Dienstag, 19. März 2024

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Coronakrise
"Der Ausnahmezustand stellt die Demokratiefrage neu"

Wenn sich die Bundeskanzlerin in Quarantäne begebe oder der britische Regierungschef an Covid-19 erkranke, treibe uns als Volk die Sorge um, ob die Führung noch gewährleistet sei, sagte der Politikwissenschaftler Claus Leggewie im Dlf. Denn jetzt sei nichts so wichtig wie gutes Krisenmanagement.

Claus Leggewie im Gespräch mit Fabian Elsäßer | 29.03.2020
Der Autor Claus Leggewie auf der Frankfurter Buchmesse.
"Was würde passieren, wenn ein Teil der politischen Klasse von der Seuche viel stärker affiziert wäre als wir im Moment wissen?", fragte der Politologe Leggewie im Dlf (picture alliance)
Offenbar sei es auch in demokratischen Gesellschaften nicht unwichtig, dass wir, der Souverän, das Volk, Bescheid wüssten über die Gesundheit unserer Oberen, sagte Claus Leggewie, Politikwissenschaftler, im Dlf. Wir erwarteten, speziell in Krisenzeiten, natürlich Führung. Wenn wir dann hörten, dass die Bundeskanzlerin sich in eine Quarantäne zurückziehen müsse und vom leeren Stuhl aus regiere, digital und virtuell, wenn wir dann hörten, dass Boris Johnson Covid-19 positiv getestet worden sei, dann umschleiche einen die Sorge, ob dann die Führung gewährleistet sei? Denn im Moment sei nichts wichtiger als ein gutes Krisenmanagement.
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Eine Gesundheitskrise könne für ein politisches System zur Legitimationskrise werden, auf jeden Fall. Was, wenn der US-Präsident Woodrow Wilson während der Friedensverhandlungen in Versailles an der Spanischen Grippe gestorben wäre, an der er erkrankt war? Was würde passieren, wenn ein Teil der politischen Klasse von der Seuche viel stärker affiziert wäre als wir im Moment wissen?
Zur Sorge um die Gesundheit käme dann die Sorge um die Stabilität politischer Herrschaft hinzu. Doch es gebe auch "quietschfidele demokratische oder halbdemokratische Regenten wie Viktor Orbán", die die Situation nutzten, ihre Länder in Halbdiktaturen umzuwandeln.
Ausnahmezustand stellt Demokratiefrage neu
Wir erlebten im Moment Verzicht auf Souveränitäts- und Grundrechte, wir verzichten auf Bewegungsfreiheit, auf Versammlungsfreiheit, sagte Leggewie. Doch wir protestieren nicht, übten uns in loyaler Befolgung der Anordnung der Behörden. Auch wenn er dies für richtig halte, betonte Leggewie, sei es gleichwohl so, dass der Ausnahmezustand, in dem wir lebten und der wohl noch einige Zeit anhalten werde, natürlich die Demokratiefrage noch einmal neu stelle.
Die Sorge von vielen, Verfassungsrechtlern und Vertretern der Zivilgesellschaft, sei: "Wie kriegen wir das zurückgebogen, wie kriegen wir den legitimen Zustand der Volkssouveränität wieder hin?" Auch unser Grundgesetz sei nicht so krisenfest, wie es auf den ersten Blick scheine, warnte der Politologe.
Widerstandsrecht wird von Populisten missbraucht
Das Widerstandsrecht im Grundgesetz, das 1968 paralell zu den Notstandsgesetzen verabschiedet wurde, "als Begütigung derjenigen, die damals zu viele Grundrechte im Notstand gefährdet sahen", sei etabliert.
Das bedeute, dass in dem Moment, wo eine illegitime autokratische Herrschaft an der Macht sei, das Volk das Recht auf Widerstand habe. "Aber das ist so verklausuliert, dass man sich fragen muss, ob das nicht ein toter Buchstabe ist", sagte Leggewie. Dennoch beriefen sich Populisten und Rechtsextreme auf dieses Widerstandsrecht und dichteten beispielsweise der Bundeskanzlerin eine illegitime Herrschaft an. "Das ist natürlich großer Humbug und ganz gefährlich."
Doch auch legitime Machthaber wie der ungarische Staatschef Orbán oder die Kaczyński-Partei in Polen reize das aus. Schon vor der Coronakrise seien immer mehr Grundrechte beschnitten worden, viele Grundlagen des Rechtsstaats abgeschafft worden, immer mit der Begründung, dass das Volk über dem Recht stehe. "Bedrohliche Vorgänge", die mit "normalen Gesetzesvorlagen" vorgenommen würden, betonte Leggewie.