Coronamaßnahmen

Die Risiken und Kosten werden ignoriert

04:24 Minuten
Ein Mädchen sitzt auf einer Schaukel und trägt einen Mundnasenschutz. Die beiden Schaukeln neben ihr sind leer. (Illustration)
Wenn die Politik Kindern das Gruppenspiel verbietet, nimmt sie dafür soziale Defizite bei der Jugend in Kauf, meint der Publizist Timo Rieg. © Imago / Gary Waters
Ein Kommentar von Timo Rieg · 25.03.2021
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Vereinsamung, Bildungslücken, Armut. Welchen Umfang die Nebenwirkungen der Coronamaßnahmen haben, wissen wir nicht. Dabei müssen sie beim Krisenmanagement berücksichtigt werden, meint Publizist Timo Rieg. Nur auf Kontaktverbote zu setzen, sei falsch.
"Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker." Dieser Satz gehört zu jeder Werbung für Medikamente. Denn: keine Wirkung ohne Nebenwirkungen. Und die sollte kennen, wer Medizin nehmen will.
Wenn die Medien die neusten Heilmittel der Corona-Politik bekanntmachen, hört man eine solche Warnung jedoch nie. Seit einem Jahr kein Hinweis, sich fachlichen Rat über die Risiken und Nebenwirkungen einzuholen. Stattdessen gelten vielen Bürgern die Kontaktverbote aller Art als alternativlos, nach dem Motto: Es geht doch um Leben und Tod, was sollte man da diskutieren?
Tja, man sollte über Leben und Tod diskutieren. Journalisten sollten recherchieren, mit welchen Nebenwirkungen bei welchen politischen Maßnahmen zu rechnen ist. Doch trotz Dauerberichterstattung hört man davon wenig. Vereinzelt melden sich Lobbyisten mahnend zu Wort, aber es gibt keinen Überblick zu den Tausenden Nebenwirkungen der Lockdownpolitik. Es vergingen Monate, bis wenigstens eine Oppositionspartei die Bundesregierung mal fragte, was die Pandemie-Bekämpfung wohl kosten wird.

Kein Geld für Krebsforschung

Ist es nicht verrückt, dass wir allenfalls punktuell über diese Kosten sprechen? Dabei müssen sie doch ganz erhebliche Nebenwirkungen verursachen, schließlich kann nicht nur Merkels schwäbische Hausfrau einen Euro nur einmal ausgeben. Jeder Euro, der heute in die Virusbekämpfung geht, kann nicht mehr in die Krebsforschung fließen, steht nicht für die Abmilderung katastrophaler Folgen des Klimawandels zur Verfügung – der, nebenbei bemerkt, eine gigantische Nebenwirkung unseres Wirtschaftens ist. Wer derzeit "wegen Corona" nichts verdient, kann weder alten Menschen die Rente noch Kranken die Gesundung finanzieren. Es gibt keinen Dualismus "Wirtschaft gegen Gesundheit". Ohne Geld kein Gesundheitssystem.
Wenn die Politik Besuche im Altenheim verbietet, trifft sie eine Entscheidung Leben gegen Leben: Ein verbesserter Schutz vor Corona wird mit einem höheren Risiko anderer Erkrankungen erkauft. Wer einsam in seinem Zimmer sitzen muss, wird irgendwann psychisch krank, ohne Begegnungen und frische Luft beschleunigen sich die körperlichen Abbauprozesse. Um den einen Tod zu vermeiden, rückt ein anderer näher.
Wenn die Politik Kindern das Gruppenspiel verbietet und sie mit Maskenpflicht oder Homeschooling aus dem Corona-Verkehr zieht, nimmt sie dafür soziale und immunologische Defizite bei der Jugend in Kauf. Wie groß diese Nebenwirkungen sein werden? Darüber streiten die Experten noch, weil es sich um ein bisher einmaliges Großexperiment handelt.

Coronamaßnahmen können Lebenserwartung verkürzen

Folgenlos wird es jedenfalls nicht bleiben. Unser zivilisatorischer Fortschritt hat schon in den letzten Jahrzehnten Verhaltensauffälligkeiten und Allergien zunehmen lassen. Die Coronapolitik wird das verstärken. Ob das gut, weil zwingend notwendig ist, bliebe zu diskutieren. Dazu müssten aber erstmal alle Nebenwirkungen auf den Tisch. Bildungsdefizite, Freudlosigkeit und viele andere Folgen der Covid-19-Bekämpfung können jedenfalls die Lebenserwartung verkürzen.
Wenn ein Gebäude brennt, sagt höchstens ein Laie, es sei alternativlos, dies mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu löschen. Die Feuerwehr hingegen weiß: Es kommt unter anderem darauf an, was genau da brennt. Und spätestens, wenn ein zweiter Brand gemeldet wird, muss sie Prioritäten setzen. Das Löschen hat immer auch Nebenwirkungen. Und ein striktes Kontaktverbot, das selbst Feuerwehren das Üben verbietet, sicherlich auch.

Nebenwirkungen des Krisenmanagements abschätzen

Wie steht es um die Nebenwirkungen der Coronabekämpfung? Da die Politik bisher keinen Beipackzettel liefert, sollten wir dringend Experten fragen. Und dabei nicht nur an unseren "Arzt oder Apotheker" aus der Werbung denken, sondern auch an Kindergärtnerinnen und Altenpfleger, Ökonomen und Lehrer, an Fachleute aus den Sozialwissenschaften, der Demokratieforschung.
Auch nach einem Jahr Daueralarm kann ich die Nebenwirkungen des Krisenmanagements nicht abschätzen. Die Brandherde werden jedenfalls mehr statt weniger, und was da im Einzelnen genau brennt, kann ich nur mutmaßen.

Timo Rieg, Jahrgang 1970, hat in Bochum Biologie und in Dortmund Journalistik studiert. Seit über 25 Jahren beschäftigt er sich mit politischer Partizipation. So hat er ein auf Auslosung beruhendes Verfahren für die Mitbestimmung Jugendlicher entwickelt und erprobt (Youth Citizens Jury). Sein erstes Buch von 1993 trägt den Titel "Artgerechte Jugendhaltung", sein aktuelles heißt "Demokratie für Deutschland". Er hat unter anderem Kurt Tucholskys "Deutschland, Deutschland über alles" neu herausgegeben, in dem es auch schon um Absurditäten des städtischen Autoverkehrs geht.

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