Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

EU-Flüchtlingspolitik
"Mit heißer Nadel gestrickt"

Es sei kein großer Schritt nach vorne, was die Europäische Kommission gestern als Maßnahmenpaket zur Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer vorgelegt habe. Das sagte der Migrationsforscher Steffen Angenendt im Deutschlandfunk. Die geplanten Quotenregelungen zur Verteilung von Flüchtlingen seien völlig unzureichend.

Steffen Angenendt im Gespräch mit Michael Köhler | 14.05.2015
    Gerettet Flüchtlinge im Mittelmeer
    Mehr als 200 Flüchtlinge werden am 23. April 2015 vor der italienischen Küste aus dem Mittelmeer gerettet. (picture alliance / dpa / Foto: Alessandro Di Meo)
    Der Wissenschaftler von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin führte aus, wenn EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vom jüngsten EU-Gipfeltreffen zur Flüchtlingspolitik enttäuscht gewesen sei, "dann müsste er jetzt von seiner eigenen Kommissionsmitteilung genauso enttäuscht sein." Angenendt macht das vor allem daran fest, dass die geplanten Quotenregelungen freiwillig seien und sich auf Flüchtlinge bezögen, die sich bereits in Europa befänden: "Das wird nicht das Problem der gefährlichen Überfahrten über das Mittelmeer lösen, weil die Menschen ja schon da sind."
    Laut Kommissionsmitteilung sei die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten zunächst freiwillig, sagte der Migrationsforscher. Wenn das nicht funktioniere, dann werde die EU-Kommission in einem zweiten Schritt verbindliche rechtliche Regeln erlassen. "Aber das steht alles in weiter Ferne." Insgesamt sei die Mitteilung mit "so heißer Nadel gestrickt, dass es über das Übliche nicht hinaus kommt." Die Rhetorik sei gut, die Analyse prima, aber die Lösungsansätze griffen viel zu kurz.
    Die EU-Kommission hatte gestern ein Quotensystem zur Verteilung von Flüchtlingen vorgeschlagen. Es sieht unter anderem vor, dass die Mitglieder der Europäischen Union in den kommenden zwei Jahren insgesamt 20.000 Migranten aufnehmen. Deutschland soll mit rund 18 Prozent den meisten Flüchtlingen Schutz gewähren. Die Quote richtet sich nach der Wirtschaftskraft und der Bevölkerungszahl eines Landes. Staaten wie Großbritannien oder Dänemark, die das Quotensystem ablehnen, müssen der EU-Regel nicht folgen.

    Das Interview in voller Länge:
    Michael Köhler: Mit UN-Mandaten - und damit kommen wir zu unserem nächsten Gespräch -, mit UN-Mandaten gegen Schlepperbanden im Mittelmeer bewältigt man keine EU-Asyl- und -Flüchtungsproblematik. Wie verteilt man die Lasten und letztlich die Flüchtlinge? Das ist die große Frage gegenwärtig. Die Kommunen und der Städtetag hatten sich ja beschwert, nicht gefragt zu werden. Alles nur eine Frage der Quote? Über die Vorstellung des Aktionsplans zur Flüchtlingskrise durch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker habe ich mit Steffen Angenendt gesprochen. Er ist Migrationsforscher an der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Der Gipfel hat mich enttäuscht", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kürzlich zum Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs. Steffen Angenendt, wie schätzen Sie diese Vorschläge jetzt ein?
    Steffen Angenendt: Also ich würde sagen, wenn Juncker von dem Gipfel enttäuscht war, müsste er jetzt eben von seiner eigenen Kommissionsmitteilung genauso enttäuscht sein, die ist nämlich, soweit man das bis jetzt erkennen kann, auch kein großer Schritt nach vorne. Die Kommission schlägt zwar in dem Entwurf ein Quotensystem vor für die Aufnahme von Flüchtlingen, aber das bezieht sich zum einen eben auf Flüchtlinge, die schon in der EU sind - das heißt dann auf Englisch Relocation, also quasi Umsiedlung -, dafür soll ein Quotensystem in Anwendung kommen. Das wird sicherlich nicht das Problem der gefährlichen Überfahrten übers Mittelmeer lösen, weil die Menschen ja schon da sind. Und der zweite Vorschlag, den er macht, auf das ein Quotensystem angewendet werden soll, ist das sogenannte Resettlement, also die Übernahme von Flüchtlingen, die bereits zum Beispiel vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen anerkannt worden sind und die schutzbedürftig sind, dass für die eine EU-Quote festgelegt wird und dann die Menschen eben anhand eines Quotensystems verteilt werden.
