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"Daher kommt auch die ganze Aversion gegen unsere muslimischen Mitbürger"

Kardinal Joachim Meisner macht die fehlende Religionsfreiheit in der islamischen Welt für die Abneigung gegen Muslime in Deutschland mitverantwortlich. Der Kölner Erzbischof verwies unter anderem auf die Situation in der Türkei.

Joachim Kardinal Meisner im Gespräch mit Jürgen Liminski | 20.12.2009
    Jürgen Liminski: Eminenz, zu Weihnachten ist Familie wieder gefragt und aktuell. Nun stellt sich die Politik schon seit Langem die Frage: Was ist eigentlich eine Familie? Ethnologen kennen etwa hundert Definitionen von Familie. Frage an Sie: Was ist eine christliche Familie?
    Joachim Kardinal Meisner: Da brauchen Sie nur an die Heilige Schrift denken, das älteste und wirksamste Buch in der europäischen Zivilisation. Die Familie ist Vater, Mutter, Kinder. Und zwar entspricht das gleich auch dem trinitarischen Gott, Gott hat uns ja als seine Ebenbilder erschaffen, und Gott ist trinitarisch. Ich kenne eine berühmte Ikone, die zeigt oben am Bildrand – am oberen – Gottvater, darunter die Geisttaube und da drunter den Jesusknaben.

    Und da steht dahinter "Sanctissima trinitas increatae" – die ungeschaffene Dreifaltigkeit. Und unten stehen neben dem Jesuskind Maria und Josef, und auf dieser horizontalen Linie steht "Sanctissima trinitas creatae" – die geschaffene Dreifaltigkeit. Und darum hat die Familie auch immer eine religiöse Dimension, und an der Familie darf sich niemand vergreifen, die ist heilig, weil sie ganz dem trinitarischen Bild Gottes entspricht.
    Liminski: Das Bild, das Sie von Familie, jedenfalls der normalen natürlichen, nicht der heiligen Familie entwerfen, also Vater, Mutter, Kind oder auch Kinder, entspricht zwar der großen Mehrheit der Deutschen, so sagt es der Mikrozensus. Aber Politik und Medien haben offenbar ein anderes Familienbild als die Mehrheit der Bevölkerung. Warum machen sich die Kirchen nicht zum Anwalt der Familie gegenüber dem politisch medialen Establishment und damit zum Anwalt der Mehrheit?
    Meisner: Das tun wir permanent, wir reden und predigen dauernd darüber, nur nimmt man das gar nicht mehr zur Kenntnis. Und das ist unser Handikap. Wenn man Selbstverständlichkeiten verkündet, das nehmen Politiker oder Medien kaum noch zur Kenntnis. Aber ich bin sehr dankbar, dass die normalen Bürger unseres Landes davon Kenntnis nehmen und davon leben, indem wir ja noch zum großen Teil wissen, was eine Familie ist und dass wir auch noch Familien haben.
    Liminski: Ist denn das christliche Element in der Familienpolitik ganz allgemein, bei der CDU im besonderen, abhanden gekommen?
    Meisner: Das kann ich nicht so beurteilen. Auf jeden Fall kann ein christlicher Politiker nichts anderes als Idealbild haben, was ich gerade gesagt habe. Er wird natürlich auch mit den anderen Realitäten rechnen müssen, aber der Zielpunkt muss immer sein: Eigentlich ist die ideale Familie Vater, Mutter, Kinder. Was darunter liegt, da kann man nicht sagen jetzt "nach uns die Sintflut", sondern auch Politiker – christliche Politiker – müssen sich darum mühen, aber ideal muss immer sein Vater, Mutter, Kinder.
    Liminski: Sie haben gelegentlich angemahnt, die "C"-Parteien sollten sich mehr an das C erinnern oder es aus ihrem Namen löschen. Nun hat es bei der letzten Bundestagswahl einen Aderlass bei der katholischen Stammwählerschaft der CDU gegeben, und hier und da ist ja auch Unruhe in der Partei zu spüren. Ist eine christliche Partei heute überhaupt noch mehrheitsfähig?
