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Corona-Pandemie
Soziologe: Solidarität verändert keine Strukturen

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer beobachtet in der Coronakrise viel Gesellschaftsromantik. Die Hoffnung, dass Solidarität zu weitreichenden Neuentwicklungen in der gesamten Gesellschaft führe, sei aber naiv und problematisch, sagte er im Dlf. In einem kapitalistischen Staat sei das kaum möglich.

Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 06.04.2020
Ein Gitarrist steht auf einem Balkon in Mailand, Italien, und spielt für seine Nachbarschaft.
In der Coronakrise verabreden sich Menschen überall auf der Welt zum gemeinsamen Musizieren von Balkons und Fenstern (Getty / AGF / Universal Images Group / Nicola Marfisi)
93 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger befürworten die derzeitigen Kontaktbeschränkungen. Das ist das Ergebnis des letzte Woche veröffentlichten ARD-Deutschlandtrends. Wir verzichten derzeit auf zahlreiche Grundrechte und das einigermaßen bereitwillig. Solche Eingriffe hätten immer einen autoritären Beiklang, sagt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer im Dlf. Man müsse nun aber aufpassen, "wenn das immer weiter ausgeweitet wird, dass wir dann durchaus in die Nähe eines Überwachungsstaates kommen, und das wird dann gefährlich." Denn Institutionen, politische oder ministeriale Institutionen hätten kein Gedächtnis. "Das heißt, es dient jetzt zunächst mal zur Machtausweitung, und da muss man aufpassen, dass sich das nicht verfestigt." Das sei der entscheidende Punkt.
Mit Blick auf die Gesellschaft sieht Heimeyer keine Hoffnung, dass sich nach Corona alles zum Positiven ändere. "Das kann ich nicht erkennen. Denn wir leben letztlich in einem kapitalistischen Staat und da ist es ja so, dass der Finanzkapitalismus kein besonderes Interesse an gesellschaftlicher Integration hat, sondern da geht es um die Kriterien von Nützlichkeit, Verwertbarkeit, Effizienz." Da müsse man aufpassen, dass das jetzt nicht auch auf Menschen zunehmend angewandt wird"
Auch sieht Heitmeyer die Gefahr der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit." Das werde derzeit durch die Pandemie überdeckt. "Aber es ist alles vorhanden und wird, wenn mich nicht alles täuscht, danach wieder aufbrechen und die Rechtsextremen beziehungsweise die autoritären Nationalradikalisten werden dieses auszunutzen versuchen."
Das Interview in voller Länge
Ann-Kathrin Büüsker: Herr Heitmeyer, wie ist das zu erklären, dass wir unsere Freiheit so schnell und ohne großes Murren einem übergeordneten Ziel unterordnen?
Heitmeyer: Nun, das ist ja offensichtlich, dass bei diesen Gesundheitsgefährdungen solche Maßnahmen zunächst mal ergriffen werden, denn wir erleben ja vor allem einen Kontrollverlust, zum Teil über die eigene Gesundheit, aber auch über unser soziales Umfeld und so weiter, und dahinter liegt natürlich Angst. Das ist die eine Seite bei uns Bürgern.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch den Kontrollverlust und die Angst bei den Entscheidern, dass sie keine Fehler machen wollen, und insofern ist die Maßnahme oder sind die Maßnahmen sicherlich alternativlos in diesem Fall. Sonst wird ja auch immer gesagt, Politik ist alternativlos, was natürlich Quatsch ist. Aber in diesem Fall ist das, glaube ich, durchaus angebracht. Man muss nur aufpassen – und das ist ja schon im Vorbericht und in den Schilderungen deutlich geworden -, wie das mit den Freiheitsrechten weitergeht, denn die Maßnahmen werden ja ausgeweitet. Heute werden beispielsweise ja die Grenzen möglicherweise zu allen Nachbarstaaten geschlossen und offene Grenzen waren immer ein Ausweis für Offenheit, Humanität und Freiheit. Da wird es, glaube ich, dann schwierig.
"Institutionen haben kein Gedächtnis"
Büüsker: Das heißt, in einer solchen Situation eines Kontrollverlustes verlangen wir als Bevölkerung quasi nach jemandem, der wieder die Kontrolle übernimmt?