    Aber auch der Vorschlag ist - jedenfalls nach der Kommissionsmitteilung, so wie ich den bisherigen Entwurf kenne - zunächst nur eine freiwillige Sache, das ist keine verpflichtende Sache. Und erst im zweiten Schritt, wenn das nicht funktioniert, droht die Kommission so ein bisschen, dann würde es eben verbindliche rechtliche Regelungen geben. Aber das steht alles in weiter Ferne. Insgesamt ist diese Mitteilung der Kommission, die ja eigentlich den großen Wurf darstellen soll, mit so heißer Nadel gestrickt, dass das über das Übliche nicht hinauskommt. Die Rhetorik ist gut, also die Analyse ist prima, die da drinsteht, es stimmt auch alles, aber die Lösungsansätze, die greifen viel zu kurz.
    Köhler: Lassen Sie uns doch mal versuchen, a) auf ein paar Probleme hinzuweisen und b) vielleicht ein paar Lösungen zu skizzieren. Selbst bei flüchtiger Beschäftigung mit dem Thema stellt man schnell fest, dass ein Drittel aller Anträge beispielsweise von der Bundesrepublik erfüllt wird oder beantwortet wird. Etwas einfacher gesagt: 20.000 Flüchtlinge etwa gehen ins Vereinigte Königreich, über 200.000 kommen nach Deutschland - da gibt es in Ungleichgewicht in der EU. Das ist das eine. Dann gibt es Widerstände und Hemmnisse bei den osteuropäischen Nachbarn, das ist das andere. Und dann gibt es noch ein zunehmendes Ressentiment. Wie kann man das lösen, was denken Sie?
    "Gegen den Geist einer europäischen Asylpolitik"
    Angenendt: Also zunächst muss man sehen - das stimmt natürlich -, nur wenige EU-Staaten, also fünf Staaten haben 72 Prozent der Flüchtlinge aufgenommen in den letzten zwei Jahren, das ...
    Köhler: Wir sind aber 28 in der EU.
    Angenendt: Eben. Und das ist natürlich gegen den Geist einer europäischen Asylpolitik. Dieser Zustand geht einfach nicht, den kann man auch nicht verlängern beliebig, da muss was geschehen. Aber man muss nach den Ursachen fragen, warum das so ist. Und wenn man sich anguckt, wie das geregelt ist, also welcher Staat welche Flüchtlinge aufnehmen muss, dann stellt man fest, diese Regelung, die beruht auf dem sogenannten Dubliner Übereinkommen. Die legt einfach fest, dass der Staat, in dem der Flüchtling zum ersten Mal EU-Boden betreten hat, eben für das Asylverfahren zuständig ist.
    "Wir brauchen unbedingt gleiche Standards"
    Köhler: Da sagt die Kanzlerin ja, Dublin II ist eigentlich wirkungslos heute.
    Angenendt: Ja, man muss da ein bisschen vorsichtig sein. In der Dublin-Regulierung sind natürlich noch ein paar andere Aspekte drin, es geht nicht nur um die Flüchtlingsaufnahme, die Frage, wer dafür zuständig ist, sondern da sind auch noch Rechtswegegarantien. Das ist ein ganzes Rechtsbündel, und da sind auch vernünftige Sachen bei. Aber dieses Prinzip, die Frage, wie wird denn eigentlich festgelegt, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist, die funktioniert nicht. Und die funktioniert deshalb nicht, weil die Staaten, die an den Außengrenzen liegen - und über die müssen die Menschen dann zwangsläufig in die EU kommen -, diese Regelung für unfair halten und die eben unterlaufen. Und die unterlaufen die, indem sie zum Beispiel Flüchtlinge einfach weiterreisen lassen, in das Land, in das sie dann wollen, also beispielsweise Deutschland oder Schweden oder wohin auch immer. Das ist der eine Punkt, und der andere ist, dass die sich auch nicht drum kümmern, vernünftige Standards in den Asylverfahren für die Unterbringung der Flüchtlinge, für die Versorgung der Flüchtlinge einzurichten. Und in beiden Fällen ...
    Köhler: Also Sie sprechen sich für EU-Standards in der Asylpolitik aus, höre ich das da richtig raus?
