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Dänemark
Fossiliensammeln unterm Kreidefelsen

Auf der dänischen Insel Moen gibt es riesige Kreidefelsen. Und sie geben so viele Fossilien frei, dass wirklich jeder fündig wird. Der weiße Strand ist durchbrochen von schwarzem Feuerstein. Ein Museum informiert virtuell über die Geschichte dieses Ortes.

Von Franz Lerchenmüller | 13.04.2014
    Blick auf den Strand von Moen, Dänemark
    Blick auf den Strand von Moen, Dänemark (Franz Lerchenmüller / Deutschlandradio)
    Hat da jemand seine Kontaktlinsen verloren? Wurde Gold gefunden? Oder unternimmt die philosophische Fakultät der Uni Kopenhagen ihren Betriebsausflug?
    Den Kopf nach unten, die Augen fest zu Boden gerichtet, wandern Grüppchen von Menschen auf dem schmalen, kiesigen Streifen zwischen Meer und Steilküste entlang. Manchmal geht einer in die Knie, wühlt im Geröll, hebt etwas auf, betrachtet es - und wirft es wieder weg. Dann aber ist es soweit. Eine blonde Dame kramt einen runden Stein aus dem Kies und zeigt ihn ihrem Begleiter.
    - "Ich glaube, ich habe einen Seeigel gefunden."
    - "Ein größeres Exemplar von einer Galeritis."
    - "Ist da jetzt noch irgendwie die Schale drum oder ist das abgerieben?"
    - "Nein, das ist so verletzt, die Struktur ist verschwunden, aber der Steinkern ist noch drinnen."
    Der Mann muss es wissen. Hans Henrik Meyer ist einer der Führer des Geocenter Moens Klint. Mit sechs hat er seine erste versteinerte Muschel aufgelesen. Seitdem ist seine Fossiliensammlung auf unglaubliche 22 Tonnen angewachsen. Und er hat sich in Fachkreisen längst einen Namen gemacht als Spezialist für Haifischzähne und versteinertes Holz. Wenn er hier unterwegs ist, findet er immer etwas - denn er hat eine besondere Technik.
    "Ich gehe normal recht langsam und konzentriere mich auf eine Breite von ungefähr 60 Zentimeter, wo ich reingucke. Und ich gehe nach einer Form oder einer Figur auf einem Stein oder wenn es ein Muster gibt wie Seeigel, kann man leicht erkennen. Das Auge stellt sich irgendwie ein auf das, wonach man sucht."
    Moens Klint, der spektakulärste Teil der Ostküste der dänischen Insel Moen, ist sechs Kilometer lang und bis zu 128 Meter hoch. Der Strand am Fuß der blendend weißen Kreidefelsen gilt als der Ort, an dem jeder, aber auch wirklich jeder, fündig wird, der einmal Fossilien entdecken will.
    Überreste von Korallen liegen im Geröll, Teilstückchen von Seelilien und Schwämmen - und vor allem Donnerkeile. Letztere erinnern an bernsteinfarbene Gewehrpatronen aus Glas oder Ton und befanden sich einst im hinteren Teil von Tintenfischen.
    "Das ist auch eine Spitze vom Donnerkeil. Sie sind ein damaliges Rohr in einem Tintenfisch. In dem hinteren Teil von dem Tier war so ein spitzer Keil, das war hohl. Und in dem Hohlraum hatte der Tintenfisch seine Nervenbahnen, wie unser Rückgrat. Das ist Calcit oder Claziumcarbonat. Früher, also vorletztes Jahr, war hier ein kleiner Rutsch. Und da waren sehr viele von diesen Belemiten, also Donnerkeilen drin. Und deswegen spülen sie von dem Strand aus hier und liegen hier auf dem Sand."
    Welche Wunderdinge sonst noch auf Moen entdeckt wurden und werden und wie es dazu kam, erfährt der Besucher im multimedialen Geocenter. Schritt für Schritt geht es hinunter in den Keller und 70 Millionen Jahre zurück in die Vergangenheit. Ununterbrochen rieseln an der Wand Bilder kleiner, weißer Plättchen nieder. Es sind die Überreste der Coccolithen, winzigster Algen.
