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COVID-19
Wie man Herdenimmunität erreicht

Um die Coronakrise in den Griff zu bekommen, braucht es nach Meinung vieler Wissenschaftler eine Herdenimmunität - auch Populationsimmunität genannt. Was ist damit gemeint und warum führt beim Kampf gegen das Coronavirus wohl langfristig kein Weg daran vorbei?

Von Christine Westerhaus | 20.04.2020
Fans strömen nach einem Fußballspiel auf einer Treppe im Abendlicht zur U-Bahnstation Froettmaning.
In Deutschland müssten über 50 Millionen Menschen immun gegen das Coronavirus werden, bis eine Herdenimmunität erreicht ist (picture alliance/Stephan Goerlich)
Ein Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus kommt frühestens in einem Jahr. Viele Fachleute gehen inzwischen davon aus: Das neue Coronavirus wird bleiben, COVID-19 wird ein neuer ständiger Begleiter der Menschheit. Und weil das so ist, ist es so wichtig, in der Bevölkerung eine Grundimmunität dagegen aufzubauen.
Was versteht man unter Herdenimmunität?
Eine bestimmte Zahl an Menschen in der Bevölkerung muss immun sein, damit sich eine Krankheit nicht weiter ausbreiten kann. Wenn zum Beispiel viele Eltern ihre Kinder gegen Masern impfen lassen, sind einzelne, nicht geimpfte Kinder nicht mehr gefährdert und profitieren davon, dass andere durch die Impfung immun gegen das Virus sind. Wenn sich aber zu wenig Menschen impfen lassen, hat das Masernvirus eine Chance, sich zu verbreiten - weil es in der Bevölkerung auf genügend Individuen trifft, die nicht immun sind. Ein Rechenbeispiel anhand einer Gruppe von 100 Menschen: Ist in dieser Gruppe niemand immun und einer infiziert, kann er theoretisch alle anderen anstecken. Und diese neu infizierten 100 Menschen können dann wiederum viele andere anstecken. Das führt dazu, dass sich die Krankheit sehr schnell ausbreitet.
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Beim Coronavirus gab es bis zum Ausbruch des neuartigen Virus keine immunen Menschen in der Bevölkerung. Deshalb haben sich bei einzelnen Großevents wie Karneval, Fußballspielen oder im Skiurlaub sehr viele Menschen angesteckt. Wenn aber von 100 Menschen 60 immun sind, dann können die übrigen 40 statistisch gesehen jeweils nur weniger als eine andere Person anstecken. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus auf einen nicht-immunen Menschen trifft und ihn anstecken kann. Beim Coronavirus geht man davon aus, dass wenn 60 bis 70 Prozent der Menschen immun wären, Herdenimmunität erreicht sei. Bezogen auf Deutschland müssten mehr als 50 Millionen Menschen immun werden. Wenn man annimmt, dass ein halbes Prozent der Infizierten die Krankheit COVID-19 nicht überlebt, wären das 250.000 Menschen.
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Dennoch sagten viele Epidemiologen: Diese Immunität auf Populationsebene ist der einzige langfristige Weg, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, ohne massiv ins gesellschaftliche Leben einzugreifen, wie wir das jetzt in vielen Ländern erleben. Die einzige Alternative scheint wenig realistisch: Man müsste die Menschen über viele Wochen komplett isolieren und alle Begegnungen verhindern, bis das Virus wieder verschwunden ist. Und selbst, wenn das gelänge: Was passiert, wenn das Virus wieder zurück kommt? Dann ginge alles wieder von vorne los, es gäbe eine neue Infektionswelle.
Ist man nach Gesundung automatisch immun?
Die Idee von der Herdenimmunität setzt voraus, dass man immun gegen das Virus wird, wenn man einmal infiziert war. Daran gibt es Zweifel. Nachrichten aus Korea meldeten, dass sich dort 91 Menschen erneut mit dem Erreger infiziert haben. Aber Experten warnen davor, diese Ergebnisse zu stark zu gewichten. Dass das Erbgut des Erregers bei diesen Menschen nachgewiesen wurde, könnte auch andere Ursachen haben oder an einer fehlerhaften Methodik liegen. Momentan gehen Wissenschaftler immer noch davon aus, dass man immun wird, wenn man die Infektion durchgemacht hat. Wie lange Immunität anhält, ist allerdings unklar, weil man noch nicht weiß, ob das Virus möglicherweise mutiert und die vom Körper gebildeten Antikörper dann nicht mehr wirksam sind, so wie es zum Beispiel bei der Grippe der Fall ist.
Wie erreicht man eine Herdenimmunität ohne Impfstoff?
Da gibt es unterschiedliche Strategien. Ein paar Länder haben darauf gesetzt, die Grundimmunität schnell zu erreichen und die Risikogruppen so lange besonders gut zu schützen. Schweden ist ein prominentes Beispiel, das viel diskutiert und auch kritisiert wird. Dort sind die Kitas und Schulen bis zur 9. Klasse weiterhin geöffnet. Obwohl es kein offiziell erklärtes Ziel ist, eine schnelle Durchseuchung unter den Jüngeren zu erreichen, ist genau das der Effekt.
In Schweden trifft dieses Konzept immer noch auf breite Zustimmung. Und selbst in Dänemark werden inzwischen Stimmen laut, die sagen: Wir hätten es so machen sollen wie die Schweden. Denn Stichproben in der Hauptstadtregion Kopenhagen haben gezeigt, dass dort noch sehr wenige Menschen Antikörper gegen das neue Coronavirus im Blut hatten – der wichtigste Indikator für Immunität. In Dänemark hat man deshalb gesagt: Wir sind von einer Herdenimmunität noch zu weit entfernt, es ist also wichtig, die Kontaktbeschränkungen ein wenig zu lockern.
Wie überprüft man die Herdenimmunität?
Auch in Deutschland ist der komplette Lockdown nicht viel länger durchzuhalten. Um festzustellen, wie weit wir auf dem Weg zur Herdenimmunität gekommen sind, wären dann aber massenhaft Tests nötig, zum Beispiel Antikörpertests. Die weisen nach, ob jemand schon Antikörper gegen das Virus gebildet hat, also die Krankheit schon durchgemacht hat und immun ist. In Heinsberg in NRW wurde eine solche Studie gemacht. Dort wurden sehr viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert.
Der Virologe Hendrik Streeck bei der Vorstellung der sogenannten Heinsberg-Studie zur Coronavirus-Ausbreitung
Wo sich die Wissenschaft angreifbar macht
Die Kritik an der Heinsberg-Studie offenbart, welche Anforderungen derzeit an die Wissenschaft gestellt werden und welche Rolle Wissenschaftskommunikation dabei spielt.
Die Ergebnisse sind zwar noch vorläufig und nicht wissenschaftlich publiziert. Aber dort hat man stichprobenartig 500 Haushalte untersucht und festgestellt, dass 15 Prozent der Menschen immun sind. Es gab viel Kritik an dieser Studie. Aber sie gibt einen Anhaltspunkt. Solche repräsentativen Infektionszahlen für das gesamte Bundesgebiet zu erfassen, wird in Zukunft ganz wichtig werden.