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Corpus Coranicum

"Corpus Coranicum" heißt ein junges Projekt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das zwei bisher kaum angegangene Felder der Koranforschung bearbeiten will. Zum einen wird der Korantext in seiner frühen handschriftlichen und mündlichen Überlieferung gesichtet und dokumentiert. Außerdem arbeiten die Wissenschaftler an einem umfassenden historisch-kritischen Kommentar des ganzen Textwerkes.

Von Bettina Mittelstraß | 17.01.2008
    "Der Koran ist ..eine nachbiblische heilige Schrift und hat im Grunde zwei Gesichter, die man trennen sollte. Das eine ist das, was wir jetzt als Buch vor uns liegen haben und worüber die Muslime ... was die Muslime eben als ihre heilige Schrift in der Liturgie und in der liturgischen Lehre zugrunde legen. Das andere ist aber die Kommunikation, die stattgefunden hat zwischen dem Verkünder und seiner Gemeinde über 22 Jahre hinweg. Und in dieser Zeit ist natürlich noch alles offen. Man kennt das Ende noch nicht."

    Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin.
    Auf welchen geistesgeschichtlichen und kulturellen Boden fielen vor rund 1400 Jahren auf der arabischen Halbinsel die Worte des Propheten Mohammed? Mit dieser Frage nähern sich die Wissenschaftler an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der heiligen Schrift der Muslime, dem Koran.

    "Es ist explizit ein rezeptionsbasierter Ansatz. Wir interessieren uns eigentlich vor allem dafür, wie dieser Text von der koranischen Urgemeinde, also den ersten Hörern des Propheten zwischen 610 und 632 verstanden werden konnte."

    Der Arabist Nicolai Sinai und seine Kollegen im Projekt mit dem lateinischen Namen "corpus coranicum" versuchen, mit ihrer Arbeit einen Blick in die Kindertage des Islam zu ermöglichen. Es geht um eine historische Perspektive auf den Koran in der vielschichtigen Welt der Spätantike. Der Arabist Michael Marx, der die Arbeitsstelle in Potsdam leitet.

    "Das Projekt gliedert sich in drei Teilbereiche. Das erste ist eine Textdokumentation, das zweite ist ein Bereich, der nennt sich "Intertexte". Gemeint sind Texte zur Umwelt des Korans, die wir dokumentieren und auswerten und in einer Datenbank zur Verfügung stellen, der dritte Teil des Projekts ist dann ein literaturwissenschaftlicher Kommentar."

    Im ersten Flügel des Projekts, der Textdokumentation, verschaffen sich die Forscher nicht nur Stück für Stück einen Überblick über die weltweit in Bibliotheken verstreuten ältesten Handschriften.

    "Wir haben beim Koran eine Textgeschichte, die etwas anders zu behandeln ist, als die der Bibel. Das heißt, wir müssen auf Material der schriftlichen Tradition zurückgreifen und auf das in den islamischen Quellen überlieferte Material zu mündlichen Traditionen. "

    Der mündliche Vortrag des Korans spielt in der Geschichte dieses Textes eine bedeutende Rolle. Und so kennt die islamische Tradition eine enorme Bandbreite an so genannten Lesarten. Bis heute ist der Koran in mindestens 4 Lesarten lebendig. Michael Marx:

    "Das ist eine Rezitation, also muss man sich so vorstellen, wie es auch in der jüdischen Tradition Rezitationsformen gibt, wie man die heiligen Texte liest - im Christentum gibt es das auch, kann man noch im westlichen Christentum noch erkennen, wenn das Evangelium bei feierlichen Anlässen in besonderer Weise gelesen wird. In den orthodoxen, also im östlichen Christentum ist das denke ich ohnehin bekannt. "

    Um einen Eindruck von den verschiedenen Lesarten zu vermitteln, haben die Mitarbeiter 3 Lesarten der ersten 3 Verse der 20. Sure zusammengestellt.
    Lesart 1

    Einspielung Lesart 1 - Koranrezitation / Anfang 20. Sure ((Lesung von 'Âsim in der Überlieferung von Hafs, rezitiert von Abd ar-Rahmân as-Sudaisî)

    "Die 20. Sure beschäftigt sich in einem Satz gesagt mit der Moses Figur. Da kommen auch andere Themen vor, aber Mose ist das zentrale Element. "

    Einspielung Lesart 2 (Lesung von Nâfi' in der Überlieferung von Warsh, rezitiert von Mustafâ Gharbî)

    "Man kann an der ausgewählten Stelle keine lexikalischen, also Bedeutungsunterschiede feststellen, sondern man hört phonetische Unterschiede in der Umsetzung des Textes."

