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COVID-19 aus neurologischer Sicht
Coronavirus greift möglicherweise auch Nerven und Gehirn an

Beeinträchtigung des Geruchssinns, Übelkeit und Verwirrtheitszustände - COVID-19 ist keine reine Lungenkrankheit. Die Symptome der aus dem Coronavirus resultierenden Krankheit sind vielfältig. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass das Virus auch Nervenzellen angreift.

Von Arndt Reuning | 21.04.2020
Darstellung des Gehirns und der Faseroptik, die Daten um das Gehirn herum überträgt
Bei einem japanischen Patienten wurde das Coronavirus auch im Gehirn und im Nervenwasser nachgewiesen (imago / Westend61 )
Eigentlich ist Peter Berlit ein Fachmann für Krankheitsbilder des Gehirns. Doch als die ersten Berichte zum Lungenleiden COVID-19 in der Fachliteratur erschienen, wurde der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie doch hellhörig. "Wir haben jetzt im Rahmen der Pandemie lernen müssen, dass doch bei einem nicht geringen Prozentsatz der Patienten auch das Nervensystem mit einbezogen ist. Was tatsächlich sehr häufig ist, und das sind auch Daten aus Europa, ist eine Anosmie und Ageusie, das heißt eine Riech- und Geschmacksstörung, die bei über 80 Prozent der Patienten beobachtet wird."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Anfang April veröffentlichten Forschende aus Belgien die Ergebnisse einer europäischen multizentrischen Studie. Demnach stellen beide Beeinträchtigungen wichtige Symptome von COVID-19 dar, die oft bereits zu Beginn einer Infektion auftreten – und so die Möglichkeit einer frühen Diagnose bieten. Ganz im Gegensatz zu einem gewöhnlichen grippalen Infekt, der von Adenoviren ausgelöst wird.
Auch hier kann zumindest die Nase ihren Dienst versagen, aber erst dann, wenn die Krankheit vorangeschritten ist, erklärt der Geruchsforscher Hanns Hatt, Professor an der Ruhr-Universität Bochum. "Die Duftmoleküle, die kommen eben dann durch den Nasenschleim nicht mehr zu den Riechzellen oder die Viren können sogar, wie man weiß, die Riechzellen befallen und sie abtöten." Eine Fähigkeit, die das neuartige Coronavirus offenbar nicht besitzt. Denn um eine Zelle entern zu können, ist es auf ganz spezielle Andockstellen auf der Zelloberfläche angewiesen.
"Diese Andockstellen, die gibt es nicht auf den Riechsinneszellen. Sondern die wurden von Wissenschaftlern gerade aus den USA relativ neu entdeckt nur auf den Stützzellen. Das sind also die Zellen, die zwischen den Sinneszellen liegen, die vor allem die Sinneszellen auch mit Nährstoffen versorgen und ähnliche Dinge, die aber auch wichtig sind für den Riechprozess. Und auf diesen Stützzellen findet man eben diese Andockstellen. Also von daher könnte man nur davon ausgehen, dass ein indirekter Effekt der Coronaviren auf die Riechzellen existiert."
Die Wissenschaftlerin Katharina Kleilein untersucht an der Sterilbank im Labor des Life-Science-Unternehmens Yumab die optische Dichte einer Bakterienkultur. Das Startup-Unternehmen forscht zur Entwicklung menschlicher Antikörper und versucht so Medikamente gegen Covid-19 zu entwickeln. 
Medikamente zur Behandlung von COVID-19
Einen Impfstoff oder ein neues Medikament zu entwickeln, ist langwierig. Im Kampf gegen die Corona-Pandemie muss es schneller gehen. Die Hoffnung richtet sich daher auf bekannte Medikamente, die zur COVID-19-Therapie umfunktioniert werden könnten.
MERS und SARS: Viren im Gehirn nachgewiesen
Die nachgeschalteten Nervenzellen aber könnten durchaus dem Virus ein Einfallstor ins zentrale Nervensystem bieten, ergänzt Peter Berlit. Denn der Riechnerv führt von der Nasenschleimhaut durch den Schädelknochen direkt ins Gehirn.
