ja im Grunde auch Opfer dieses Machtstrebens wird.
Florin: Jesus als Opfer einer zynischen Politik und die Corona-Toten von heute auch Opfer zynischer Politiker, die das Virus entweder leugnen oder den Vorschlag machen, Desinfektionsmittel zu spritzen. Meinen Sie das so?
Zaborowski: Zum Beispiel, genau.
"Es geht nicht darum, eine Art religiösen Masochismus zu prägen"
Florin: Die Theologie des Leidens ist eine Gratwanderung. Es gibt eine Linie in der Theologie, die Leid überhöht und gar nicht danach fragt, wie sich Leid mindern ließe. Sondern, die das so etwas verherrlicht und sagt: Du leidest und du gehst ja damit den Weg Jesu. Wie entgehen Sie dieser Pathetisierung des Leids?
Zaborowski: Ich glaube diese Formen der Pathetisierung müssen schon sehr klar kritisiert und benannt werden. Da muss auch deutlich gemacht werden, dass es ja nicht darum geht, so eine Art religiösen Masochismus oder Sadismus zu prägen. Leid ist zunächst mal das, was nicht sein soll. Leid ist das, was sich dagegen richtet, wie der Mensch leben soll und wie der Mensch eigentlich sein soll. Aber zugleich gibt es immer eine andere Gefahr, die darin besteht, das Leid zu verdrängen oder das Leid zu leugnen, das Leid zu vermeiden. Was der Kreuzweg zeigt, was auch die christliche Tradition, was auch die Tradition vieler anderer Religionen zeigt, ist, dass Leiden und die Erfahrung des Leids, dass auch Sterben und Krankheit dazugehören. Es geht darum, zu überlegen, wie man auch im Leid Sinn finden kann. Was aber eben nicht bedeutet, dass man sich, um Sinn zu finden, sich einer besonderen Form des Leidens unterziehen muss. Das kennen wir aus der Geschichte, bestimmten Formen der Frömmigkeit idealisieren und verherrlichen das Leid. Ich glaube, da muss man aufpassen, dass man nicht in das eine Extrem rutscht, genau wie man aufpassen muss, dass man nicht in das andere Extrem rutscht, das darin besteht, einfach das Leid zu leugnen oder zu verdrängen.
Florin: Was halten Sie von dem Vorschlag des Bundespräsidenten, der Corona-Toten öffentlich zu gedenken und damit auch dem Leid einen Platz zu geben im Politischen, im öffentlichen Raum?
Zaborowski: Also ich halte das für sehr wichtig. Ich war überrascht, dass der Vorschlag, bislang zumindest auf relativ wenig Resonanz gestoßen ist.
"Vorschlag zielt in richtige Richtung"
Florin: Warum ist das so?
Zaborowski: Es könnte sein, dass wir im Moment in einer Situation sind, in der wir auch ein wenig die Krise verdrängen. In Deutschland zumindest haben wir eine hohe Opferzahl, aber nicht die Zahlen, die man in anderen Ländern feststellen kann. Wir sind zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt. Das könnte ein Grund sein. Ein weiterer Grund könnte sein, dass wir natürlich jetzt noch in der Krise stecken und dass, vermutlich, relativ bald auch dieser Vorschlag aufgegriffen wird, weil der Vorschlag in eine ganz richtige Richtung zielt. Nämlich die, dass wir überlegen müssen, wie wir als Gesellschaft auch mit dieser Erfahrung umgehen. Wir wissen, dass bestimmte Entscheidungen dazu geführt haben - Entscheidungen, die politisch getroffen wurden, die auch richtig waren - , dass zum Beispiel Menschen einsam gestorben sind und dass es da auch keine anderen Lösungen erstmal gegeben hat. Das sind vielfach Dilemma-Situationen gewesen, so dass man Entscheidungen treffen musste, die dazu geführt haben, dass Menschen einsam sterben oder, wenn Sie an die Kollateralschäden der Krise un der Maßnahmen, die man gegen das Coronavirus getroffen hat, denken: Ich glaube, dass es da sehr wichtig ist, eine gesellschaftliche Form des Andenkens, und damit auch den Opfern Respekt zu zollen, und damit auch diese Krise und die Erinnerung daran lebendig zu halten. Und eben auch für die Zukunft hin, daran zu erinnern, dass zum Beispiel das, was wir in der Krise erfahren haben, was immer wieder beschworen wurde, Solidarität zum Beispiel, ein auch weiterhin sehr wichtiger Wert für unsere Gesellschaft ist.
