Dienstag, 16. April 2024

Corona-Maßnahmen
Worum es bei der Änderung des Infektionsschutzgesetzes geht

Bundestag und Bundesrat haben eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Das Gesetz regelt unter anderem, welche Grundrechtseinschränkungen zur Eindämmung von Pandemien zulässig sind. Ein Überblick.

19.11.2020
    Ein auf den Boden gespraytes Symbol weist in der Fußgängerzone auf die Pflicht hin, Mund-Nasenschutz zu tragen.
    Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ist eine von 17 Maßnahmen, die im Entwurf zum novellierten Infektionsschutzgesetz genannt werden (dpa-Bildfunk / Bernd Thissen)
    Einschränkungen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie berühren immer wieder Grundrechte. Bislang stützen sie sich auf eine Generalklausel im Infektionsschutzgesetz ("Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite"), wonach die zuständigen Behörden die "notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen dürfen, solange es gegen eine Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.
    Vielen Kritikern ist das zu allgemein. Gegen einzelne Anordnungen hat es in den vergangenen Monaten immer wieder Klagen gegeben mit der Folge, dass Sperrstunden und Beherbergungsverbote von Gerichten gekippt wurden. Manche Oppositionspolitiker oder Demonstranten nehmen die unbestimmte bisherige Regelung gar zum Anlass, die demokratische Legitimation der Corona-Maßnahmen gänzlich infrage zu stellen.
    Die Große Koalition hat deshalb jetzt das Infektionsschutzgesetz in einem Novellierungsentwurf präzisiert und will Grundrechtseinschränkungen damit rechtlich besser absichern. Zudem soll der Bundestag konkreter für einschränkende Maßnahmen Verantwortung übernehmen.
    Menschen gehen durch die Fußgängerzone in Darmstadt, wo Maskenpflicht gilt
    ARD-Deutschlandtrend - Mehrheit befürwortet aktuelle Corona-Maßnahmen
    Die geltenden Corona-Regeln stoßen grundsätzlich auf die Zustimmung der meisten Deutschen. Die Große Koalition will die Maßnahmen nun rechtlich besser absichern.
    Bundestag und Bundesrat haben den Gesetzentwurf am Mittwoch (18.11.2020) verabschiedet, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterschrieb diesen noch am selben Tag.

    Was besagt der neue Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes?
    In einem neu entworfenen Paragrafen 28a sind nun 17 mögliche Maßnahmen genauer definiert. Im Wesentlichen sind es die Instrumente, die man aus den vergangenen Monaten der COVID-19-Pandemie schon kennt. Dazu gehören unter anderem:
    • Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum
    • Abstandsgebote
    • die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung
    • Beschränkungen für den Kultur- und Freizeitbereich
    • Schließung von Schulen und Kitas
    • Erteilung von Auflagen für Bildungseinrichtungen
    • Beschränkungen für Übernachtungsangebote
    • Schließung von Einzel- oder Großhandel sowie von Gastronomiebetrieben
    • Absagen und Auflagen für Veranstaltungen, Versammlungen und religiösen Zusammenkünften Verkaufs- und Konsumverbot für Alkohol auf bestimmten öffentlichen Plätzen oder zu bestimmten Zeiten genannt
    • Anordnung von Reisebeschränkungen
    Einschränkungen sind mit dem neuen Gesetz grundsätzlich auf vier Wochen befristet. Das Ergreifen oder die Verlängerung von Maßnahmen müssen begründet werden. Der Enwurf betont auch, dass sie verhältnismäßig sein müssen und neben Gesundheitsaspekten auch soziale und wirtschaftliche Folgen zu prüfen sind. Für Einschränkungen bei religiösen Veranstaltungen, Versammlungen und Besuchen in Alten- und Pflegeheimen sind besonders hohe Hürden vorgesehen. Soziale Isolation wird ausdrücklich ausgeschlossen. Zudem soll der Bundestag künftig regelmäßig informiert werden.
    Welche Änderungen gibt es noch?