    Meisner: Ich meine schon, und zwar, wenn sie versuchte, privat und offiziell nach den Maximen des Evangeliums zu leben. Und dass wir auch immer schwache Menschen sind, das weiß ein Bischof genau so wie auch ein Politiker. Aber wir müssen uns immer nach dem ausstrecken, was uns im Evangelium vorgegeben ist, und zwar nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch in der persönlichen Praxis. Schauen Sie mal, ich erlebe das immer wieder: Die jungen Menschen brauchen Vorbilder, das heißt, wo man ablesen kann, wie Politiker mit ihrem Privatleben umgehen, wie sie mit ihrer Familie leben - und dann natürlich auch die großen politischen Aktivitäten, die sie dann ausüben. Wenn das Christen und eine christliche Partei versuchen zu praktizieren, dann bekommt sie auch wieder Rückhalt, namentlich auch unter gläubigen Menschen. Und sie wird auch wieder mehrheitsfähiger werden als vielleicht bis jetzt.
    Liminski: Fehlt es denn an Vorbildern, mangelt es an Bekennermut in der Politik?
    Meisner: Also, das würde ich schon sagen. Aber nicht nur in der Politik, auch in der Kirche. Hier würde ich mir manchmal auch bei Bischöfen und auch bei manchen Priestern ein offeneres Wort der Kritik wünschen, aber immer in dem Bewusstsein: Wer stehe, sehe zu, dass er nicht falle. Wenn ich da denke – die Gründungsväter und –mütter von Europa. Das sind Menschen, an denen man Maß nimmt. Oder – was hat mir schon als Priester der Kardinal Woytila bedeutet, oder mein Heimatbischof Aufderbeck. Oder was hat mir meine arme Mutter bedeutet, die uns vier Jungens ohne Vater nach dem Krieg durchbringen musste? Das prägt mich bis heute, von diesem Kapital lebe ich bis heute. Ich will über gegenwärtige Leute nichts sagen, aber ich suche weitgehend solche Typen bis jetzt vergeblich.
    Liminski: Das Jahr 2009 markiert eine Wende im Verhältnis der Deutschen zum Papst. Hat sich dieses Verhältnis nachhaltig verändert?
    Meisner: Ich kann das nicht ganz beurteilen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, als ich vom Konklave zurückkam – es war ein großer Gottesdienst im Kölner Dom, ich glaube, mit 800 Sängerinnen und Sängern. Die haben die Krönungsmesse von Mozart gesungen, weil ich ja den Papst immer definiert habe: Er ist der theologische Mozart, seine Theologie ist so klar und so schön, weil sie so überzeugend ist. Und dann habe ich gesagt: Ich kann mich noch gut erinnern, als Johannes Paul II. zum Papst gewählt worden ist. Bei der Abschiedsaudienz in der Audienzhalle in Rom: Vor den polnischen Pilgern hat der polnische Primas gesagt: "Heiliger Vater, wenn wir jetzt nach Hause kommen, dann werden wir niederknien und Löcher in die Steine beten für Dich, dass Du Dein schweres Amt mit der Gnade Gottes hier zum Heile der Menschen vollziehen kannst."

    Und dann habe ich gesagt bei dieser Predigt: Wird sich der Papst, der aus Deutschland kommt, auf uns deutsche Christen in der gleichen Weise verlassen können? Da sind alle Besucher des Domes – es waren ein paar tausend Menschen – aufgesprungen und haben Beifall gespendet. Da dachte ich: Gott sei Dank. Und ich muss sagen, wenn ich in Rom bin – das geschieht oft, da fragen mich die Kardinäle aus aller Welt: Was ist denn mit Euch Deutschen los? Ich muss die Erfahrung machen: Der Papst wird hoch geachtet und geliebt in aller Welt. Und in Deutschland? Ich schäme mich oft. Ich kann oft gar nichts entgegnen, aber ich habe den Verdacht – ich habe den berechtigten Verdacht –: Die Kreise, die ihm widersprochen haben als Theologieprofessor und später als Präfekt, die sind nach einigen Jahren, in denen sie sich nicht getraut haben, hervorgekommen, und seit diesem Jahr schlagen die auf den Papst ein, dass man sich als Deutscher wirklich schämen muss.