Solidarität und Individualismus in der Corona-Krise
Theologe Ulrich Körtner begrüßt die Debatten zum Umgang mit der Corona-Krise. Das ist "der Normalzustand in einer funktionierenden Demokratie", sagte der Wiener Ethiker im Dlf. Er rief dazu auf, sich solidarisch zu verhalten.
"Es ist unfair, das eine Leid gegen das andere auszuspielen"
Florin: Es gab zu diesem Steinmeier-Vorschlag auch spöttische Kommentare nach dem Motto: Dann hätte man auch der 25 000 Grippetoten der Saison 2017/18 gedenken müssen. Oder dann müsse man auch der Verkehrstoten öffentlich gedenken mit irgendeiner staatlichen Zeremonie. Halten Sie solche Argumentation für plausibel?
Zaborowski: Mir erscheint es schwierig, Opfer gegeneinander auszuspielen. Man müsste dann eher fragen: Welche Form des öffentlichen Andenkens, auch der Erinnerung pflegen wir? Da wird man ja sagen müssen, dass zumindest diese weltweite, globale Pandemie schon eine besondere Situation oder Herausforderung darstellt. Es geht ja auch vielleicht in diesem Zusammenhang darum, den Blick über die nationalen Grenzen hinauszuwagen und zu sehen, die Pandemie hat für uns eine europäische, aber auch eine globale Dimension. Darum geht es: zu fragen, wie kann man hier an etwas erinnern, wie kann man – ich scheue mich ein wenig zu sagen, die Lehre aus der Krise zu ziehen, weil eine Krise nicht eine Art Unterrichtsstunde ist, aus der man eine Lehre ziehen kann. Aber wie kann man das bewahren, was sich zum Beispiel an Positivem in dieser Krise auch gezeigt hat? Denken Sie an die vielen Formen von Solidarität, die entstanden sind. Wie kann man weiter daran erinnern, wie kann man auch die Menschen, die Leid erfahren haben, die Menschen, die gestorben sind, die Menschen, die chronisch krank bleiben nach einer Infektion, wie kann man an dieses auch erinnern? Da finde ich es etwas unfair, das eine Leid gegen das andere auszuspielen. Was mir wichtig schiene, wäre eben ein öffentlicher Diskurs darüber, welche Form der Erinnerung wir finden, welche Form des Gedenkens. Das muss ja nicht ein ganzer Feiertag oder Gedenktag sein, das kann ein Denkmal sein, …
Florin: Ein Denkmal für die Corona-Toten?
Zaborowski: Vielleicht auch ein Denkmal für die Menschen, die sich eingesetzt haben oder ein Denkmal überhaupt an diese Krise, das darauf verweist, wie wir als Gesellschaft mit dieser Krise umgegangen sind. Ein bisschen scheue ich mich, da konkrete Vorschläge jetzt schon zu machen, weil wir ja mitten in dieser Krise uns noch befinden und ja noch alles unter Vorbehalt geschehen muss.
"Wirkliches Leid lässt uns sprachlos zurück"
Florin: Unter Vorbehalt ist ein gutes Stichwort: Pandemien wurden früher als göttliche Plage, als Strafe für menschliches Fehlverhalten gedeutet. Diese Interpretation ist aus den Kirchen nicht ganz verschwunden, aber doch nicht mehr mehrheitsfähig. Was tritt an die Stelle? Gibt es eine Deutung, die diesen Platz einnimmt, gibt es mehrere oder gar keine?