    Mit Blick auf Impfungen werden bestimmte Bevölkerungsgruppen priorisiert, nämlich Menschen aus Risikogruppen und Beschäftigte im Gesundheitswesen sowie in anderen als besonders wichtig eingestuften Bereichen. Um die Vielzahl der Virustests besser zu bewältigen, sollen künftig auch tier- und zahnmedizinische Labors zum Einsatz kommen dürfen.
    Eltern sollen weiterhin einen Ausgleich für Verdienstausfall erhalten, wenn ihr Kind in Quarantäne muss. Rückkehrer von vermeidbaren Dienstreisen sollen keinen Anspruch auf Ausgleich haben, wenn sie in Quarantäne müssen und dadurch einen Verdienstausfall haben.
    Welche Reaktionen gibt es auf den Novellierungsentwurf?
    Der Deutsche Richterbund begrüßt die Änderungen. "Grundrechtseingriffe auf der Grundlage eines im Parlament breit diskutierten und abgewogenen Gesetzes haben bessere Aussichten, einer Überprüfung durch die Justiz standzuhalten", sagte DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. "Der Gesetzgeber schränkt den Spielraum der Länderexekutive deutlich ein, indem er feste Leitplanken für die weitere Corona-Politik setzt."
    "Das Gesetz stellt schon einen großen Fortschritt dar", sagt auch der Professor für öffentiches Recht Christoph Möllers. Das bisherige Gesetz sei überhaupt nicht für Pandemien gemacht gewesen, "sondern für lokale und regionale Krankheitsausbrüche". Die Novelle schließe es jetzt an die pandemische Notlage an: "Die Maßnahmen können nicht immer ergriffen werden, sondern nur, wenn eine solche Notlage festgestellt wird. Zweitens wird diese Notlage auch erst mal definiert."
    Christoph Möllers imi Porträt
    Ermächtigung "ist übliche Gesetzessprache"
    Das neue Infektionsschutzgesetz sei ein Fortschritt, obwohl es nicht jede denkbare Maßnahme vorwegnehme, sagt Staatsrechtler Christoph Möllers. Die AfD-Kritik am Begriff "Ermächtigung" sei unsinnig.
    Möllers sieht damit "ein demokratisches Problem" gelöst. Zuvor hätten weder Gerichte noch die Bevölkerung die genauen Entscheidungskriterien der Bund-Länder-Runden nachvollziehen können. "Wir bekamen hinterher Pressekonferenzen und irgendwelche Anekdoten, aber es gab überhaupt keine Dokumentation der Diskussion. Auch viele Verwaltungsgerichte haben die Maßnahmen auch deswegen aufgehoben, weil sie gar nicht wussten, was das eigentlich sollte, 300 Quadratmeter Begrenzung für Geschäftsräume oder so was. Es gab keine Begründung, damit gab es auch keine wirkliche Logik dieser Regelung."
    Der vorliegende Text ist der zweite Entwurf für einen neuen Paragrafen 28a. Ein erster war bei der ersten Lesung im Bundestag auf Kritik gestoßen, auch von Juristen. Bei der Bochumer Rechtswissenschaftlerin Andrea Kießling, einer der vom Parlament bestellten Sachverständigen, ist er glatt "durchgefallen" , wie sie im Dlf-Interview sagte. Die Große Koalition hatte daraufhin nachgebessert.
    Weiter Kritik der Opposition
    Die Opposition - FDP, Linke und AfD - kritisiert allerdings auch den neuen Entwurf als zu weitreichend und unkonkret. Die Kritik insbesondere der FDP richtet sich vor allem darauf, dass mit der Gesetzesnovelle keine Kritierien festgelegt werden, wann welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Ebenfalls nicht geregelt wird im Gesetz, dass der Bundestag oder die Länderparlamente Schutzverordnungen zustimmen müssen.
    "Im Grunde ist es ein Blankoscheck", sagte FDP-Chef Christian Lindner im ZDF. "Dieses reformierte Gesetz schafft nicht die rechtliche Klarheit, die wir brauchen, schafft auch nicht die klare Berechenbarkeit staatlichen Handelns in einer Pandemie." Man könne dem Gesetz leider nicht entnehmen was die Regierung in einer konkreten Lage darf.