    "Es war ungefähr einen halben Millimeter, das ist sehr vergrößert jetzt. Das Kreidemeer bestand überwiegend aus diesen Kalkalgen. Wenn sie gestorben sind, und das sind sie massenhaft, ging das Skelett kaputt, sie gingen auseinander und die Teiel von dem Skelett, das alles hat dann die Kreide gemacht."
    Nach 10.000 Jahren war der Boden gerade mal eine Handbreit gewachsen. Bis zu einer Dicke von über zwei Kilometern türmte sich diese Kreideschicht im Lauf von 80 Millionen Jahren auf. An einem Modell erfährt der Besucher, wie vor 12.000 Jahren Eis aus dem Norden den kreidigen Meeresboden zusammenschob, faltete und an die Oberfläche drückte - wo er heute noch in seiner ganzen weißen Pracht zu bewundern ist.
    Auf einem Bildschirm läuft eine dänische Wochenschau von 1952. Damals brach ein gewaltiges Stück Kreide aus der Wand und donnerte auf den Strand hinunter. Aber das war bei Weitem nicht der größte Abbruch. Der erfolgte erst 2007 - mit einem Kreidebrocken von 500.000 Tonnen Gewicht.
    "Ein großes Stück von den Store Taler, heißt es, ist dann herausgerutscht, und hat eine Insel von 500 Meter Weite und 300 Meter Breite gemacht. Und es liegen noch einige Stücke davon zurück auf dem Strand, aber im Laufe der nächsten Jahre wurde alle diese weiße Kreide weggespült."
    Neben Teilen verschiedener Skelette watscheln, planschen und flattern die dazugehörigen Saurier über einen Bildschirm. Und plötzlich steht der Besucher mitten im Kampf ums Dasein in der Urzeit. Zu Urzeitblitz und Tropendonner flüchtet das lebensgroße Modell eines pflanzenfressenden Tolpatsches, eines Plateosaurus, vor ein paar Angreifern ins flache Wasser - und wird dort von einem riesigen Krokodil gerissen.
    Trotzdem ist für die meisten Besucher die reale Welt am Fuße des Kliffs spannender als die virtuelle unter Dach. So gleißend weiß, dass sie bei Sonnenschein in den Augen schmerzen, ragen die Kreidewände hoch.
    Allenthalben stößt man am Strand auf glänzend schwarzen Feuerstein, auf Formen, die an versteinerte Hörner erinnern oder die Klauen von Seeungeheuern. Ungeheuer waren es nicht, sagt Hans-Henrik Meyer. Krebse haben ihre Spuren hinterlassen.
    "Das ist der Grabgang vom Krebs. Die kleinen Krebse haben damals auf dem Meeresboden gegraben nach Essen. Und die damaligen Gänge, die sie in den weichen Boden gegraben haben, wurden dann späterhin mit Feuerstein ausgefüllt. So das ist ein Abdruck von einer Grabspur - kleine Krebse oder kleine Krabben."
    Feuerstein entstand aus Kieselschwämmen. Wie es aber genau vor sich ging, weiß niemand so richtig. Wahrscheinlich starben die Schwämme ab, verfaulten und verflüssigten sich. Dann füllten sie die Hohlräume im Kreidegrund darunter und erstarrten. Ein Seeigel-Fossil ist somit der Ausguss eines Seeigel-Gehäuses.
    Eine andere Frage aber bleibt noch offen. Schon jetzt weiß Hans Henrik Meyer nicht mehr, wohin er zuhause seine vielen Tonnen Steine packen soll. Was aber reizt einen Mann von Mitte 50, immer noch wie ein leicht hypnotisiertes Kind am Strand entlangzuschlendern und einen Korridor von 60 Zentimetern Breite gewissenhaft nach neuen Funden abzuscannen?
    "Man wird nie fertig. Wenn man Briefmarken sammelt und genug Geld hat, wird man irgendwann fertig. Für die meisten Leute ist es ein Urinstinkt, zu jagen oder zu sammeln. Und wenn man hierherkommt und man sieht, es gibt verschiedene Steine hier, dann möchte man gerne mehr haben und sammeln. Das ist ein Urinstinkt der Menschen - glaube ich."