Zaborowski: Ich wäre bei diesen Deutungen immer sehr vorsichtig. Ich finde das gut, es ist auch wichtig zu sagen, dass diese Deutung, die sagt: "Die Pandemie ist eine Strafe Gottes, der uns bestrafen will für die Sünden, die wir auf uns genommen haben" theologisch hoch problematisch ist. Sie zeigt auch ein Gottesbild, das sehr problematisch ist. Man hört sie hin und wieder. Aber ich glaube nicht, dass die Mehrheit oder eine nennenswerte Zahl von Theologinnen und Theologen und von Kirchenleuten, die unterstützt und das auch zurecht. Das heißt aber nicht, dass wir aus dieser Krise jetzt gar keine Deutung haben können, dass wir gar keine Zugänge finden können zu einer Deutung dieser Krise.
Theologie und Corona: Die Pest und die Rachegöttinnen
Immer wieder gibt es theologische Stimmen, die Corona als "Geißel Gottes" bezeichnen oder als gerechte Strafe für eine sündige Menschheit. Darin scheint eine alte theologische Frage auf: die Frage nach dem Leiden.
Eine Möglichkeit wäre, auch erst einmal darauf hinzuweisen, oder zu schauen: Wieso hat sich eine solche Krise entwickeln können? Zeigen sich hier – das ist ja auch schon oft diskutiert worden – nicht bestimmte problematische Aspekte der Globalisierung? Steht da nicht im Hintergrund auch zur Diskussion: Wie gehen wir mit uns selbst, wie gehen wir mit anderen Menschen, wie gehen wir mit der Natur um?
Das sind ja breitere Fragen, die im Moment auch diskutiert werden, die ein bisschen den Horizont erweitern und versuchen, diese Krise einzuordnen. Ich glaube, das ist erstmal sehr ernst zu nehmen. Man muss, wenn man dann irgendwann ein Fazit zieht oder mit einem gewissen Abstand über die Krise spricht, auch sagen: Sie erinnert uns an etwas, was allerdings auch sehr alltäglich ist. Es ist ja nicht so, dass Menschen vorher nicht gelitten hätten. Es ist nicht so, dass - gerade auch in anderen Teilen der Welt – Krankheiten, Seuchen, Epidemien keine Probleme mit sich gebracht hätten. Sondern wir nehmen es jetzt intensiver wahr, weil es uns näher gerückt, näher gekommen ist in einer Welt, in der es uns vorher sehr, sehr gut ging und wir uns sehr stark von Krankheiten oder Leid befreien konnten. Eine wirkliche Deutung würde ich hier nicht wagen, weil man hier auch sehr vorsichtig sein muss. Über den Sinn oder der Bedeutung des Leidens, denn das wirkliche Leid lässt uns ja oft auch sprachlos zurück. Das wirkliche Leid ist etwas, was nicht verstanden werden kann. Das ist ja auch der Schrei Jesu am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das ist erstmal die Erfahrung auch der Gottverlassenheit, die sich in sehr sehr stark, existentiellen Leid zeigen kann.
"Disput mit Gott"
Florin: Das wäre ohnehin meine nächste Frage gewesen: Der Schrei Jesu am Kreuz, die Wut, die Klage, die Anklage Gottes. Gott kann man nicht nur als Mitleidenden sehen, sondern auch als Verursacher – es gibt eine große Tradition der Gottesanklage. Meditation und Wut – wie geht das zusammen?
Zaborowski: Ich glaube, das geht zusammen. Das ist vielleicht auch das Besondere unseres Verständnisses Gottes: dass es möglich ist, die biblischen Texte im Alten oder im Neuen Testament zeigen das ja sehr deutlich: Dass es eben auch möglich ist, mit Gott in einen Disput zu treten. Gott wendet sich den Menschen zu, und wir sehen immer wieder Zeugnisse, wo Gott auch befragt wird, angeklagt wird oder in Frage gestellt wird. Das ist natürlich eine sehr interessante Sprachform, weil auf der anderen Seite auch dieser Schrei "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" ist ja einer, der sich an Gott richtet. Der also davon doch noch ausgeht, dass Gott noch da ist, aber dass die unmittelbare Erfahrung die der Verlassenheit ist.