    Liminski: Ist das nur eine Gruppe, stellen Sie einen Unterschied fest zwischen der Bevölkerung – die, die im Dom so zusagen Applaus für Sie geklatscht haben – und einer Gruppe, meinetwegen in der Politik oder in den Medien . . .
    Meisner: . . . das glaube ich schon, dass die Sympathie des Papstes unter dem Volke Gottes noch groß ist. Nur – die äußern sich zu wenig. Ich habe immer gesagt: Mein Gott, schreibt Leserbriefe, äußert Euch dazu. Denn das ist ein Kriterium, wo Sie es ablesen können: Die Pilgerzahlen aus Deutschland, die sind so angewachsen seit dem Johannes Paul II gestorben ist und wir jetzt Benedikt XVI als Papst haben. Man sagt immer – das mag ich nicht so ganz, ich hab das nicht so gerne, aber ich geb’s mal wieder –, die sagen: "Zu Johannes Paul II ist man gekommen, um ihn zu sehen. Zu Benedikt XVI kommt man, um ihn zu hören." Vielleicht steckt etwas Wahres drin, ich habe Johannes Paul II auch sehr, sehr gern gehört, und ich sehe den jetzigen Papst auch gerne und höre ihn nicht nur gerne.
    Liminski: Ist das Christliche in der Politik insgesamt verdunstet, korrespondiert damit eine erhöhte Angstbereitschaft – etwa vor dem Islam? In den Feuilletons wird seit Wochen über das Minerettverbot der Schweizer und über das Kreuzurteil von Straßburg debattiert.
    Meisner: Also, ich will mal Folgendes versuchen, zu diesem großen Komplex zu sagen. Ich habe keine Angst vor der Stärke des Islam, sondern vor der Schwäche der Christen. Und überlegen Sie einmal: Wir haben in muslimischen Ländern als Christen keine Möglichkeiten, uns zu entfalten. Vor fünf Jahren ist eine Kirche gebaut worden in Katar. Katar, dieses Emirat, hat 900.000 Einwohner und hat 100.000 christliche Gastarbeiter. Und da konnte man endlich eine Kirche bauen vor fünf Jahren, aber per Gesetz ohne Turm, ohne Glocke, ohne Kreuz. Ich sage jetzt nicht, wir müssen das in Deutschland genau so machen, ich stehe ganz hinter unserer Religionsfreiheit, und da haben auch die Muslime ein Recht, ihre Religion zu leben bis hin zum Moscheenbau. Aber wenn gleichzeitig in Europa verboten wird oder geboten wird, dass wir die Kreuze abnehmen – Europäischer Gerichtshof –, und ein deutsches Gericht verfügt, dass in einer deutschen Schule ein Zimmer für muslimische Schüler zum Gebet freigemacht werden muss, dann ist das so eine Asymmetrie, dass die Leute sagen, hier stimmt doch was nicht.

    Ich sage noch einmal: Wenn eine Abstimmung wie in der Schweiz in Deutschland wäre, ich glaube nicht, dass die hier viel anders ausfiele. Und das müssen die Politiker ins Kalkül ziehen. Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Ich bin froh, dass wir hier Religionsfreiheit haben und dass die Muslime ein Recht haben, hier eine große Moschee zu bauen. Aber gucken Sie mal: Ich kämpfe seit über zwei Jahren, dass wir die Pauluskirche in Tharsus zur Verfügung gestellt bekommen, und zwar permanent als christliches Gotteshaus, nicht nur für uns Katholiken, sondern für alle Christen. Es ist ein Kampf, der vergeblich ist. Und da fragt man sich vom Gefühl her: Da stimmt etwas nicht. Und daher kommt auch so die ganze Aversion gegen unsere muslimischen Mitbürger. Hier hätte auch meines Erachtens unsere Regierung die Pflicht, auf die gerade genannten Desiderata zu achten.