    Unionsfraktionsvize Nüßlein verteidigt Novelle
    Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Georg Nüßlein (CSU), betonte im Deutschlandfunk, die Pandemie-Bekämpfung habe von Anfang an in den Händen des Bundestags gelegen, denn dieser habe die epidemische Lage von nationaler Bedeutung beschlossen. Jetzt gehe es um einen Katalog von Maßnahmen, die zum Teil auf Landkreisebene angewendet werden müssten. "Dann kann ja der Deutsche Bundestag nicht darüber abstimmen, ob der Landrat die richtigen Maßnahmen ergreift", so Nüßlein.
    Auch genau vorzuschreiben, unter welcher Voraussetzung welche Maßnahme getroffen werden müsse, wäre ein "viel zu eng geschnalltes Korsett". Dafür seien die Situationen von großen und kleinen Städten und dem ländlichen Raum zu unterschiedlich. "Das ist letztendlich eine Frage der Situation vor Ort auch, und deshalb wäre es falsch, wenn der Bundestag sagt, wir ziehen das an uns", sagte Nüßlein. Der neue Paragraf 28a gebe aber präzise den Rahmen vor für Schutzmaßnahmen, die bei der Überschreitung einer Inzidenz von mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen ergriffen werden müssen.
    Was macht das Wort "Ermächtigung" im Gesetzesentwurf?
    Das Wort "Ermächtigung" kommt im Gesetzesentwurf mehrmals vor. AfD-Vertreter und außerparlamentarische Gegner der Corona-Maßnahmen greifen das auf und stellen die Gesetzesnovelle in Anspielung auf die NS-Zeit als ein "Ermächtigungsgesetz" dar. Viele Bundestagsabgeordnete sind mit einer Flut von E-Mails mit diesem Tenor überschwemmt worden.
    Petra Pau (Die Linke), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages schaut in die Kamera
    "Hier ist nicht die Diktatur eingeführt worden"
    Der Vergleich der AfD sei ein "Verächtlichmachen der Demokratie", sagte die Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau im Dlf. Zwar habe auch sie gegen das Gesetz gestimmt, die parlamentarischen Rechte seien aber gewahrt.
    "Das ist natürlich totaler Unsinn", erklärt Jurist Christoph Möllers. "Das sogenannte Ermächtigungsgesetz war ein Gesetz, mit dem der Reichstag im Grunde auf sein Gesetzgebungsrecht komplett verzichtet hat – etwas, was hier nicht mal annähernd oder am entferntesten Horizont in Sicht ist." Den NS-Vergleich weisen auch Regierungs- und die meisten Oppositionsparteien zurück: Es gehe nicht darum, Rechte des Parlaments auszuhebeln, sondern zu stärken.
    "Ermächtigung ist einfach erst mal ein Rechtsbegriff", erklärt der Jurist Möllers. "Die Legislative ermächtigt die Regierung und die Exekutive zum Handeln. Das ist ganz normal in einem gewaltengeteilten System."
    Der Co-Vorsitzende der  AfD, Alexander Gauland, am Tag von Merkels Regierungserklärung zur Bewältigung der Corona-Pandemie
    Gauland kritisiert "Ausschaltung des Parlaments"
    Alexander Gauland, Co-Vorsitzender der AfD, kritisierte im Dlf, dass ein Gremium aus Ministerpräsidenten und Kanzlerin Maßnahmen an den Parlamenten vorbei beschließe. Dem widerspricht Staatsrechtler Ulrich Battis.
    Am Mittwoch (18.11.2020) demonstrierten an mehreren Orten Gegner der Anti-Corona-Maßnahmen. Eine Versammlung mehrerer Tausend Menschen vor dem Brandenburger Tor löste die Berliner Polizei wegen Verstößen gegen Maskenpflicht und Abstandsgebot auf. Beobachter sprachen von einer extrem aggressiven Stimmung, es gab Anzeigen und Festnahmen.
    (Quellen: Gudula Geuther, Frank Capellan, nin, fmay, afp, dpa, epd)