    Einspielung Lesart 3 (Lesung von Hamza, in der Überlieferung von Khalaf, rezitiert von Mashhadî bin Rashid al-'Ifâsî)

    Die Lesarten des Korans sind nicht zu verwechseln mit dem interpretierenden Vortrag durch islamische Gelehrte. Den Forschern geht es ausdrücklich nur um die überlieferte Textgestalt. Und für die Bereitstellung der Lesarten im Dokumentationsteil ihres Projekts arbeiten sie immer wieder eng mit muslimischen Kollegen zusammen, deren Kenntnis der Tradition die Arbeit wesentlich unterstützt.

    Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Bereitstellung so genannter "Intertexte", das heißt Textquellen aus der regionalen und zeitlichen Umgebung des Korans. David Kiltz, Mitarbeiter im Projekt corpus coranicum:

    "Wir gucken, welche Texte, welche Literaturen, welche Geistesströmungen haben wir denn in dieser Zeit in dieser Gegend der Welt und wir durchforsten die und sehen dann nach ob es da eben Intersektion gibt, ob es Überschneidungen gibt zwischen den Texten, die wir in der Umwelt, in der Umgebung des Korans finden und im Koran selber. Das sieht dann normalerweise so aus, dass wir zum Beispiel sehr viele christliche Texte nehmen, östlicher Gattung meistens, syrisch aramäischer Natur, aber auch griechischer Natur, dann auch jüdische Texte durchgehen. Und was wir hier machen möchten ist sehen, wo es Berührungspunkte gibt und wo halt der Koran ja etwas hat, was diese anderen Texte anklingen lässt. "

    Es finden sich keine wörtlichen Zitate anderer Religionstexte im Koran. Und dennoch erscheint viel bekanntes Vokabular. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Art und Weise, wie im Koran andere religiöse Texte anklingen und zugleich neue Sinnzusammenhänge geschaffen werden, ist die 112. Sure, die sogenannte Sûrat al-Ikhlâs. David Kiltz:

    "Sie lautet: "qul huwa Allâhu ahad. Allâhu s-samad. Lam yalid wa lam yulad. Wa lam yakun lahu kufuwan ahad". Eine sehr zentrale Sure im Islam. Sie bedeutet: Sprich, Gott ist ein Einziger, Gott ist möglicherweise ewig - das Wort samad ist vielfach interpretiert worden - Er hat nicht gezeugt und wurde nicht gezeugt und keiner ist ihm gleich. Was wir hier sehen ist in der ersten Zeile schon etwas Bemerkenswertes, wenn es heißt " qul huwa Allâhu ahad". Das Wort "ahad" heißt eins oder einzig und kommt auch nur ein einziges Mal im Koran vor. Was hier auffällt ist, (dass) die Form und die exponierte Stellung am Ende (...) - das erinnert sehr stark, um es jetzt mal ein bisschen verkürzt zu sagen an das jüdische Glaubensbekenntnis, das "shma Yisrael" - shma Yisra'el Adonai Elohenu, Adonai Ehad"."

    "Höre Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist Eins" heißt es im 5. Buch Mose, im so genannten Deuteronomium - eine ebenso zentrale Textstelle im Judentum.

    "Der Unterschied ist interessanterweise hier - da sehen wir auch wieder, dass der Koran nicht einfach übernimmt, sondern eine bestimmte Antwort, eine bestimmte Stellungnahme darstellt - dass hier erstes der Auftrag an den Propheten erteilt wird: sprich von Gott. Und das Wichtigere ist, dass hier eine allgemeine Ansprache ist: da es geht hier nicht konkret um das Volk Israel, was angesprochen wird, sondern es ist eine universelle Botschaft."

    Wenn es dann weiter in der 112. Sure heißt, dass Gott nicht zeugt und nicht gezeugt hat und ihm keiner gleich ist, erinnert das unmittelbar an zentrale christliche Vorstellungen.
    "Es ist halt sehr schön als Beispiel deshalb, weil wir hier sehen, dass der Koran in einer ganz besonderen Form Stellung nimmt auf brennende Fragen der Zeit, gleichzeitig natürlich auch ewige Glaubensinhalte formuliert, und können vielleicht ein bisschen nachvollziehen, wie in dieser historischen Situation diese Dynamik entsteht."