    Liminski: Einer der Gründungsväter der europäischen Gemeinschaft, Robert Schumann, hat einmal gesagt: "Der europäische Geist muss der politischen und wirtschaftlichen Einigung vorausgehen. Dieser christliche Geist ist das Fundament und das Lebenselement von Europa." Zitat Ende. Wo, Herr Kardinal, ist denn die christliche Seele Europas geblieben?
    Meisner: Frage ich mich auch. Ich will es mal so sagen. Der Apostel Paulus sagt, unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Die Verborgenheit ist zunächst einmal der Ort der Präsenz Christi und Gottes in dieser Welt. Der Herr sagt, das Reich Gottes gleicht einem Schatz, der im Acker verborgen ist. Das heißt, das Positive in Europa und in der Welt, das nimmt man kaum zur Kenntnis, aber immer das Negative. Das Negative, die Sünde, ist immer eine Abqualifizierung am Positiven. Das ist, glaube ich, wichtig. Und noch mal, für den europäischen Geist, den finde ich so zusammengefasst in der weihnachtlichen Botschaft "Ehre sei Gott in der Höhe", und als Konsequenz dazu wird uns dann das geschenkt, was die Bibel Friede nennt, das heißt ein positives Zusammenleben der Menschen mit der Möglichkeit der Kreativität, einer guten Fortentwicklung von Wissenschaft und Kultur, aber sie darf nicht von ihrer Quelle, von Gott losgelöst werden.

    Sehen Sie mal, wenn Sie den Rhein von seiner Quelle trennen, dann läuft das Wasser ab und es bleibt nur Schlick und Dreck übrig. Und das passiert uns auch in der europäischen Kultur, wenn wir uns vom Ursprung, von der Quelle Europas lösen. Und das ist der lebendige Gott. "Ich bin der Herr, dein Gott", so beginnen die zehn Gebote und die weihnachtliche Botschaft formuliert zuerst die Ehre Gottes und dann Friede und Wohlergehen den Menschen auf Erden.
    Liminski: Das Kreuzurteil, Herr Kardinal, stammt vom Gerichtshof für Menschenrechte. Das ist eine genuin europäische Einrichtung. Können wir Europäer weltweit die Menschenrechte einfordern ohne die Bereitschaft, einen Preis dafür zu bezahlen? Ich denke da konkret an Afghanistan.
    Meisner: Wir sprechen von einer Globalisierung. Unser Land ist nicht nur in der europäischen Gemeinschaft zu Hause, sondern Europa ist ein wichtiger Erdteil, nicht nur geografisch sondern auch kulturell-politisch und wir tragen auch Verantwortung mit für das Gesamtwohlergehen der Weltgemeinschaft. Das kostet auch Opfer, und zwar im weitesten Sinne materielle Opfer. Das verlangt unsere Solidarität und wenn das nicht nur Blabla sein soll, muss es auch zur Tat werden. Sie merken es ja am ehesten jetzt bei der Sorge um eine Verschlechterung des Klimas. Hier kann sich niemand ausklinken. Hier ist jeder ein aktiver Mitbürger der Völkerfamilie und das ist auch im Politischen so. Deswegen diese sehr schwierige Frage mit Afghanistan. Unsere Politiker haben das ja unter den Augen unseres Parlamentes entschieden, dass wir dort präsent sein müssen, selbst durch die Bundeswehr. Welche schwierigen Konsequenzen das haben kann erleben wir jetzt gerade.
    Liminski: Hat Deutschland eine Verantwortung in der Welt, oder – um es noch konkreter zu sagen – muss man für diese Verantwortung manchmal auch einen sogenannten gerechten Krieg in Kauf nehmen?