Heitmeyer: Ja, das ist die eine Seite. Man muss nur immer sehen: Kontrollverluste haben auch immer als Reaktion dann diese Eingriffe. Und auch hat das immer einen autoritären Beiklang. Da muss man jetzt nun aufpassen, wenn das immer weiter ausgeweitet wird, dass wir dann durchaus in die Nähe eines Überwachungsstaates kommen, und das wird dann gefährlich. Denn Institutionen, politische oder ministeriale Institutionen haben kein Gedächtnis. Das heißt, es dient jetzt zunächst mal zur Machtausweitung, und da muss man aufpassen, dass sich das nicht verfestigt. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Jetzt ist das Ganze funktional. Danach dient es aber möglicherweise nur noch dem Machterhalt der Instrumente, die man jetzt geschaffen hat, und hier müssen dann zu einem späteren Zeitpunkt gerichtliche Überprüfungen her, oder die Zivilgesellschaft muss sich auch zu Demonstrationen zusammenfinden. Das aber alles nach der Krise, wenn sie denn überwunden werden kann.
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Büüsker: Wir haben ja eben auch als Kritik gehört, dass Behörden aktuell durchaus einigermaßen viel Spielraum haben bei der Auslegung der konkreten Regelungen – insbesondere, wenn Beamte etwa im Park kontrollieren, Abstände kontrollieren etc. Öffnet das unter Umständen auch Willkür Tür und Tor?
Heitmeyer: Ja, das führt dann zum Teil zu Willkürmaßnahmen und auch zu Verunsicherung wiederum auf der Seite von Bürgern. Das ist sicherlich eine dieser Gefahren. Man wird auch bei den Überwachungsorganen noch mal nachjustieren müssen, inwieweit das inkonsistent ist oder die Bürger noch weiter verängstigt. Ein zweiter Punkt ist, dass es ja auch politische Weiterungen geben kann, wenn es jetzt zu Grenzschließungen kommt in noch größeren Ausmaße. Das hat eine politische Komponente, denn da werden die Rechtsextremen beziehungsweise der autoritäre Nationalradikalismus a la AfD dann triumphieren nach dem Motto, jetzt haben wir schon immer gesagt, dass die Grenzen dichtgemacht werden sollen, und dahinter liegen dann natürlich auch Schuldzuschreibungen, die über Verschwörungstheorien ja schon vorbereitet werden im Blick auf das Einschleppen des Virus durch Migranten, durch Flüchtlinge etc. An vielen Stellen liegen hinter den derzeitigen Maßnahmen auch noch politische Implikationen, die jetzt noch verdrängt werden durch diese schreckliche Virus-Pandemie.
Fremdenfeindlichkeit wird "von Pandemie überdeckt"
Büüsker: Jetzt haben Sie eben gesagt, im Moment befinden wir uns im Prinzip in einem Zustand der Alternativlosigkeit, weil wir uns diesen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung erst mal fügen müssen. Aber haben wir denn gerade als Gesellschaft wirklich gar keine Möglichkeit, irgendwie auch kritisch mit dem umzugehen, was da passiert? Ich habe schon den Eindruck, nachdem die ersten Tage dieser Maßnahmen doch alle recht ruhig mitgemacht haben, dass so langsam auch auf der politischen Ebene eine zunehmende Diskussion und ein zunehmendes Hinterfragen stattfindet.
Heitmeyer: Ja, das findet durchaus statt. Aber gleichzeitig wird ja auch über neue Maßnahmen nachgedacht. Denken Sie an den Vorschlag des Tübinger Oberbürgermeisters, Alte ab 65 zu separieren. Das sind wiederum sehr autoritäre Eingriffe in die Freiheitsrechte, denn es ist gar nicht gesagt, dass die über 65jährigen dann nicht fit genug sind, um am öffentlichen Leben teilzuhaben. Dort gibt es zwei Bewegungen. Auf der einen Seite natürlich das in Frage stellen, aber das sind ja Dinge, die auf Zukunft hindeuten, und das ist ja auch wichtig, damit nicht diese Vergesslichkeit der Institutionen nach und nach einkehrt. Denn wenn Macht mal ausgedehnt ist, geben solche Institutionen ihre Macht nicht freiwillig wieder her. Das ist die Erfahrung aus der Geschichte und da müssen wir höllisch aufpassen.
Coronavirus
Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Büüsker: Wenn wir noch mal auf den Ist-Zustand schauen. Sie haben eben schon das Beispiel genannt, ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger zu separieren. Wir erleben ja auch schon Warnungen davor, dass Menschen zunehmend Rassismus erleben. Das kommt insbesondere von Menschen mit asiatischer Herkunft. Die südkoreanische Botschaft gibt inzwischen auch Hilfe-Empfehlungen für Bürgerinnen und Bürger aus. Steckt in dieser Krise auch das Konfliktpotenzial der, ich sage mal, Diskriminierung von bestimmten Gruppen?
