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Damals waren wir anders und besser

Rote Tradition verpflichtet. Deshalb hat Ursula Rolshausen gemeinsam mit ihrem Mann die Geschichte des SPD-Ortsvereins Salzböden aufgeschrieben. Am Wohnzimmertisch blättert sie die broschierte Chronik mit knallrotem Umschlag auf.

Von Anke Petermann | 17.12.2009
    "Dann noch mal die Gründungsmitglieder einzeln aufgeführt, ein bisschen mit dem Lebenslauf, je nachdem mal größer mal kleiner ..."

    Größer natürlich der Lebenslauf ihres Großvaters Ludwig Bodenbender, einer der "Verfassungsväter" der jungen Bundesrepublik. Für den Salzbödener SPD-Nachwuchs ist einer wie Bodenbender inzwischen zur Identifikationsfigur avanciert. Norman Speier zählt zweifelsfrei zum Nachwuchs der alternden Partei, selbst wenn er die 30 hinter sich gelassen hat. Über Ludwig Bodenbender erzählt er:

    "Er war Mitglied des Parlamentarischen Rates, das heißt, einer von 65, die 1949 das Grundgesetz erarbeitet haben und auch verabschiedet haben. Ein Salzbödener, der am Grundgesetz mitgemacht hat, das heißt, der Grundlage dessen, wo wir jetzt als Bundesbürger unsere Leitlinien hernehmen, das halte ich schon für historisch bedeutsam."

    Was vielen Salzbödener Genossen bis zum Jubiläum samt historischer Aufarbeitung gar nicht so bewusst war. Doch nun drängen sie darauf, den kleinen Dorfplatz in Ludwig-Bodenbender-Platz umzubenennen. Das dürfte im Stadtparlament von Lollar mehrheitsfähig sein, denn auf diesen aufrechten Vor- und Nachkriegs-Bürgermeister, den die Nazis ächteten und absetzten, ist man in der Region stolz - unabhängig vom Parteibuch. Wenn ihr Großvater Ludwig Bodenbender und der Großvater ihres Mannes, Wilhelm Rolshausen als junge Männer spätabends im Dorf unterwegs waren, so erzählt Ursula Rolshausen, dann passten sie gut aufeinander auf. Denn als sogenannte "Bebler", also Anhänger des damaligen SPD-Gründungsvorsitzenden August Bebel, zogen sie leicht Aggressionen auf sich. "Bebler" war ein Schimpfwort, die SPD gesellschaftlich isoliert. Nicht nur im Dorf Salzböden mussten "Bebler" immer auf eine Abreibung gefasst sein:

    "Das war ein Schimpfwort, ja. Also, hier im Dorf hat man gesagt, das ging auf die Wahl von 1924 zurück. Da hatten also 24 oder 25 Leute SPD gewählt, und das war für dieses kleine Dorf schon eine ganz große Geschichte. Im ganzen Umkreis gab es so etwas nicht. Jedenfalls hat dann ein Deutschnationaler gesagt: '25 Bebler - eine Schande für das Dorf'. Und wenn man die Chronik liest, sieht man eben, was diese 25 Bebler im Lauf der jetzt 100 Jahre in dem Dorf geschaffen haben, und da kommt keine andere Partei mit."

    25 anfangs verhöhnte "Bebler", die aus Salzböden ein stolzes Dorf machten: Dieses Andenken wärmt die Herzen der Genossen in der frostigen mittelhessischen Vorweihnacht. Die frischere schmerzliche Erinnerung an 23 Prozent für die SPD bei der Bundestagswahl, an Personalquerelen und Hartz-IV-Hickhack verblasst dagegen. Die SPD ist stärkste Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung. Im Ortsbeirat von Salzböden allerdings haben jetzt "die Anderen" das Sagen, bemerkt die freundliche Frau Rolshausen etwas schmallippig. "Die Anderen" sind die von der Freien Wählergemeinschaft. Doch als Chronistin stößt die 60-jährige Genossin in jeder Schicht der Salzbödener Erdgeschichte auf sozialdemokratische Fossilien.

    "Also eine Viehwaage zum Beispiel, damit das Vieh ordentlich gewogen wurde, hat die SPD gemacht. Es wurde gemeindeeigenes Land gerechter verteilt. Das gute Land war immer für die reichen Bauern da, und das hat man dann aber umstrukturiert, sodass das gerecht verteilt werden konnte auf Ärmere."

    Nach dem Krieg profitierten die Salzbödener von den "Hessen-vorn"-Programmen des legendären Ministerpräsidenten Georg August Zinn. Fast 20 Jahre lang führte der Sozialdemokrat fünf Landesregierungen. Zinn galt als der Inbegriff des Landesvaters und prägte das Bild vom "roten Hessen", allerdings in einer sehr milden Rot-Schattierung. Ohne sozialistische Dogmatik, dafür pragmatisch engagiert beim Wiederaufbau.

    "Das Dorfgemeinschaftshausprogramm war ein Programm des Landes Hessen, in dem mein Großvater federführend mitgearbeitet hat, weil er gesehen hat - und man hat das ja heute fast wieder - dass die Dörfer nicht aussterben."

    Gemeinschaftshäuser, ausgestattet mit Dusche, Waschmaschine und Fernseher: Zumindest in den Anfangszeiten ging sozialdemokratische Fürsorge in Hessen so weit. Heute dagegen finden gestandene Genossen es peinlich, dass ausgerechnet die von Sozis als "neoliberal" gegeißelte schwarz-gelbe Bundesregierung das sogenannte Schonvermögen verdreifacht, das Langzeitarbeitslose ansparen dürfen. Notwendige Korrektur an Gerhard Schröders Hartz-IV-Reformen, das ist den Salzbödenern schmerzlich bewusst. Doch die bittere Neuzeit fasst die Chronik des SPD-Ortsvereins eher knapp zusammen.

    "Die steht auch so ein bisschen drin, da steht ein bisschen was über Oskar Lafontaine, die Geschichten ..."

    Doch seit der Aufbruchrede des neuen SPD-Bundesvorsitzenden Sigmar Gabriel schöpfen die Salzbödener, die sich zum vernachlässigten linken SPD-Spektrum zählen, wieder Hoffnung. "Noch nennen wir uns Volkspartei und wollen das auch für die nächsten anderthalb Jahrhunderte bleiben", sagt trotzig der 32-jährige Norman Speier. Der Ortsverein Salzböden jedenfalls schreibt schon seit knapp fünf Jahren keine eigenständige Geschichte mehr. Dass er gemeinsam mit zwei weiteren Ortsvereinen in dem von Lollar aufgegangen ist, bleibt ein dicker Wermutstropfen im Jubiläumssekt der Salzbödener Genossen.