    Meisner: Sie wissen ja, die Frage mit dem gerechten Krieg, die sollten wir gar nicht mehr ventilieren. Man sagt, Krieg ist nie etwas Gutes. Und mit gerechtem Krieg – ich weiß, dass das in der Geschichte, auch in der christlichen Tradition, immer eine Rolle gespielt hat. Ich werde nur sagen müssen, zum Beispiel wenn wir überfallen werden, dann werden wir uns nicht ducken dürfen, dann müssen wir uns zur Wehr setzen. Und die Politik hat die Aufgabe, dass solche Überfälle nicht mehr stattfinden. Wir brauchen ja wirklich eine große Weltpolitik wie das der Heilige Vater in seinen Schriften und in seinen Reden immer wieder anmahnt. Die UNO ist ja ein verheißungsvoller Anfang, aber das muss weiter entwickelt werden.
    Liminski: Dieses Land steckt ohne Zweifel in einer tiefen Krise, wirtschaftlich und auch geistig. Es ist vielleicht nicht besonders liebenswürdig aber dafür umso ehrlicher, auch vor Weihnachten darauf hinzuweisen, denn Weihnachten ist ja auch ein Hochfest des Konsums. Und beim Binnenkonsum hapert es ja in Deutschland. Mehr Konsum wäre für die Wirtschaft gut, aber für die Besinnung auf das Fest steht das wahrscheinlich nicht. Lebt dieses Land, Herr Kardinal, unter seinen geistigen Verhältnissen? Könnten die Debatten hierzulande geistvoller, wertekräftiger sein?
    Meisner: Ja, da wird man aber grundsätzlich sagen, das kann nie gut genug sein. Hier wird man immer wieder vom Status quo auf das Bessere gehen müssen, aber auch gerade jetzt in der schweren Situation, in der wir uns befinden, dass weitgehend das Vertrauen abhanden gekommen ist, gerade in die Institutionen, denen man sein Hab und Gut anvertrauen konnte, nämlich den Banken. Da ist ein großes Vakuum entstanden, das muss so schnell wie möglich wieder ersetzt werden. Auf der anderen Seite ist es auch für die Menschen ein Hinweis: Letzte Sicherheiten gibt es in dieser Welt nicht. Aber wir müssen das Mögliche tun und unser Glück eben nicht davon abhängig machen. Unser Glück, das sage ich ganz persönlich, das ist mein Bekenntnis, mein Glück hängt nicht ab von meinem Kontostand, sondern von meiner Freude an Gott, von dem ich mich getragen und geliebt weiß.
    Liminski: Vermissen Sie einen gepflegten Streit um die letzten Dinge in diesem Land, aktive Sterbehilfe zum Beispiel?
    Meisner: Das möchte ich schon so sagen. Das heißt, ich bin zunächst einmal traurig, dass es darüber überhaupt einen Streit gibt. Da sollte man einen völligen Konsens haben, nämlich der Mensch hat sich nicht selbst verursacht, der Mensch hat sich nicht selbst ins Dasein gesetzt und er kann sich auch nicht selbst aus dem Dasein verabschieden, sondern der Mensch ist immer auf andere verwiesen, auf die Eltern, auf die Voreltern und letztlich auf Gott. Und er bleibt in Gottes Hand, selbst wenn er auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Das ist ja ein kleines Kind auch, das ist auf die Sorge der Eltern angewiesen. Der Mensch ist autonom sein ganzes Leben nicht. Wir sind so abhängig voneinander. Dass ich Elektrizität habe, das verdanke ich den Menschen, die in Elektrizitätswerken arbeiten. So kann ich das ganze Leben durchbuchstabieren. Und man wird, gerade was das Ende des Lebens belangt, besonders aufmerksam sein müssen aufgrund unserer medizinischen Möglichkeiten, dass man zu gegebener Zeit einen Menschen auch in Frieden sterben lässt.