    Den Wissenschaftlern im Projekt liegt daran zu betonen, dass die Präsentation von Inter- oder Vergleichstexte die Originalität des Koran nicht in Frage stellt. Sie begegnen damit Kollegen aus den Koranwissenschaften, die das in Zweifel ziehen und damit für viel Unmut in der arabischen Welt sorgen. Aber auch um die Originalität der Bibel hat es vor hundert Jahren in der Bibelwissenschaft Streit gegeben, erzählt Nicolai Sinai:

    "Man hat Anfang des 20. Jahrhunderts angefangen, diese keilschriftlichen Zeugnisse der altmesopotamischen Kulturen zu entziffern, festgestellt, dass es dort auch Sintfluterzählungen gibt, beispielsweise, Analoge zur Noah Figur etwa, und dann gab es natürlich Leute, die daraus geschlossen haben, dass die Bibel also folglich nur eine Blaupause irgendwelcher älteren mesopotamischen Epen oder Mythen ist. Das ist natürlich falsch, insofern man diese Stoffe sehr gut in einem ganz eigenen Sinne aufgreifen und ändern kann. Das heißt diese Überreaktion zu denken: weil es hier eine kulturelle Berührung gibt, ist die Bibel, also in unserem Fall der Koran, sozusagen ein minderwertiger Epigone, das ist ein Fehlschluss."

    Historisch betrachtet scheint es offenbar immer dann Streit zu geben, wenn hinter einem erklärten Neuanfang immer auch kulturelle Kontinuität durchscheint.

    "Am Anfang von Josef und seine Brüder entwickelt Thomas Mann dieses sehr spannende Bild von Sanddünen, hinter denen sich weitere Sanddünen verbergen. (...) Das heißt, diese Vorstellung, dass es irgendwo einen maximal originellen Neueinsatz, den Anfang schlechthin gibt, die ist natürlich vollkommen unbegründet, und man sollte diese Vorstellung dann nicht gegen die Bibel oder den Koran wenden und ihnen vorwerfen, dass sie eben einen solchen schlechthinnigen Neuanfang nicht darstellen. Egal ob sie jetzt göttliche oder menschliche Texte sind. Menschliche Kultur ist eben ein Kontinuum, wo sich Neues eben immer wieder auf Altes bezieht."

    Im dritten Flügel des Projekts corpus coranicum machen sich die kleine Gruppe der Mitarbeiter an eine kritische Bearbeitung, den literarischen Kommentar des gesamten Korantextes.

    "Wenn man sich das Forschungsfeld der Koranwissenschaft anguckt, fällt eigentlich auf, dass es eine sehr begrenzte Anzahl von Leuchtturmproblemen gibt, zu denen sehr viel Tinte vergossen worden ist - meistens sind das schwierige Lexema, also Worte, deren Bedeutung schwierig zu deuten ist, - (...) aber weite Partien des Textes liegen eigentlich noch im Dunkeln, also zu denen findet man auch nichts, wenn man sich dafür interessiert. Und dieses Ungleichgewicht, das möchten wir vor allen Dingen beheben, indem wir eben den ganzen Text einmal ausführlich durchkommentieren, was es bis jetzt in den westlichen Sprachen eigentlich noch nicht gibt."

    Bei dieser Arbeit geht es unter anderem darum, die Entstehungsgeschichte des Textes sichtbar zu machen. Im kanonisierten Werk stehen die 114 Suren nicht in ihrer Verkündigungsreihenfolge. Eine literarisch kritische Betrachtung des Textes kann jedoch über die mögliche Chronologie des Korans Auskunft geben, der in etwa 2 Jahrzehnten aus den Mitschriften jener, die Mohammed zuhörten, entstand.

    "Wir fangen nicht einfach bei Sure 1 an und enden mit Sure 114, sondern wir machen es im Grunde genau umgekehrt. Also mit gewissen Einschränkungen kann man sagen, dass die frühesten Korantexte eher gegen Ende des Corpus zu finden sind und diese sehr langen Suren, die man am Anfang hat, Sure 2 ist die längste, dass die eigentlich eher spät sind und damit auch viel voraussetzungsreicher als die früheren Texte, das heißt, wenn man den Koran mal lesen und auch was verstehen möchte, dann sollte man eigentlich eher von hinten anfangen. "

    Nicht selten wird in letzter Zeit die historisch-kritische Durchsicht der Quellen als typisch europäischer wissenschaftlicher Zugriff auf den Koran dargestellt, ein Vergleich zu klassischen, islamischen Korankommentaren zeigt, dass die Methode selbst für Muslime nicht abwegig ist, sagt Nicolai Sinai:

    "Dass man etwa zur Erhellung bestimmter Stellen altarabische Gedichte heran zieht, dass man nach dem Kontext fragt, in dem eine bestimmte Stellen verkündet worden ist - das sind sozusagen hermeneutische Techniken, die wir in anderer Form natürlich auch verwenden. Also man sollte glaube ich nicht den Eindruck vermitteln oder mitnehmen, dass das, was man so historisch-kritische Exegese nennt, dass das das ganz Andere dessen ist, was die Muslime Jahrhunderte lang mit ihrem heiligen Text gemacht haben."

