Donnerstag, 18. April 2024

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Corona-Maßnahmen
"Das ist kein Alarmismus"

Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebunds, hat im Dlf die jüngsten Corona-Maßnahmen verteidigt. "Die Todeszahlen werden wieder ansteigen", sagte Montgomery. Eine Überlastung des Gesundheitssystems in Deutschland drohe aber nicht. Das Beherbergungsverbot sieht auch er kritisch.

Frank Ulrich Montgomery im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 13.10.2020
Frank Ulrich Montgomery, Ex-Präsident der Bundesärztekammer (BAEK), gestikuliert bei einem Interview in Berlin.
Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebunds, hält nichts vom Beherberungsverboten. (imago / Thomas Trutschel)
Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebunds, hat im Deutschlandfunk die jüngsten Corona-Maßnahmen verteidigt. Eine Überschreitung der kritischen 50er-Marke bei der Sieben-Tage-Inzidenz sei deswegen kritisch, weil die Gesundheitsämter dann die einzelnen Infektionen nicht mehr richtig individuell rückverfolgen könnten, sagte Montgomery.
"Wir erleben wieder einen Anstieg der tödlichen Verläufe, die Krankheit läuft ja über vier bis sechs Wochen, bis einer stirbt", sagte er.
"Unsere Aufgabe als Ärzte ist es, Menschen vor schweren Erkrankungen zu schützen, sie gar nicht erst auf die Intensivstation kommen lassen zu müssen. Das ist kein Alarmismus, sondern der vernüftige Versuch, die Infektion mit gesundheitspolitischen Mitteln einzufangen."
"Für Entwarnung ist es viel zu früh"
"Die Todeszahlen werden wieder ansteigen", sagte Montgomery. Zwar werde sie nicht mehr so stark ansteigen, wie noch im Frühjahr, weil man die Therapie der Krankeit besser im Griffe habe, die Menschen vorsichtiger seien und eher zum Arzt gehen. "Aber für Entwarnung ist es viel zu früh", sagte er.

Er kritisierte dabei auch die Beherberungsverbote, da Arbeits-, Familienbesuche und nicht touristische Besuche erlaubt sind. "Man muss an der Stelle, wo die Infektionen sind, ansetzen", sagt Frank Ulrich Montgomery vom Weltärztebund im Deutschlandfunk. Es gehe nicht um eine Einreisekontrolle in ein anderes Bundesland, sondern um eine Ausreisekontrolle, so Montgomery. Die Politik scheue sich aber vor dieser Forderung und komme nun mit allen möglichen absurden Vorschlägen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
"In Deutschland gibt es weltweit die bestmögliche Behandlung"
"Wir leben in einer föderalen Republik und dann muss Berlin dafür sorgen, dass Mecklenburg-Vorpommern dadurch geschützt wird, dass die Leute da gar nicht erst hinfahren", sagt Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, im Dlf zu den Beherbergungsverboten. Im Gegenzug müssten deswegen viel eher Test bei der Ausreise aus einem Bundesland gemacht werden.
Jeder habe es selber in der Hand die Pandemie im Griff zu halten, indem man die Hygenieregeln, wie Maske, Abstand und Hygenie einhalte, appellierte Montgomery. Eine Überlastung des Gesundheitssystems in Deutschland sehe er aber nicht. "Wir haben in Deutschland ein ungeheuer gut aufgestelltes Gesundheitswesen. Wir haben inzwischen acht bis zehnmal so viele Intensivbetten, wie Italien in der Krise. Wer in Deutschland an der Krankheit erkrankt, kann ziemlich sicher sein, die bestmögliche Behandlung zu bekommen, die es momentan auf der Welt gibt." Trotzdem wäre es aber sichtlich zu früh, um Entwarnung zu geben.
Lesen Sie hier das vollständige Interview

