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"Da hat Frau von der Leyen etwas geschummelt"

Der Bundesrat entscheidet heute über die Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze und die geplanten Bildungsgutscheine für Kinder. Erwartet wird, dass er die Reform ablehnt. Dann würde der Vermittlungsausschuss eingeschaltet.

Guntram Schneider im Gespräch mit Friedbert Meurer | 17.12.2010
    Friedbert Meurer: Die größte Sozialreform der letzten zehn Jahre hier bei uns, das war die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, das meistens Hartz IV genannt wird. Hartz IV oder eben ALG II wird in der Regel gezahlt, wenn jemand länger als ein Jahr arbeitslos ist. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts müssen die Regelsätze neu berechnet werden. Ursula von der Leyen ließ in ihren Ministerien ausrechnen, die Sätze sollen um fünf Euro angehoben werden, und daraufhin gab es dann wütenden Protest. Heute wird wohl der Bundesrat das alles ablehnen, dann soll der Vermittlungsausschuss sich der Sache annehmen. An dieser Bundesratssitzung wird auch teilnehmen Guntram Schneider, er ist der Arbeitsminister in Nordrhein-Westfalen (SPD). Guten Morgen, Herr Schneider.

    Guntram Schneider: Guten Morgen, Herr Meurer!

    Meurer: Fünf Euro mehr für Hartz IV-Empfänger, das ist der SPD zu wenig. Wie viel halten Sie denn für angemessen?

    Schneider: Es geht ja nicht darum, jetzt ein Euro-Geschacher vom Zaun zu brechen. Das Bundesverfassungsgericht hat ja eindeutig klar gemacht, es geht um die Herstellung von Transparenz bei der Berechnung der Regelsätze, und da hat Frau von der Leyen etwas geschummelt. Deshalb gehen wir nicht in die Gespräche hinein mit festen Euro-Vorstellungen, sondern wir wollen ergründen, was braucht ein Mensch in Deutschland, und vor allem, was braucht ein Kind, um hier zivilisiert leben zu können.

    Meurer: Aber die Wohlfahrtsverbände haben das gemacht. Die haben auch nachgerechnet. Diakonie und paritätische Wohlfahrt, wie wir das eben gerade gehört haben, haben ausgerechnet, dass der Regelsatz bei 420 Euro etwa liegen soll - im Vergleich: 364 bei der Bundesregierung. Sind Ihnen, Herr Schneider, 420 Euro zu viel?

    Schneider: Nein, die sind mir nicht zu viel. Das ist eine Berechnungsgrundlage, die sicherlich auch in die Beratungen des Vermittlungsausschusses einfließen wird. Wir werden uns die ganze Sache sehr genau anschauen und uns dann ein eigenes Urteil bilden.

    Meurer: Wenn Sie sagen, Sie wollen kein Euro-Geschacher, sondern Transparenz, Herr Schneider, würden Sie dann am Ende möglicherweise fünf Euro zustimmen, wenn Sie denn dazu kämen, ja, es ist transparent ausgerechnet?

    Schneider: Also ich denke, das kann ich ausschließen. Es wird mit den Stimmen der A-Länder keine Erhöhung um fünf Euro geben.

    Meurer: Gibt es eine Untergrenze, die Sie sich vorgenommen haben?

    Schneider: Nein, es gibt auch keine Untergrenze. Noch einmal: Das Verfassungsgericht hat nicht über Euro-Beträge gerichtet, sondern hat erklärt, es muss statistisch sauber hochgerechnet werden, was benötigt ein Mensch, um in Deutschland vernünftig leben zu können. Das ist die Messlatte des Gerichtes, und dieser Messlatte müssen wir uns stellen.

    Meurer: Es wird aber auch - das wissen Sie als Politiker doch auch - die Messlatte in der Öffentlichkeit und seitens der Hartz IV-Empfänger geben, wie viel Geld gibt es denn nun am Ende. Sehen Sie die Gefahr, wenn es dann zehn Euro sind, dass es dann heißt, also die fünf Euro mehr, das ist ja nicht viel, was die SPD jetzt herausgeholt hat?

    Schneider: Ich glaube, für einen SGB-II-Empfänger sind fünf Euro schon eine Summe, die man beachten muss. Unterschätzen Sie nicht den Umfang der Armut in unserem Lande. Und noch einmal: Wir werden sehen, wie weit wir in den Verhandlungen kommen. Ich denke, fünf Euro sind völlig unangemessen, das ist eine Erhöhung nach Kassenlage gewesen und das können wir nicht akzeptieren, wenn wir nicht wieder in Karlsruhe verlieren wollen.