    Hier geht es nicht um die aktive Sterbehilfe, sondern, wie man das so sagt, die passive Sterbehilfe, dass man ein Leben, das wirklich kurz vor der Ewigkeit steht, nicht durch medizinische Mittel noch lange hinauszögert, wo praktisch am Ende keine Besserung eintritt, sondern nur der Todeskampf verlängert wird, dann sollte man einen Menschen ruhig sterben lassen. Was das für eine schwierige Frage ist, gerade für die Verantwortlichen, für die Ärzte, das weiß ich sehr wohl. Und ich bin froh, dass wir in unseren Krankenhäusern Ärztekommissionen haben, wo auch Theologen dabei sind und wo man sehr minutiös und sehr gründlich prüft, ob man jetzt die Beatmung abstellen kann. Das ist eine sehr komplexe Frage, aber die ist aller Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wert und hier ist die menschliche Solidarität und die menschliche Hilfe gerade diesem Sterbenden gegenüber ein Gebot der Stunde in einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft ist nach den Maßstäben zu bemessen, wie sie ihre Kinder, von den Ungeborenen bis zu den Sterbenden, umsorgt und für sie eintritt.
    Liminski: Wenn Sie einen Wunsch zu Weihnachten frei hätten, wie sähe der aus?
    Meisner: Dass die Menschen, meine Nachbarn, und ich selber mehr Vertrauen auf den Beistand Gottes setzen als auf mich selbst. Oder anders ausgedrückt: Ich wünsche eine große Portion Hoffnung. Und diese Hoffnung besagt, dass ich darum weiß, dass in mir mehr Kraft und Energie steckt, als ich gerade im Augenblick erfahren kann. Das heißt, ich kann immer einen Schritt weiter gehen, als eigentlich meine Kraft ausreicht, denn ich weiß, dieser Schritt ins Ungewisse, dafür sind die Möglichkeiten Gottes präsent. Also, ich wünsche uns in Deutschland und in Europa eine Stärkung der Hoffnung.
    Liminski: Nun gibt es sicher auch unter unseren Hörern eine erkleckliche Anzahl von Menschen, die nicht glauben oder ihren Glauben jedenfalls nicht praktizieren und dazu natürlich auch die Freiheit haben. Was sagen Sie diesen Menschen zu Weihnachten?
    Meisner: Denen würde ich genau das Gleiche sagen. Sehen Sie mal, ich erzähle das so oft: Ich habe als Patient damals noch in der DDR längere Zeit in einem Krankenhaus liegen müssen, über ein halbes Jahr, und mein Zimmerkollege, der war, wie er mir sagte, ein Atheist und fragte mich immer: "Warum glaubst du denn? Du bist doch eigentlich ein ganz normaler Typ, dass du einer so überholten Weltanschauung anhängst?" Und da habe ich gedacht, ich werde ihm mal zwei Fragen stellen. Vielleicht geben ihm die eine Antwort. Möchtest du ungeliebt sein? Glaubst du, dass ein Mensch den Satz über die Lippen bringt, ich möchte niemand haben, der mich liebt. Ich habe es jetzt noch im Ohr, da stöhnte der und sagte: "Das wäre ja die Hölle". Ja, wo weiß denn ein Atheist ohne Religionsunterricht, woher kennt denn der die präzise theologische Definition, was die Hölle ist: Ich habe niemanden, der mich liebt. Das heißt, in jedem Menschen, weil er ja Abbild Gottes ist, steckt diese Sehnsucht, dieses ‚Gott fühlen’ drin.

    Und ich denke, dass auch unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger oder unsere Mitschwestern und Mitbrüder, die sich zu keinem Glauben bekennen, dass die auch Gott nahe sind. Und darum verstehen die vielleicht auch, wenn ich ihnen wünsche für ein gesegnetes Weihnachtsfest, viel Glaube, Hoffnung, und Liebe.
    Liminski: Besten Dank für das Gespräch, Herr Kardinal.