Gleichzeitig ist die Botschaft des Kreuzweges, aber auch des christlichen Glaubens insgesamt, dass das Leid nicht das letzte Wort hat. Dass Gott das Leid nicht verursacht, in dem Sinne, dass er bewusst Leid erzeugt, sondern dass er es zulässt und dass wir als Menschen nicht wirklich den Sinn dessen, warum dieses Leid geschehen muss, verstehen können. Und dass wir das nicht in so eine Gleichung bringen können, in der wir dann alles deuten, verstehen und wie in der Mathematik zu einer Lösung bringen können. Im Grunde zeigt sich gerade im Leiden und in der Hinfälligkeit des Menschen immer auch eine ganz große Frage, aber diese Frage ist dann immer auch verbunden mit der Hoffnung, dass auf das Kreuz die Auferstehung folgt. Dass also auf den Tod das Leben, auf die Erfahrung der Sinnlosigkeit, das Umfangensein in einem Sinn folgt.
"Krise als Chance - das wird schnell zynisch"
Florin: Der Kreuzweg hat normalerweise 14 Stationen, er hat kein Happy End, wie die Theologin Julia Knop in dem Buch auch schreibt. Aber der Kreuzweg in Ihrem Buch geht darüber hinaus: Auferstehung, Emmaus-Ereignis, also doch ’ne Art Happy End. Platt gesagt: Muss es immer gut ausgehen - die Krise als Chance, Christentum als Motivationstraining?
Zaborowski: Also weniger als Motivationstraining, auch nicht als Chance. Ich glaube, dass man dann sehr schnell dabei ist, so eine Krise zu funktionalisieren. Man hat schon im März irgendwie gehört, was jetzt die Bedeutung dieser Krise sei und dass die Krise uns alle netter und freundlicher und bedächtiger und besinnlicher macht. Da würde ich ein ganz großes Fragezeichen dransetzen. Das wird dann auch sehr schnell zynisch, weil man in der Krise noch irgendwo sagt, auch angesichts des Leidens vieler Menschen, angesichts der beruflichen Krisen, in denen viele Menschen stecken, angesichts der vielfältigen Formen von Betroffenheit in dieser Krise, wenn man dann schon eine Deutung präsentiert. Deshalb muss man da sehr verhalten, sehr demütig sein, wenn man versucht, einen Sinn aufzuzeigen. Man kann vielleicht eine Hoffnung ausdrücken, dass bestimmte Formen von Solidarität weiter bestehen bleiben. Ich frage mich, ob wir nach dieser Krise nicht sehr schnell letztlich zu unserem alltäglichen Leben zurückkehren und das, was wir jetzt kritisch diskutieren dann ziemlich schnell vergessen werden.
Die Gefahr besteht auch. Ich glaube, dass wir langfristig überlegen müssen: Was ist das, was wir behalten wollen? In welcher Weise ändert diese Krise uns und wie wollen wir vielleicht auch, dass sie uns ändert? Vielleicht kann man dann am Ende sagen, nicht dass die Krise eine Chance gewesen ist, sondern dass auch aus dem Bösen, aus dem Schlechten, dann doch noch etwas Positives entstehen kann. Dass dann doch noch etwas sich zum Guten wenden kann. Wir erleben als Gesellschaft, dass es dann doch viele Handlungen der Solidarität gibt. Dass wir plötzlich feststellen, es gibt Berufe, an die wir nie gedacht haben, Menschen in diesen Berufen sind, wie wir jetzt sagen: systemrelevant. Ich glaube, es kommt darauf an, das ernst zu nehmen, also zu merken, dass Menschen gerade in den sozialen Berufen eine ganz wichtige Aufgabe haben, und dass wir die gesellschaftlich in vielfältiger Weise stärker wertschätzen sollten. Das scheint mir eine ganz wichtige Aufgabe zu sein. Die Gefahr ist, dass man das ganz schnell wieder vergisst, dass man ganz schnell, wenn die Krise wieder vorbei ist, die Menschen, die in den Supermärkten an der Kasse sitzen, die Pflegekräfte oder Menschen im Gesundheitswesen schnell vergisst und zur alten Routine zurückgeht.
