Freitag, 19. April 2024

Archiv

Corona und moralische Werte
"Wir sind dazu verdammt, besonnen zu sein"

Besonnenheit statt Panik - das ist angesichts der Corona-Pandemie eine der meistgehörten Forderungen. Was aber ist mit dem Begriff "Besonnenheit" überhaupt gemeint? Ein uraltes Prinzip, sagt der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch - das aber auch in Frage gestellt werden könne.

Jochen Hörisch im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 16.03.2020
Medienwissenschaftler Jochen Hörisch, 2019
"Abwarten, Tee trinken, Hände waschen": der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch (Deutschlandradio /Jelina Berzkalns)
Auch er plädiere angesichts der aktuellen Lage für die Tugend der Besonnenheit, sagte Jochen Hörisch in "Kultur heute". Sie habe sich schließlich seit über 2000 Jahren bewährt: "Man soll nicht in Panik verfallen, sondern umsichtig sein, einen kühlen Kopf bewahren. Das hat sich über alle Epochenbrüche hinweg – bei den alten Griechen, im Mittelalter, in der frühen Neuzeit, in Moderne und Postmoderne – fortgesetzt."
Wenn ein Wert so gut etabliert, wenn er beinahe zu selbstverständlich geworden sei, so Hörisch, müsse man sich aber irgendwann fragen, ob es nicht auch Gründe gibt, die gegen ihn sprechen: "Der zurzeit berühmteste philosophische Kopf, der gegen Besonnenheit plädiert, ist Greta Thunberg. Sie sagt: ‚Ich will, dass Ihr in Panik geratet.‘ Sie würde vermutlich argumentieren: 'Ich plädiere für Panik – aus Besonnenheit.'"
Zeitdruck und fehlende Informationen
Grundsätzlich, so der Literaturwissenschaftler, sei die Besonnenheit ein sehr hoher Wert: "Was aber eigentlich besonnen ist, und was sich als besonnenes Urteil herausstellt, das wissen wir immer erst später." Die Besonnenheit, für die auch er plädiere, stehe deshalb gerade vor zwei Problemen: "Das eine ist der Zeitdruck. Wir müssen jetzt wissen, ob wir uns mit Freunden treffen, ob wir ins Kino gehen, ob wir unsere Reisebuchung aufrechterhalten. Und der Mangel an Informationen für gute Entscheidungen ist das zweite Problem. Abwarten, Tee trinken, Hände waschen kann man machen. Auch das ist ja eine Entscheidung. 40 Tage in die Wüste zu gehen oder sich in den Elfenbeinturm zurückzuziehen: Das ist ein Programm, das schön ist - aber schwer durchzuhalten ist."
Jochen Hörisch (Jahrgang 1951) untersucht als Literatur- und Medienwissenschaftler seit vielen Jahren die Wirkung, die Medien – zu denen auch Bücher gehören –, Texte bis hin zu einzelnen Wörtern auf einzelne Konsumenten und auf die Gesellschaft haben. Vom Abendmahl über Richard Wagner bis zur modernen Popkultur reichen die Themen, zu denen sich der emeritierte Professor für Neuere Germanistik und Medienanalsyse (Universität Mannheim) immer wieder äußert. Nicht unwidersprochen: Hörischs These, die Wirklichkeit sei vor allem eine mediale Konstruktion – also mehr postmoderner Schein als Sein –, wurde von Kolleginnen und Kollegen wie von Kritikerinnen und Kritikern in der Vergangenheit auch deutlich in Frage gestellt.
Urlaub von Routinen
Im Augenblick mache die Gesellschaft deshalb "eine ganz eigentümliche Erfahrung", sagte Jochen Hörisch im Deutschlandfunk: "Dass wir alle zu dem verdammt sind, was wir für das Schönste oder Zweitschönste halten – nämlich Urlaub zu haben von den alltäglichen Routinen. Wir sind dazu verdammt, jetzt besonnen zu sein."