    Auf zahlreichen Konferenzen - in Marokko, Beirut, Teheran oder Istanbul stellen die jungen Wissenschaftler ihr Projekt konsequent vor, um mit Muslimen das Gespräch zu suchen. Die Resonanz ist durchweg positiv zu werten, und die Zusammenarbeit erfolgreich, sagt die Projektleiterin Angelika Neuwirth:

    "Wir bekommen ständig Zuschriften von - gerade weil wir auch auf internationalen Kongressen aktiv sind - von jungen Muslimen auch aus dem indischen Bereich, die für ein Jahr lang an dem Projekt arbeiten wollen, und ich selber habe 5 oder 6 Promoventen aus der islamischen Welt, die über den Koran arbeiten und die auch in einer kleinen Arbeitsgruppe mit den Mitarbeitern zusammen sich ständig über spezielle Probleme beugen."

    Die Vermittlung ihrer Arbeit am Koran ist den Beteiligten ein ebenso wesentliches Anliegen wie die Wissensproduktion selbst.

    "Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass wir im Grunde ja nur die Spitze des Eisbergs einer ganz großen Tradition in den Blick bekommen. Diese große Tradition ist viel zu umfangreich und viel zu diversifiziert als dass man sie in einem einzigen Gelehrtenleben erfassen könnte. Und diese Tradition respektieren wir und respektieren natürlich auch diejenigen, die sie verwalten. Und insofern liegt uns daran, unsere Position zu vermitteln. Zu vermitteln um auch klar zu sagen, dass wir hier nicht etwas betreiben, was in irgendeiner Weise einen Gegenkanon erzeugen soll, sondern im Grunde ein Gespräch vorbereiten."

    Man will nicht "mit sich selbst im Dialog" Koranforschung betreiben. Nur die Kommunikation mit Muslimen kann man mögliche Ängste ausräumen, europäische Orientalisten rückten dem Koran aus politischen Gründen zu Leibe. Der wissenschaftliche Beirat des Projekts besteht daher zukünftig auch aus islamischen Gelehrten.

    "Sehr interessante Kreise haben wir in den theologischen Hochschulen von Qom (Kum), in der Nähe von Teheran, kennen gelernt, wo man ganz entschieden - das sind nun Schiiten - wo man ganz entschieden daran geht, andere Religionen genau kennen zu lernen, um die eigene dann auch vergleichend in den Blick zu nehmen. "

    Ein weiteres Ziel neben der Vermittlung des Vorhabens in die in arabische Welt, ist es, den Koran hierzulande wieder als Teil der europäischen Tradition erkennbar zu machen. Michael Marx:

    "Es gibt die Vorstellung eines jüdischen-christlichen Erbe, also zwei im Grunde auch nahöstlichen Traditionen, die in Europa irgendwie ganz bequem unterzubringen sind, und wenn wir zum Beispiel in dem Kommentarteil unseres Projektes eben zeigen können, wie die Urgemeinde um den Propheten, also die Hörer des Textes im Grunde aus einer ganz ähnlichen Umwelt oder religiösen Welt stammen, dann kann man vielleicht auch sozusagen den Islam in die jüdisch christliche Gemeinschaft hinzunehmen."

    Denn territorial und zeitlich gehört der Koran neben die Kirchenväter und die Entstehung des Talmud, betont Angelika Neuwirth. Die Vorstellung, er sei das Andere, das Exotische und total Fremde neben den anderen beiden großen Religionen, ist ein fatales Erbe des 19. Jahrhunderts. Erst die Historisierung der Bibel hat den Koran aus dem europäischen Vorstellungsbereich verbannt, so Angelika Neuwirth:

    "Man hat die Wiege Europas gewissermaßen aufgefunden, dort wo eben die biblischen Schriften entstanden sind, aber diese Wiege Europas wurde also ganz entschieden wahrgenommen als etwas, was mit dem Islam nichts zu tun hat. Der Islam im Gegenteil wurde verdächtigt, diese "reinen" Anfänge, diese "großen" Anfänge der altorientalischen Kulturen verunklärt zu haben. Oder durch Eroberung eben gewissermaßen erstickt zu haben. Und diese Wahrnehmung ist natürlich eine ganz gefährliche Konstruktion. Der Nahe Osten gehört gewissermaßen zu unserem kulturellen Erbe, aber die Bewohner des Nahen Osten nichts, weil sie von einer falschen heiligen Schrift inspiriert sind oder was immer man da dann dazu konstruiert. Also da ist eine ganz gefährliche Wiederauffüllung eines vermeintlich leeren Raumes geschehen. Daran wollen wir auch arbeiten. "