    Meurer: Die Grünen, mit denen Sie ja in Nordrhein-Westfalen eine Koalition bilden, die nennen eine Zahl: Die fordern über 400 Euro als Regelsatz. Ist damit die angebliche Latte markiert, wo eine Partei zumindest in der Wahrnehmung sozialer als die SPD erscheint? Kann das nicht eine Folge sein?

    Schneider: Es ist nicht immer so, dass diejenigen, die viel fordern, sozialer sind als andere. Das sind die Überlegungen der Grünen. Wir arbeiten in Nordrhein-Westfalen auch in der Sozialpolitik mit den Grünen hervorragend zusammen. Aber die Sozialdemokraten werden sich eine eigene Meinung bilden.

    Meurer: Sie waren ja lange Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Nordrhein-Westfalen. Ist es vielleicht so, dass die SPD ein bisschen im Blick hat, was die arbeitenden Leute denken, die sagen, es muss ein Abstand nach unten bleiben?

    Schneider: Sicherlich muss es einen Abstand nach unten geben, das ist völlig richtig, aber das Verfassungsgericht hat nicht über den Lohnabstand gerichtet, sondern nach dem Existenzminimum, und wenn in Deutschland die Abstände zwischen denjenigen, die arbeiten, und denjenigen, die leider aufgrund ihrer Situation Transferleistungen des Staates entgegennehmen müssen, nicht mehr stimmt, dann sind nicht die Transferleistungen zu hoch, sondern die Löhne sind zu niedrig. Und hier ergibt sich ja der Zusammenhang zu einem gesetzlichen Mindestlohn. Sie müssen sich mal vorstellen: über 6,5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten zu Löhnen unter neun Euro. Das ist die Armutsfalle, der wir entgehen müssen, und hier ist der Mindestlohn ein probates Mittel.

    Meurer: Aber den gesetzlichen Mindestlohn wird es ja nicht geben?

    Schneider: Das weiß ich nicht! Wir werden auf jeden Fall das Thema Mindestlohn in die Debatte einbringen, und der Mindestlohn steht ja heute auch auf der Tagesordnung des Bundesrates. Über einen Antrag der Länder NRW, Rheinland-Pfalz und Bremen werden wir die B-Länder, die CDU-regierten Länder, dazu bringen, entweder sich positiv zu einem Mindestlohn zu äußern, oder ablehnend zu äußern. Wir wissen, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung für einen Mindestlohn ist.

    Meurer: Noch kurz zu den Bildungsgutscheinen. Lehnen Sie die rundweg ab, Herr Schneider?

    Schneider: Nein. Bildungsgutscheine können ein Mittel sein. Uns geht es darum, dass dieses Paket für Bildung und gesellschaftliche Teilhabe für die Kinder unbürokratisch aufgeschnürt werden kann und den Betroffenen zugute kommen kann, und Frau von der Leyen hat hier ein bürokratisches Monster auf den Weg gebracht. Über 140 Millionen Euro sollen nur für die Verteilung des Bildungspäckchens zur Verfügung gestellt werden, und hier steht der Aufwand in keinem Verhältnis zu dem tatsächlichen Ergebnis. Deshalb, wie heißt es so schön: einfach spielen. Wir brauchen Strukturen, die wenig bürokratisch sind und effektiv uns voranbringen.

    Meurer: Gedacht ist an zehn Euro pro Monat pro Kind. Ist das okay?

    Schneider: Das ist nicht okay. Das ist der Beitrag für Sport und musische Bildung. Wissen Sie, wenn sie in Köln in einem Sportverein sind, dann zahlen sie schon zehn Euro Beitrag pro Monat, da haben sie noch keine Fußballschuhe. Also all das lässt sehr zu wünschen übrig. Hier ist viel Symbolik im Spiel und wenig Realität.

    Meurer: Guntram Schneider, Arbeits- und Sozialminister in Nordrhein-Westfalen (SPD), heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk vor der Sitzung des Bundesrates unter anderem zum Thema Hartz IV und Bildungsgutscheine. Herr Schneider, besten Dank und auf Wiederhören.

    Schneider: Vielen Dank!