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Coronavirus und Hochschulen
Wissenschaftlerinnen fordern "Nicht-Semester"

Das Sommersemester 2020 solle stattfinden - aber nicht für alle zählen, sagte die Trierer Professorin Andrea Geier im Dlf. Sie und andere Wissenschaftlerinnen fordern angesichts der Coronakrise ein "Nicht-Semester". Die Ausnahmesituation dürfe nicht zulasten derer gehen, die derzeit keine Punkte machen könnten.

Andrea Geier im Gespräch mit Anja Buchmann | 25.03.2020
Bibliothek der Ruhr-Universität in Bochum
"Es geht jetzt tatsächlich um diese Grundfrage: Von welcher Struktur aus denken wir dieses Ausnahmesemester?", so Professorin Andrea Geier von der Universität Trier (dpa / picture alliance / Bernd Thissen)
Der Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, Professor Ulrich Radtke, hat den Begriff des "Nicht-Semesters" vor einer Woche im Dlf-Interview ins Gespräch gebracht. Das hat drei Wissenschaftlerinnen dazu inspiriert, einen Offenen Brief zu schreiben - mit dem Forderung: "Das Sommersemester muss ein Nicht-Semester werden".
Eine Studentin sitzt allein in einem Hörsaal am Laptop 
Radtke: "Sommersemester als Nicht-Semester zählen"
Die Hochschulen möchten Lösungen für die derzeitige Sondersituation finden. Denkbar seien etwa digitale Prüfungen, so Ulrich Radtke, Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz. Sie würden auch auf Bundesebene versuchen, das Sommersemester als ein "Nichtsemester" zu zählen, sagte er im Dlf.
Andrea Geier ist Professorin der Germanistik an der Universität Trier und eine der drei Inititatorinnen des offenen Briefes aus Forschung und Lehre. Im Dlf-Interview fordert sie ein Neudenken der Strukturen und "eine andere Logik der Machbarkeit als die Durchhalte-Rhetorik".