Dirk-Oliver Heckmann: Herr Montgomery, das Robert-Koch-Institut hat in der vergangenen Woche gewarnt, dass die Gefahr bestehe, die Kontrolle über die Pandemie zu verlieren. Andreas Gassen, der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, ließ sich dieser Tage mit den Worten zitieren, wir müssten aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Das führe zu falschem Alarmismus. Wer hat Recht?
Frank Ulrich Montgomery: Das kann man nicht so einfach in einem Satz sagen. Es ist sehr viel komplizierter in der Tat. Aber wir müssen aufpassen, dass wir jetzt nicht die Situation tot und klein reden, indem wir jeden einzelnen Unterschied hier so hochspielen.
Ich glaube, man muss sich mal erinnern: Warum hat man diese Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro sieben Tage erfunden? – Das ist die Zahl, an der die Gesundheitsämter aufhören, jede Infektion nachvollziehen zu können und ein richtiges Tracing der Vorinfizierten, der anderen Infizierten machen zu können. In der Sekunde, wo die Zahl überschritten wird - ob jetzt um fünf oder um zehn, das ist relativ unwichtig -, in der Sekunde, wo die überschritten wird, muss man handeln, muss man etwas tun. Das ist kein Alarmismus, sondern das ist eine vernünftige gesundheitspolitische Maßnahme.
Beherbergungsverbote übrigens, also gucken, ob jemand irgendwo hinfahren darf, und ihn dann dort, wenn er angekommen ist, wieder zurückschicken, das halte ich für völligen Unsinn, zumal Arbeitsbesuche, Familienbesuche, nicht touristische Besuche ja erlaubt sind. Nein, man muss an der Stelle, wo die Infektionen sind, ansetzen. Wenn ich mal sehr verkürze: Nicht ein Einreiseverbot in ein anderes Bundesland, sondern eine Ausreisekontrolle aus dem Land, aus dem man heraus will. Die muss gemacht werden in der Situation. Davor scheut sich aber die Politik und kommt jetzt mit allen möglichen absurden Vorschlägen.
"Die Krankheit läuft über vier bis sechs Wochen, bis jemand stirbt"
Heckmann: Noch mal kurz zurück zur Situation, in der wir derzeit sind. Herr Gassen hat auch darauf hingewiesen, dass es im Frühjahr bei 4000 Neuerkrankten täglich bis zu 150 Corona-Tote gegeben habe. Das sei jetzt vorbei. Jetzt hätten wir einstellige Sterbezahlen. Und wenn nur einer von tausend schwer erkrankt, wie wir es im Moment beobachten würden, dann wären selbst 10.000 Infektionen täglich kein Drama. Sehen Sie das auch so?
Montgomery: So sehr ich meinen Kollegen Andreas Gassen schätze, so sehr muss ich sagen, dass ich das nicht so sehe. Erstens: die Zahl ist nicht einer von tausend Schwererkrankten, sondern drei von tausend, die schwer erkranken. Zweitens: Wir erleben wieder ein Ansteigen der tödlichen Verläufe. Und wir dürfen eines nicht vergessen: Die Krankheit läuft ja über etwa vier bis sechs Wochen, bis jemand stirbt. Das heißt, wir sehen heute mit den neu festgestellten Infektionen das Infektionsgeschehen von vor einer Woche. Das wird sich erst in vier oder fünf Wochen in tödlichen Verläufen auf den Intensivstationen darstellen. Deswegen halte ich es noch für viel zu früh für diese Aussage.

