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Corona-Krise und Kirchen
Epochale Zäsur

Wegen Corona sind Gottesdienste in Deutschland vorläufig verboten. Die Kirchen spielen mit. Einige Christen murren. Der Trend: virtuelle Gottesdienste. Die Kirchen setzen auf dieses Zukunftspferd. Doch Theologen haben ihre Zweifel. Etwa der katholische Dogmatiker Jan-Heiner Tück.

Von Henning Klingen | 20.03.2020
Ein Gottedienst in Triest findet vor leeren Bänken statt.
Theologische Vorbehalte gegen "virtuelle Gottesdienste" (Imago / Luca Tedeschi)
Das ZDF macht es. Katholisch.de und evangelisch.de machen es. Und auch immer mehr Bistümer in Deutschland sind dabei: Sie übertragen und streamen Gottesdienste. So soll angesichts der Corona-Pandemie und des jüngsten landesweiten Verbots von Gottesdiensten und religiösen Veranstaltungen den Gläubigen das Mitfeiern von Gottesdiensten ermöglicht werden. Vom Küchentisch oder vom Sofa aus. Seelenheil per Klick sozusagen.
Der Wiener katholische Theologe Jan-Heiner Tück versteht zwar die Notwendigkeit. Er verspürt aber doch ein gewisses theologisches Unbehagen daran, wenn es plötzlich gleich-gültig sein soll, ob Katholikinnen und Katholiken einen Gottesdienst in einer Kirche mitfeiern oder vor dem Bildschirm:
"Das ist schon eine epochale Zäsur, dass die Gottesdienste quasi auf null heruntergefahren werden, dass den Gläubigen quasi der Zugang zum Allerheiligsten von Bischöfen selbst verwehrt wird. Der Hinweis, dass es in den sozialen Netzwerken und über Funk und Fernsehen Gottesdienstübertragungen gibt, ist sicher gut. Man darf sich allerdings nicht vormachen, dass virtuelle Präsenz und Realpräsenz dasselbe wären. Es ist schon ein Unterschied, ob man auf dem Bildschirm oder via Live-Stream Gottesdienste anschaut oder ob man real mit allen Sinnen dabei ist."
"Sakramente sind sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Gnade"
Ein Unterschied, den der Theologe auch seitens der Bischöfe viel zu selten artikuliert sieht – und den man nicht verdecken sollte: Ob man – wie im Fall der katholischen Tradition, in der Tück steht – die Kommunion tatsächlich zu sich nimmt, das Brot tatsächlich isst, oder nur eine Art "geistige Kommunion" feiert, müsse voneinander unterschieden bleiben:
"An einem Gottesdienst, den ich selbst besuche, kann ich mit allen Sinnen, der Verkündigung des Evangeliums und vor allem an den Sakramenten teilnehmen. Sakramente sind sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Gnade, die immer auch eine sinnlich-körperliche Dimension umfassen. Und ob ich jetzt wirklich die Kommunion empfange, sie konsumiere, also den Gottes-Hunger quasi auch sinnlich erfahre oder ob ich das auf dem Bildschirm virtuell vollziehe - das ist schon ein Unterschied."
"Die Kirche kommt in der Moderne an"
Tück beeilt sich, eines klarzustellen: Er wolle weder einen Aufstand gegen die Entscheidung der Bischöfe zum Aussetzen der Gottesdienste anzetteln, noch in den Chor jener konservativen Stimmen einstimmen, die ein trotziges "Jetzt erst Recht" rufen und die mit den geistlichen Waffen des Anbetens und An-Zelebrierens die Krise besiegen wollen. Im Gegenteil: Mit dem Aussetzen der Gottesdienste sei die Kirche – endlich – wirklich in der Moderne angekommen:
"Mir scheint es ganz zentral, dass hier die staatlichen Präventivmaßnahmen auch kirchlicherseits übernommen werden. Es wäre fahrlässig, hier gegen Expertenwissen zu agieren. Natürlich hinterlässt das ein leichtes Unbehagen, dass die Gottesdienst-Tradition jetzt erst einmal zum Erliegen kommt. Auch könnte man als mündiger Laie sagen: Ist das nicht ein Akt von Episkopat und Paternalismus, wenn über die Köpfe der Gläubigen hinweg jetzt diese Entscheidungen getroffen werden? Aber man muss sich klarmachen, dass alle anderen Wege letztlich leichtfertig das Risiko der Verbreitung des Coronavirus in Kauf nehmen. Und das ist auch wider alle Vernunft. Ich würde sogar sagen: Die Kirche kommt hiermit in der Moderne an, weil sie von den spätmittelalterlichen Praktiken, jetzt die Gottesdienstfrequenz erst recht hochzufahren, um Gott quasi um eine rettende Intervention zu bitten, Abstand nimmt und damit eben auch eine funktionalistische Frömmigkeit abwehrt, die meint, durch quantitative Steigerung des Gebets hier eine rettende Einwirkung Gottes herbeiführen zu können."
Der Gottes-Hunger als Glaubensbestandteil
Tück ist allerdings skeptisch, ob das Ausweichen aufs Streaming wirklich so modern ist, wie viele vermuten. Denn beim Betrachter von Streaming-Gottesdiensten, die angesichts leerer Kirchen rein auf den Priester fokussiert seien, könne der Eindruck entstehen, die Gültigkeit einer Messe hänge rein und allein vom Handeln des Priesters ab. Die Gemeinde sozusagen als nur schmückendes, aber eigentlich irrelevantes Beiwerk.
Dies werde dem Verständnis von Gottesdiensten, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil skizziert hat, nicht gerecht. Aber was nun tun in dieser misslichen gottesdienstlichen Lage? Tück plädiert für ein Wiederentdecken alter, teils verschütteter kirchlicher Traditionen, die den "Gottes-Hunger" nicht etwa virtuell zu stillen versuchen, sondern ihn bewusst artikulieren. Noch einmal Jan-Heiner Tück:
"Man kann natürlich verschüttete Traditionen jetzt revitalisieren, etwa die Tradition des geistlichen Fastens, die dazu aufruft, eine neue Kultur der Gastfreundschaft gegenüber dem Heiligen zu entwickeln, die auch die Sehnsucht nach dem Heiligen neu aufkommen lässt. Man kann allerdings auch die klassischen Mittel neu entdecken. Das Stunden-Gebet, die Partitur der Psalmen, die im Modus von Lob, Bitte, aber auch Klage und Anklage alles vor Gott bringt, was die Wirklichkeit bereithält. Also eine säuselnde Friede-Freude-Eierkuchen-Rhetorik im Bereich der Spiritualität ist angesichts von Krisenzeiten unterkomplex – und daher gilt es, das ganze Spektrum der geistlichen Tradition neu zu entdecken."