Heitmeyer: Ja, absolut! Ich habe das ja eben schon angedeutet mit den Schuldzuweisungen, vermittelt dann über das Phänomen, Grenzen dichtzumachen, und das wird sich natürlich auch in den Alltag hineinspielen. Denn man muss ja sagen, dass viel Hilfsbereitschaft und alles dieses wunderbar ist. Man darf nicht vergessen, dass die ganzen Einstellungsmuster einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, von der wir sprechen, also gegen Fremde und Abweichende, nach wie vor in der Bevölkerung vorhanden sind. Das wird, wie gesagt, alles überdeckt durch die Pandemie. Aber es ist alles vorhanden und wird, wenn mich nicht alles täuscht, danach wieder aufbrechen und die Rechtsextremen beziehungsweise die autoritären Nationalradikalisten werden dieses auszunutzen versuchen. Ich habe es schon erwähnt: Die Verschwörungstheorien sind schon in Vorbereitung.
Heitmeyer spricht auf einer Fachtagung des Gewerkschftsbundes
Wilhelm Heitmeyer - Soziologe, Erziehungswissenschaftler und Professor für Sozialisation am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (dpa / Monika Skolimowska)
Büüsker: Haben wir denn als Gesellschaft irgendeine Möglichkeit, diese Wirkung abzufedern?
Heitmeyer: Ja, natürlich! Die Frage ist, wie danach die ganze Sache kommuniziert wird mit den Schuldzuweisungen und dergleichen mehr. Da ist die Politik dann wieder gefragt, aber natürlich auch die Bürger, dass sie sich darüber im Klaren sind, was das bedeutet, wenn wir diese Offenheit nicht wieder erlangen. Ich bin da skeptisch, wie man demnächst damit umgehen wird. Wir müssen sehr, sehr aufpassen und da muss auch eine öffentliche Debatte wieder in Gang kommen, die sich jetzt ja fixiert und auch zurecht fixiert. Das ist ja überhaupt nicht zu bestreiten.
Vertrauensschub für die Politik möglich
Büüsker: Wenn Sie jetzt sagen, die Politik ist da als vermittelnde Rolle gefragt, den Menschen zu erklären, was Tatsache ist und was wichtige Entwicklungen sind, das setzt aber letztlich ja auch voraus, dass die Bürgerinnen und Bürger weiterhin Vertrauen in die Politik haben.
Heitmeyer: Ja! Das ist in Krisenzeiten, wenn die Angst grassiert und der besagte Kontrollverlust vorhanden ist, eher naheliegend. Aber möglicherweise gibt es ja einen neuen Vertrauensschub. In den letzten Jahren war es allerdings anders. Es war ja eher so: Der Apparat funktioniert, aber das Vertrauen erodiert. Die Frage ist, ob sich da wieder etwas einpendelt. Ich kann das nicht erkennen. Aber das ist ja auch ein offenes empirisches Ergebnis. Man muss es hoffen und dann muss auch wieder eine sehr intensive demokratische Debatte her, denn es ist ja zu erwarten, dass wir es mit weitreichenden Arbeitslosigkeiten zu tun haben werden, was wiederum unter Umständen neue Schuldzuweisungen oder Ausgrenzungsmotivationen liefert nach dem Motto, wie das politisch an einigen Rändern ja auftaucht, wir zuerst, Deutsche zuerst. Das sind Gefährdungen, die vor dem Hintergrund ökonomischer Verhältnisse dann sicherlich lauern werden.
Büüsker: Wenn die politische Diskussion so wichtig ist, würde ich jetzt daraus schließen, dass es auch unbedingt wichtig ist, dass beispielsweise unser Bundestag als Institution der Diskussion weiterhin arbeitsfähig bleibt und auch dort weiterhin politischer Austausch stattfindet.
Heitmeyer: Ja! Wenn nicht dort, wo dann! Aber auch in den lokalen Gremien, denn da ist es ja so, dass die Menschen hautnah jetzt die Einschränkungen erfahren, und insofern ist zu wünschen, dass eine große Debatte losgeht. Ich habe allerdings den Eindruck, dass auch viel Gesellschaftsromantik zurzeit unterwegs ist, die durchaus ein Problem darstellt, denn die Hoffnung, dass sich nun alles ändert, zum Positiven hin, kann ich nicht erkennen. Denn wir leben letztlich in einem kapitalistischen Staat und da ist es ja so, dass der Finanzkapitalismus kein besonderes Interesse an gesellschaftlicher Integration hat, sondern da geht es um die Kriterien von Nützlichkeit, Verwertbarkeit, Effizienz, und da muss man aufpassen, dass das jetzt nicht auch auf Menschen zunehmend angewandt wird und Menschen und Menschengruppen danach bewertet werden. Diese Gefahren sind alle vorhanden und können nicht jetzt durch die Solidaritäten einfach dazu führen, dass sich Strukturen verändern. Das ist naiv zu glauben, dass daran sich nun weitreichende Neuentwicklungen der gesamten Gesellschaft festmachen lassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.