Und schließlich: Wir als Ärzte, unsere Aufgabe ist es, Menschen vor schweren Erkrankungen zu schützen, sie gar nicht erst auf die Intensivstationen kommen lassen zu müssen. Deswegen glaube ich, das ist kein Alarmismus, sondern das ist der vernünftige Versuch, mit gesundheitspolitischen Mitteln die Infektion einzufangen.
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Heckmann: Hinzu kommt noch, dass wir seit einiger Zeit nicht mehr bei einstelligen Sterbezahlen sind, sondern bei zweistelligen, und die Entwicklung eindeutig in eine Richtung weist.
Montgomery: Ich möchte hier nicht als Kassandra dastehen, aber ich bin ziemlich sicher, die Todeszahlen werden wieder ansteigen. Dass sie nicht so ansteigen wie zu Beginn des Jahres, hängt damit zusammen, dass wir heute die Therapie der Krankheit etwas besser im Griff haben. Das hängt auch damit zusammen, dass die Menschen mehr aufpassen, dass sie früher zum Arzt gehen. Aber eine Entwarnung ist viel zu früh und für markige Worte wie Alarmismus halte ich es auch noch, ehrlich gesagt, für ein bisschen zu früh.
"Das Beherbergungsverbot halte ich für völligen Unsinn"
Heckmann: Herr Montgomery, Sie haben gerade das Beherbergungsverbot angesprochen, über das ja so intensiv diskutiert wird. Das möchte ich gerne mit Ihnen ein bisschen vertiefen. Andreas Gassen hat da von Regelungswut gesprochen, die oft kontraproduktiv sei. Aber er ist ja nicht alleine mit seiner Kritik. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat ja auch von einem Fehler gesprochen, der bereinigt werden müsse. Das sehen Sie doch auch so?
Montgomery: Das sehe ich ganz genauso. Das Beherbergungsverbot halte ich für völligen Unsinn, zumal man ja wissen muss, dass in vielen Ländern gleichzeitig Familienbesuche gestattet sind, dass zum Beispiel aber auch Geschäftsbesuche gestattet sind. Es handelt sich um ein rein touristisches Beherbergungsverbot, und nun erklären Sie dem Virus mal, was der Unterschied zwischen einem Touristen und einem Manager ist. Hier ist nicht weit genug gedacht worden.
Heckmann: Das reduziert immerhin die Zahl derjenigen, die dann reisen.
Montgomery: Es reduziert die Zahl derjenigen, die reisen, aber dann sollte man das auch klar sagen und sollte den Leuten sagen, ihr sollt nicht reisen. Aber nicht am Ankunftsort ihnen dann einen Test abverlangen und sie wieder zurückschicken, sondern von vornherein mit der Wahrheit rausrücken, dass in Orten, in denen die Zahlen explosionsartig ansteigen, in denen eine Verdichtung der Infektion stattfindet, man nicht ausreisen darf und die Infektion rausschleppen. Das gilt dann übrigens aber auch für Manager und auch für Familienbesuche und nicht nur für Touristen. Und nicht mit solchen unsinnigen Regelungen, die noch dazu in jedem Land anders ausgelegt werden, die Bevölkerung zu verwirren und am Ende zu einer völligen Intransparenz beizutragen.
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Dlf-Hauptstadtkorrespondent Frank Capellan hält die diskutierten Beherbergungsverbote für sinnlos. Ein absurder föderaler Flickenteppich sei eine harte Geduldsprobe, kommentiert er.
Heckmann: Kanzleramtsminister Helge Braun hat allerdings dieser Tage gesagt, er könne schon verstehen, dass sich ein Land wie Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise mit wenig Infektionen schützen will vor dem Eintrag dieses Virus.
Montgomery: Wir leben aber in einer föderalen Republik und dann muss auch Berlin dafür sorgen, dass Mecklenburg-Vorpommern dadurch geschützt wird, dass die Leute da gar nicht erst hinfahren. Aber nicht, dass Mecklenburg-Vorpommern Grenzkontrollen einführt (ich übertreibe jetzt bewusst). Das ist doch alles auf dem Wege des reinen Denkens nicht vernünftig.
"Die Menschen haben es selber in der Hand"
Heckmann: Ist denn das überhaupt wirklich ein gutes Kriterium, wenn jetzt immer mehr Gebiete zu Risikogebieten erklärt werden, diese 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, bezogen auf eine Woche, oder kommt es nicht viel stärker darauf an, wie sich die Menschen im Einzelnen verhalten?
Montgomery: Absolut! Man muss noch mal sagen: Die Grenze 50 ist ja nicht wissenschaftlich begründet, sondern die ist gefunden worden, weil das etwa die Zahl ist, wo die Gesundheitsämter nicht mehr die individuelle Rückverfolgung dieser Infektion leisten können. Das ist kein wissenschaftliches, das ist ein administratives Datum.
Aber in der Tat: Die Menschen müssen selber wieder mitgenommen werden. Wir müssen ihnen klarmachen, sie haben es selber in der Hand, jeder von uns, Sie, ich, die wir Maske tragen. Deswegen: Maske tragen, die Hygieneregeln einhalten und so weiter. Jeder kann das ja heute runterbeten. Da müssen wir ansetzen, aber nicht bei irgendwelchen Diskussionen. Ich habe jetzt gehört, irgendjemand will die Ferien verschieben. So ein Quatsch! Damit erreicht man doch überhaupt nichts, sondern man verunsichert nur Eltern, man verunsichert Kinder, man verunsichert Lehrer. Was soll das!
Wir sollten jetzt wirklich klar sagen, wir müssen alle Masken tragen, wir müssen uns an die Hygieneregeln halten und wir müssen gemeinsam diese Erkrankung einfangen.
Heckmann: KBV-Chef Gassen hat auch gesagt, eine Überlastung des Gesundheitssystems sei auch im Herbst und im Winter nicht abzusehen. Sind Sie auch so optimistisch?
Montgomery: Ja, da bin ich auch optimistisch, weil unsere Bundesregierung wirklich mit großem Einsatz dafür gesorgt hat, dass wir in Deutschland ein ungeheuer gut aufgestelltes Gesundheitswesen haben. Nur eine einfache Zahl: Wir haben inzwischen etwa acht bis zehnmal so viele Intensivbetten wie Italien zu Beginn der Krise. Wer in Deutschland erkrankt an der Erkrankung, kann ziemlich sicher sein, die bestmögliche Behandlung zu bekommen, die es momentan auf der Welt gibt. Und Überlastungssituationen des Gesundheitswesen außer in einzelnen partiellen Orten manchmal sehe ich noch überhaupt nicht. Aber es wäre sicherlich zu früh, jetzt schon Entwarnung zu geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.