"Leidenden Menschen das Schweißtuch reichen"
Florin: Zum Abschluss eine Frage zu Weihnachten, dem nächsten christlichen Großfest, das ist gar nicht mehr so lange hin. Mit der Erfahrung von Ostern: Welche Meditation bietet sich zum Thema Weihnachten an? Wird da auch Leiden im Mittelpunkt stehen?
Zaborowski: Weihnachten ist ja weniger ein Fest des Leidens -
Florin: Ja eben.
Zaborowski: Sondern viel stärker ein Fest der Hoffnung. Aber vielleicht steht die Menschwerdung im Vordergrund, also die Tatsache, dass Gott sich den Menschen so sehr zugewandt hat, dass er selbst auch Mensch geworden ist. Und dass wir im Menschen Jesus, dessen Geburt wir Weihnachten feiern, eben auch eine dem Menschen zugewandte Seite Gottes erfahren können.
Florin: Was sagt das Menschen, die nicht christlich sind, die nicht das Kreuz auf ihr eigenes Leben beziehen können oder wollen?
Zaborowski: Also wir hatten einige Reaktionen auch von Lesern, die selbst, wie sie sagen, nicht glauben. Sie sagen, sie haben zwar nicht alles teilen oder nachvollziehen können, aber trotzdem etwas verstanden. Ihnen sei trotzdem etwas deutlich geworden in dieser Krise, in der wir sind. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass das Christentum und die christlichen Erzählungen vom Leiden, vom Tod, von der Auferstehung Jesu auch grundmenschliche Erzählungen sind und Hoffnungen ausdrücken und vielleicht auch eine Sehnsucht ausdrücken von Menschen, die sagen: "Ich kann das nicht glauben und ich kann das nicht in der Haltung des Glaubens nachempfinden, aber ich kann verstehen, welche Hoffnung das jemandem bringt, der daran glaubt."
Ein anderes Beispiel ist, wenn man an die Passionszeit und an die Osterzeit denkt, wie voll die Kirchen und Konzertsäle sind, wenn die Passionen von Bach oder von anderen Komponisten aufgeführt werden. Das ist eigentlich nie nur ein irgendwie musikalisches Ereignis, sondern es geht immer um etwas, was sich dann auf einer noch anderen Ebene abspielt. Ich glaube, dass diese Kreuzwegsmeditationen in einer ähnlichen Weise darauf hinweisen: In diesem Kreuzweg zeigt sich auch etwas sehr sehr Menschliches, etwas, was zu tun hat mit der Bedingung unserer menschlichen Existenz. Auch für denjenigen, der letztlich nicht glaubt, kann diese Erzählung vom Kreuz doch zu einem wichtigen Anstoß werden oder zu einer wichtigen Anregung, zu einer wichtigen Betrachtung.
Wir lesen den Kreuzweg oft auch in einer sehr verinnerlichten Frömmigkeit. Ich glaube aber, dass viele Stationen - Veronika, die das Schweißtuch reicht oder Simon von Kyrene, der Jesus hilft, das Kreuz zu tragen zum Beispiel - etwas erzählen über die Notwendigkeit, dass wir Menschen uns einander erbarmen, dass wir barmherzig miteinander sind, dass wir solidarisch miteinander sind, dass wir nicht einfach gleichgültig dem Leid gegenüber stehen, dass wir nicht einfach zugucken, und dann noch die Mächtigen unterstützen. Sondern dass wir sensibel werden dafür, was es bedeutet, dass Menschen leiden und dass wir es als Aufgabe sehen, dass das Leid nicht verherrlicht wird, sondern dass das Leid reduziert wird, dass das Leid vermindert wird, dass den Menschen, die unter schwersten Krankheiten leiden oder den Umständen, unter denen sie leben, leiden, dass denen eben auch ein Schweißtuch gereicht wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Martin W. Ramb/Holger Zaborowski (Hrsg.): Auf dem Weg zum Kreuz. Meditationen in Zeiten der Corona-Pandemie. Sankt Ottilien, Eos Verlag 2020. 102 Seiten. (Edition Denkbares).