"Wir wissen von den früheren Coronavirus-Infektionen MERS und SARS, dass die eine hohe Neurotropie haben. Das heißt, dass über Nerven diese Viren ins Gehirn gelangen können. Das ist für die früheren Infektionen auch so tatsächlich nachgewiesen. Und es gibt jetzt auch einen ersten Fallbericht aus Japan mit dem neuartigen Coronavirus, wo ein Patient mit epileptischen Anfällen auffällig wurde und man dann tatsächlich im Gehirn mittels Kernspintomographie und im Nervenwasser das Virus beziehungsweise die Entzündung hat nachweisen können. Dieser Fall, der jetzt aus Japan publiziert wird, beweist zumindest mal, dass das neuartige Virus tatsächlich ins zentrale Nervensystem gelangt und dort eine Entzündung machen kann."
Interaktive Karte mit COVID-19-Statistiken vom Zentrum für Systemwissenschaft und Systemtechnik der Johns Hopkins University in Baltimore
Aktuelle Zahlen und Entwicklungen
Im Coronavirus-Zeitalter sind wir alle zahlensüchtig: Wie viele gemeldete Coronavirusfälle gibt es in Deutschland? Verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus, wie entwickeln sich die Fallzahlen international? Wie die Zahlen zu bewerten sind – ein Überblick.
Bisher ist der japanische Patient mit seiner Hirnhautentzündung ein Einzelfall geblieben. Aber der Nachweis des Coronavirus im zentralen Nervensystem unterstreicht eine Befürchtung, die ein Forscherteam aus China und Japan bereits Ende Februar in einem Übersichtsartikel im Journal of Medical Virology geäußert hatte: dass der Erreger bei manchen Menschen in den Hirnstamm vordringt und dort das Atemzentrum schädigt. Das könnte erklären, warum gerade bei älteren COVID-19-Patienten manchmal die Atmung aussetzt, ohne dass sie vorher massive Atemprobleme durch die Lungeninfektion gehabt hätten.
"Und das ist eine durchaus nicht von der Hand zu weisende Überlegung. Dazu fehlen uns noch die Belege, weil dafür müssten wir bei Patienten, die so einen plötzlichen Atemstillstand gehabt haben, eine Untersuchung des Gehirnstammes im MRT haben und nach Möglichkeit auch eine Nervenwasseruntersuchung. Und da sind wir im Moment dabei, solche Daten zu sammeln. Die haben wir aber noch nicht."
Neurologe: Virus könnte Schlaganfälle auslösen
Ungeklärt ist auch noch, ob das Virus einen Schlaganfall auslösen oder doch zumindest begünstigen kann. Der Verdacht besteht, seitdem Mediziner aus der chinesischen Stadt Wuhan eine Studie an 214 COVID-19-Patienten vorlegten. Im Fachmagazin JAMA Neurology schrieben sie, dass bei gut einem Drittel davon neurologische Symptome auftraten. Fünf Patienten erlitten einen Schlaganfall. Bei dieser erhöhten Rate könnte es sich zwar um eine statistische Verzerrung handeln, denn viele Patienten aus der untersuchten Gruppe litten unter Begleiterkrankungen, die an sich schon einen Schlaganfall begünstigen.
Für Peter Berlit kommt aber auch noch eine andere Erklärung in Betracht, nämlich, "dass es tatsächlich durch das Virus selbst zu einer Schädigung der Hirngefäße kommt, dass eine Gefäßwandentzündung durch das Virus die Schlaganfälle auslöst." Denn wie auch die Corona-Viren, die SARS und MERS verursachen, bindet der aktuelle Erreger gerne an einen Molekülschalter namens Angiotensin-II-Rezeptor. Und der kann an Entzündungsreaktionen der Blutgefäße beteiligt sein. Doch das ist bisher nur Spekulation. Fest steht aber, dass COVID-19 keine reine Atemwegserkrankung ist, sondern auch ein Fall für die Neurologie.