    Angenendt: Absolut. Wir brauchen unbedingt gleiche Standards. Die gibt es ja theoretisch auch, und die sind im Recht festgelegt. Also es gibt ja Richtlinien, EU-Richtlinien, die genau festlegen, wie mit Flüchtlingen umgegangen werden soll, die sind bindendes nationales Recht.
    Köhler: Aber wie erklären Sie das den Briten und den Rumänen?
    Angenendt: Man muss an die Ursachen gehen. Deshalb hab ich gesagt, man muss angucken, wie die Verteilung stattfindet. Und da die offensichtlich ungerecht ist oder als unfair empfunden wird, muss man über faire Lösungen nachdenken. Und deshalb habe ich mit Kollegen vom Sachverständigenrat der Deutschen Stiftung ein Quotenmodell entwickelt, was eben in diese Richtung geht, in eine faire Verteilung.
    Köhler: Lassen Sie uns noch einen Aspekt erwähnen. Wir gucken immer so mit der Nabelschau auf Europa oder von Europa aus oder Zentraleuropa aus - die Lösung des Flüchtlingsproblems hat ja auch Auswirkungen auf die Herkunftsländer oder anders gesagt auch auf die Nachbarstaaten, das sollte man nicht unterschätzen. Wie sehen Sie diese Wirkung, ist da eine deeskalierende Wirkung, also dass die syrischen Flüchtlinge nicht mehr in die Türkei fliehen müssen, dass da eine Entlastung stattfindet - wie schätzen Sie das ein?
    Angenendt: Ich glaube, wir müssen vor allem zwei Sachen machen. Sie haben völlig recht, neben der Nabelschau müssen wir gucken, was in den Nachbarregionen passiert, und wir müssen zwei Sachen machen: Einmal müssen wir die nordafrikanischen Staaten zum Beispiel, also die Nachbarregionen, dabei unterstützen, eben selbst Asyl- und Migrationssysteme aufzubauen. Das ist oft nur ganz rudimentär entwickelt. Marokko macht jetzt voran und versucht ein entsprechendes System aufzubauen. Das ist auch gut so und dafür brauchen die auch Unterstützung, Know-how und so weiter. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass die Staaten, die schon viele Flüchtlinge aufgenommen haben, also natürlich Libanon, Jordanien, die Türkei, aber eben auch in Nordafrika einige Länder, dass die dabei unterstützt werden. Weil wenn das nicht passiert, dann droht da auch eine weitere Destabilisierung, es wird zu weiteren Wanderungen von da in die EU kommen und so weiter.
    Die haben solche immensen Zahlen von Flüchtlingen aufgenommen. Stellen Sie sich mal vor, Deutschland hätte jetzt innerhalb von zwei Jahren 20 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, das ist ungefähr das, was Jordanien, Libanon aufgenommen haben - klaglos, aber die brauchen natürlich Unterstützung. Deshalb gehört zu einer guten Asylpolitik, einer guten Flüchtlingspolitik eben dazu, sich um diese außenpolitischen und entwicklungspolitischen Fragen genauso zu kümmern wie um die Frage, was passiert eigentlich an unseren eigenen Außengrenzen.
    "Kommissionsmitteilung ist wirklich ärmlich in den praktischen Konsequenzen"
    Köhler: Sie haben jetzt schon einiges skizziert, insgesamt höre ich raus, sind Sie über den gegenwärtigen Stand noch nicht glücklich, da ist noch Luft nach oben?
    Angenendt: Noch nicht glücklich finde ich untertrieben. Ich finde, die Kommissionsmitteilung ist wirklich ärmlich in den praktischen Konsequenzen - nicht in der Analyse, das stimmt alles, was da drinsteht, ist auch gut beschrieben, aber in der Umsetzung hapert es, und da muss dringend was gemacht werden. Und ich glaube, die schlechte Qualität hat was damit zu tun, dass das jetzt mit heißer Nadel gestrickt worden ist. Der Handlungsdruck ist immens, die Medien machen richtig Druck, dass irgendwas passiert, dass dieses Massensterben da im Mittelmeer nicht weitergeht, und das treibt natürlich die Politiker, die Europapolitiker voran oder an, und deshalb ist das alles ein bisschen mit heißer Nadel gestrickt. Das ist noch nicht der große Wurf, aber wir müssen in diese Richtung weitermachen, es gibt keine Alternative dazu, zu einer europäischen Politik.
    Köhler: Sagt Steffen Angenendt, Migrationsforscher von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.