Geier: Sommersemester soll stattfinden, aber nicht zählen
Anja Buchmann: Wie stellen Sie sich das Nicht-Semester vor?
Andrea Geier: Das ist, glaube ich, die größte Irritation, die tatsächlich in diesem Begriff Nicht-Semester liegt, den wir ja nicht erfunden haben, Sie haben schon gesagt, dass Professor Radtke den ins Spiel gebracht hat. Das ist ein Terminus, der einfach sagen soll: Etwas zählt nicht. Das bedeutet nicht, es findet nichts statt, ganz im Gegenteil. Es soll stattfinden. Das Sommersemester soll stattfinden.
Anja Buchmann: Aber?
Geier: Studierende sollen Punkte erwerben können, Abschlüsse sollen gemacht werden können, aber es geht um die Bedingungen, unter denen das geschieht, und um die Logik. Wir sind ja in den Universitäten darauf angewiesen, in allem, was wir tun, was wir in der Lehre anbieten, Studierbarkeit sicherzustellen. Und wir sind jetzt in einer offenen, dynamischen – das ist noch freundlich formuliert – Krisensituation. Wir haben definitiv ein Ausnahmesemester, niemand streitet das ab.
Es geht jetzt tatsächlich um diese Grundfrage: Wie packen wir das an, von welcher Struktur aus denken wir dieses Ausnahmesemester?
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Buchmann: Und von welcher Struktur aus denken Sie das?
Geier: Genau, also es gibt eben zwei Varianten.
Das eine ist, wir sagen, wir machen den Normal-Semesterbetrieb, aber irgendwie abgespeckt, also gucken mal, wie es so läuft, was wir eben tun können.
Und dann, und diesen Impuls haben wir versucht, von Herrn Radtke aufzunehmen und konkret zu wandeln, wie das aussehen könnte, wenn man sagt, nein, wir machen eine Pause, dieses Semester soll nicht zählen. Es soll ganz viel stattfinden, das heißt, es soll ermöglicht werden für alle die, die was machen können und die Punkte erwerben können, aber es darf nicht zulasten derer gehen, für die das nicht möglich ist, und zwar sowohl aufseiten der Studierenden wie aufseiten der Lehrenden. Und das ist in diesem Begriff Nicht-Semester drin.
"Nicht der Illusion eines Normalbetriebs anhängen"
Buchmann: Viele haben ja das Wintersemester noch gar nicht richtig abgeschlossen. Da stehen noch Semesterarbeiten oder Prüfungen aus. Wie sollen die dann integriert werden in dieses Nicht-Semester?
Geier: Das sind technische Fragen. Von der Logik her würde ich sagen, ja, ganz viel muss erst mal abgeschlossen werden, bevor es im Sommer weitergehen kann, also viele Punkte vom Wintersemester konnten jetzt noch nicht erworben werden, die aber wichtig sind, um sich dann im Sommer anzumelden. Das ist so eine der Baustellen, die es gibt. Aber es ist sicher unrealistisch, zu sagen, wir warten jetzt, bis alle das Wintersemester abgeschlossen haben, und machen dann das Sommersemester. Diesem Kuddelmuddel werden wir nicht ganz ausweichen können.
Was wir aber tun können, ist, möglichst gute Bedingungen für möglichst viele herstellen, das heißt, wirklich die gruppenspezifischen Probleme zu adressieren und nicht dieser Illusion eines Normalbetriebs anzuhängen, in denen die Einzelnen dann wirklich schauen müssen, wie sie zurechtkommen, sondern eine Struktur zu schaffen, die erst mal entlastet. Also von wo aus bauen wir das Sommersemester auf?
Geier: Keine "Digitalisierungsfestspiele"
Buchmann: Sie schreiben ja auch in Ihrem offenen Brief, dass viele Hochschullehrende, aber auch Studierende nicht so ganz fit seien immer bei den Methoden und Tools des E-Learning. Das wäre doch vielleicht allerdings auch auf der anderen Seite mal eine Chance, genau das zu verbessern. Ich meine, an Lernvideos und Tipps im Netz mangelt es ja nicht.
Geier: Das ist wohl wahr, und dieser Spirit, der ist auch gerade da. Ganz viele versuchen, neue Erfahrungen zu machen in digitaler Lehre und sind auch bereit dazu. Auch hier ist das zentrale Problem aber die Bedingungen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Es bringt gar nichts, wenn ich in bestimmten Zusammenhängen sage, na ja, ich arbeite immer schon mit dem und dem System, dann nehme ich das halt einfach für die Lehre im Sommer – die Universitäten müssen sagen, was funktioniert für uns auf einer rechtlichen Basis, womit wollen wir arbeiten? Denn alle Lehrenden haben mehrere Veranstaltungen, alle Studierenden haben mehrere Veranstaltungen. Es kann nicht sein, dass jeder Lehrende einfach beschließt, dass er mit irgendwas arbeitet, weil das eine absolute rechtliche Grauzone ist und völliges Chaos, wenn die Studierenden sich bei jedem Seminar noch mal überlegen müssen, womit wir jetzt arbeiten.
Und das passiert ja auch gerade, die Universitäten gucken, wie können wir das möglichst transparent machen, welche Vorschläge machen wir für welche Sachen?
Der Knackpunkt ist aber, dass wir nicht so tun dürfen, als wenn es jetzt Digitalisierungsfestspiele werden, womit ich meine, dass dieser Spirit nicht zulasten dessen gehen darf, was wir sonst tun. Also Präsenzlehre hat einen Wert. Dass die Digitalisierung unterschiedlich gut umgesetzt ist, hat nicht notwendigerweise damit zu tun, dass wir das noch nicht gut genug gemacht haben, sondern vielleicht einfach, dass es in bestimmten Fächern auch keine unbedingte Notwendigkeit gibt, das zu tun. Wir müssen aber vor allem – und deswegen möchten wir auch diese Diskussion ein bisschen weg nur von diesen Tools, was eignet sich und wer kann was, sondern es geht wirklich auch um das Ausbalancieren der Belastungen.
Also niemand weiß, was auf uns zukommt in diesem Sommer. Es gibt eine Fraktion, die irgendwie, glaube ich immer noch denkt, dass es Präsenzlehre im Sommer geben wird. Und ich glaube, da müssen wir uns ein bisschen ehrlicher machen und sagen, wir müssen jetzt eine Entscheidung fällen, weil wir haben Hochdeputatslehrende, die müssen acht Seminare machen, die wissen noch nicht, mit welchen Tools sie arbeiten wollen, sollen sich jetzt aber in vier Wochen überlegen, wie sie alle ihre Veranstaltungen online machen. Das ist einfach eine unmögliche Belastungssituation.
Kritik am Offenen Brief
Buchmann: Es gibt natürlich auch Widerspruch auf Ihren offenen Brief, unter anderem von Herbert Woratschek, Professor an der Universität in Bayreuth, der schreibt in einem Brief, der uns vorliegt, Ihr offener Brief spiegele nicht die Meinung aller Forschenden und Lehrenden wider. Er meint, anstatt die Energie mit Beschwerden und Forderungen zu vergeuden, appelliert er wiederum an die Solidarität aller Forschenden und Lehrenden. Was antworten Sie diesen Worten?
Geier: Dass wir genau das tun. Also ich selber bin jetzt dabei, mir zu überlegen, wie ich das mache, auch meine Mitstreiter und Mitstreiterinnen tun das alle, und die, die den offenen Brief unterschrieben haben, wollen ja genau das, für möglichst viele möglichst gute Bedingungen, um Studierbarkeit herzustellen im Sommer.
Und die Aktion ist jetzt ein Impuls, weil wir unter Zeitdruck stehen. Wir müssen einen gewissen Druck entwickeln, um zu sagen: Welche Fragen müssen jetzt ganz dringend geklärt werden? Und dass so viele unterschrieben haben, zeigt ja, dass das einen Nerv getroffen hat, dass wir eine Krisenkommunikation haben, die noch nicht gezielt die Probleme adressiert, vor denen wir stehen. Und wir geben einen Impuls, damit es eine andere Logik der Machbarkeit gibt als die, die wir momentan haben, nämlich diese Durchhalte-Rhetorik.
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Buchmann: Wie viel Rückendeckung bekommen Sie eigentlich dabei von den Hochschulrektoren?
Geier: Die Diskussion ist offen, sage ich jetzt mal. Wir haben ganz viel Unterstützung von Studierenden, aber auch die Gewerkschaft, die GEW, unterstützt das. Und wir haben, wenn wir jetzt den Ulrich Radtke nennen, der Rektor der Universität Duisburg-Essen und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz… Ich meine, der hat den Begriff ins Spiel gebracht, das zeigt ja auch: Das macht er nicht, ohne dass es Diskussionen vorher gegeben hätte. Es ist jetzt nicht so, dass sich 1000 Leute bei uns melden und sagen, ja, ja, klar, das machen wir. Das ist nicht der Fall. Aber wir sehen über die Diskussionen, dass ganz viele dieser Vorschläge im Gespräch sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.