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Cosa Nostra und Carabinieri

Er ist wahrscheinlich der am meisten gefährdete Kronzeuge Italiens. Er hat den Staatsanwälten aus der Innenwelt der sizilianischen Mafia berichtet. In einem Erinnerungsbuch über seinen Vater, den Bürgermeister Palermos, beschreibt Massimo Ciancimino die Verquickung von Mafia und Politik.

Von Aureliana Sorrento | 06.12.2010
    Ein kleiner Mann, schmächtig, gehetzt. Mit hastigen Schritten betritt der 47-jährige Massimo Ciancimino das Cafè, das als Treffpunkt verabredet wurde. An der Tür bleibt ein Leibwächter stehen. Massimo Ciancimino hat gute Gründe, sich nicht sicher zu fühlen. Er hat zu viel erzählt über den Vater, dem er jahrelang als Briefbote und "Mädchen für alles" gedient hat. Und nicht nur über ihn. Denn Vito Ciancimino, ehemaliger Bürgermeister von Palermo, stand zeitlebens an der Schnittstelle zwischen Mafia und Staat.

    "”Er war ein Mittelsmann zwischen Cosa Nostra, Geheimdiensten und Teilen der Institutionen. Sicherlich war er nicht der Urheber dieses Machtsystems. Als er nicht mehr nützlich war, wurde er ausgebootet. Das System ging weit über ihn hinaus.""

    Der Politiker verteilte die Gewinne aus staatlichen Bau- und Infrastrukturaufträgen unter Politikern und Mafiosi. Dafür verhalf die Cosa Nostra Cianciminos Christdemokratischer Partei immer wieder zu durchschlagenden Wahlsiegen.

    "”Mein Vater sagte, dass wir innerhalb des sizilianischen Machtsystems handeln mussten, und da die Mafia auf Sizilien das Territorium kontrollierte, musste man in jeder Angelegenheit mit ihr paktieren. Vor dem Fall der Berliner Mauer galt es, Sizilien als Bastion der Christdemokraten gegen die kommunistische Gefahr zu halten, und in der Tat heimste die DC auf Sizilien die meisten Stimmen ein.""

    1992 kommt es aber zum Bruch zwischen der Cosa Nostra und dem italienischen Staat. Der Politiker Salvo Lima wird von Mafia-Killern erschossen, der Richter Giovanni Falcone, seine Frau und seine Leibwächter fallen einem Attentat zum Opfer. Ungeklärte Morde, deren eigentliche Auftraggeber noch unbekannt sind.

    "Wenn ein Staat sich geschlagen sieht, greift er zu jedem Mittel. Die Carabinieri wandten sich an mich, um von meinem Vater empfangen zu werden. Sie wollten durch ihn mit der Cosa Nostra verhandeln, um zu einem Waffenstillstand zu kommen. So beginnt die Verhandlung. Der Staat macht Angebote, die Cosa Nostra stellt Forderungen. Inakzeptable Forderungen, meinte mein Vater. Aber er hatte ohnehin den Eindruck, dass man in Wahrheit nicht verhandeln wollte, dass ein subversiver Plan dahinter steckte, um einen Veränderungsprozess zu beschleunigen, der gerade angefangen hatte."

    Vito Ciancimino bezweifelte, dass die Strategie eines blutigen Kampfs gegen den Staat tatsächlich von den Anführern der Cosa Nostra ausgeheckt worden war. Er vermutete hinter den Morden höher gestellte Auftraggeber, subversive Kräfte, die die Mafia instrumentalisierten, um an die Macht zu kommen. Und ihr künftige Begünstigungen versprachen.

    "”Mein Vater dachte sich: Was hat denn Cosa Nostra für ein Interesse daran, den Staat so offensiv herauszufordern? Sie kann doch nicht denken, den Staat umzustürzen. Er konnte in dieser Politik den Kopf von Cosa Nostra nicht erkennen. Sie beging schreckliche Verbrechen, die ihren Interessen nicht entsprachen. Das heißt, dass ihr jemand etwas versprochen hat, das später kommen würde.""

    Kurz darauf brachten juristische Untersuchungen, die den Filz von Parteien und Wirtschaft aufdeckten, die italienische Parteienlandschaft zum Einsturz: Im Zuge der Ermittlungen der Staatsanwälte lösten sich Christdemokratische Partei und die Sozialistische Partei auf. Damit hatte die Cosa Nostra ihre langjährigen Referenzpunkte verloren.
    Fortan setzte Cosa Nostra alles auf die Karte Forza Italia, die von Silvio Berlusconi frisch geschmiedete Partei. Waren es also Berlusconi und seine Mitarbeiter, die im Rahmen der Verhandlungen zwischen Staat und Mafia der Cosa Nostra künftige Begünstigungen versprachen?

    "”Ich weiß es nicht. Das lassen wir lieber die Richter beurteilen.""

    Die Aussagen Massimo Cianciminos stimmen mit jenen anderer Kronzeugen überein. Sollte der Verdacht durch die Ermittlungen, die derzeit geführt werden, bestätigt werden, müsste Italiens Nachkriegsgeschichte neu geschrieben werden. Und dann würde es eng für den italienischen Premier – noch enger, als es ohnehin schon ist.

    Massimo Cianciminos Erinnerungen sind in dem Buch "Vito Ciancimino, der Pate von Palermo" nachzulesen, das im Piper Verlag erschienen ist.