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Danach

Mai 1945. Das riesige Zelt ist mit Weinreben geschmückt, die man an Stacheldraht festgemacht hat, es ist dunkel, im Zelt ist es hell, die Tische sind gedeckt. Die notwendigen Lebensmittel wurden über eine Luftbrücke herangeschafft. Es gibt: hartgekochte Eier, Salz, Merrettich, Petersilie, Matzen und Brot, einen koscheren Hammelknochen, Krannbeeren und Sahne - die Beeren wurden extra aus Neuseeland eingeflogen! -, es gibt 28er Rheinwein aus dem Keller des Lagerkommandanten und später dann noch Yorkshirepudding, man könnte beinah sagen, es gibt alles. Nachkriegsdeutschland? Direkt nach der Befreiung? Allerdings.

Liane Dirks |
    Der Ort ist Dachau, das Fest das gefeiert wird, heißt Pessach, und ist eigentlich längst vorbei, die Zeremonie nennt man einen Seder. Juden, englische Soldaten und Reporter von der Times, der Sun, der Mail und einem halben Dutzend anderer Zeitungen nehmen teil. Deutsche, das ist anzunehmen, nicht. Und so schildert Melvin Jules Bukiet wie der ebenfalls eingeflogene Rabbi Simon Levi die Zeremonie beginnt: "Gesegnet seist Du, Ewiger, unser Gott, Herrscher des Universums, Schöpfer der Frucht der Rebe. Gesegnet seist Du, Ewiger, unser Gott, Herrscher des Universums, Der uns erwählte aus allen Völkern und uns erhöhte unter allen Nationen." Diese Zeile hatte seinen Mund noch nicht verlassen, da gab es die erste gereizte Unruhe; ein junger französischer Jude flüsterte: "Seht euch uns an - erhöht."

    Bald schon ist klar, daß die erste Feier im befreiten Dachau kein gewöhnlicher Seder wird. Aber wer weiß schon, wie ein Seder gefeiert wird? Und was eigentlich wirklich ist ein Chassid? Und gar ein Gered-Chassid, was ein Pelzstreimel und was die Peies und Challa? "Das Brot der Betrübnis". Gefeiert wird das Fest der Freiheit, es ist der Auszug der Juden aus Ägypten, dem man an Pessach gedenkt. Aber wie feiert man das Fest "Danach"? Sind die zehn Plagen, mit der Gott die Menschheit straft?: "Blut. Frösche. Mücken. Wilde Tiere. Pest. Blattern. Hagel. Heuschrecken. Finsternis. Tod des Erstgeborenen."

    Sind es noch dieselben Plagen? An einem Ort, wo der koschere Hammelknochen nur ein paar Schritte neben einem Menschenleichenhaufen liegt? Nein. Es sind nicht mehr dieselben Plagen, rufen ein paar Juden bei der Feier. Das sind die Plagen von "Davor". Ab jetzt heißen sie anders. Ihre Namen sind: "Auschwitz. Treblinka. Maidanek. Chelmo. Sobibor. Belzec. Mauthausen. Buchenwald. Dachau."

    Das sind erst neun. Bei jeder Plage nippen die Juden an ihrem Wein, bevor sie zu der letzten, der allumfassenden kommen: "Europa! Es trat eine allgemeine Stille ein, in der sie über den Kontinent der Diaspora nachsannen, das Europa der Magna Charta und der Menschenrechte, das Europa der Inquisition und der Kreuzzüge, das Europa von Kopernikus, Goethe, Goebbels. Dann sagte Yves, der französische Jude: "Was für eine Pisse trinken wir hier? Warum trinken wir bei allen anderen Pessachfesten Rotwein und in dieser Nacht weißen?"

    "Machen sie weiter" , fordert der Major vom Rabbi und beobachtet dabei die "Kreaturen", wie er die Überlebenden nennt. Doch die Unruhe nimmt zu. Sie rufen nach Rosinenbrot und Pumpernickel, sie fordern Schweinefleisch und essen ihren Kollegen, die eh bald sterben werden, den Muselmännern, alles weg. Das Lied das die Sederfeier traditionell beschließt, wollen sie erst recht nicht. Sie wollen ein anderes, damit singen sie den Rabbi einfach nieder: "Bei mir bist du scheen heißt, du bist wunderbar", das rufen sie.

    Erste Behauptung: Der Roman von Melvin Jules Bukiet ist ein Schock.

    So hatten wir uns das nämlich nicht gedacht! Schokoladenriegellutschende Überlebende, denen der Schmodder am Kinn runtertrieft, während die Deutschen gehorsam das Lager Buchenwald schrubben, wie es der amerikanische Major befohlen hat. Wie Äffchen poussieren die Opfer für die Frontfotografin Elisabeth Smith Moss. Sie fressen, saufen, kotzen Bukiets Beschreibung nach gar "lustvoll" in der Sonne auf dem Sammelplatz. An nichts weiter sind sie interessiert als am entstehenden Markt. Sie betrügen wo es geht, in Ost und West gleichermaßen, bilden Cliquen und Gangs und machen Geld, und das sogar mit den eigenen Toten.

    Zweite Behauptung: Gegenüber den Überlebenden ist der Roman von Melvin Jules Bukiet übelster Spott und Hohn.

    Nicht nur, daß sie häßlich sind. Bukiet zeichnet sie überwiegend als roh, gewalttätig und gierig. Da ist z.B. der Held Isaak Kaufmann, er schlägt einen jungen Deutschen nieder (der so jung ist, daß er kein Täter sein kann, der Vater allerdings schon!). Vom Gedanken, den Jungen zu töten, hält ihn nur der Essensgeruch aus einer Mülltonne ab, aus der er dann auch frißt, wohlgemerkt: nicht ißt. Isaak Kaufmann treibt es mit drei Mädchen gleichzeitig, während die anderen dabei zusehen. Und vor allem: Er verdient an den Leichen, für die er gefälschte Papiere ausstellt. Sein Geschäftssinn macht noch nicht mal vor den 18 Tonnen Zahngold halt, die neben den Liebknechtwerken lagern. Gold, das man seinen Leidensgenossen entrissen und für's deutsche Reich eingeschmolzen hat. Das erweckt nicht gerade Mitleid, und was die Überlebenden selbst angeht: offensichtlich haben sie überhaupt keine wahre Beziehung zu ihrem eigenen Schicksal, zu ihrem Leid.

    Dritte Behauptung: Der Roman von Melvin Jules Bukiet bietet eine längst fällige Klarstellung.

    Richtig. Denn aus Leid muß man nichts lernen. Dazu ein zentraler Satz: "Letztlich jedoch hatte man die Verantwortung für seine Lage selber zu tragen. Letztlich mußte man entweder gesund werden oder sterben."

    So sah es aus im Mai 1945. Isaak Kaufmann, Zyniker und Exhäftling aus Buchenwald, dem man die Zähne weggefoltert hat, Rabbi Fischl aus Mauthausen, dem man die Familie getötet hat, Alter Kaufmann, der sich vor dem todbringenden Evakuierungsmarsch durch den Sprung in eine heiße Gummilauge gerettet hat, Markus Morgenstern, Dokumentenfälscher aus Dachau, der mal Zahnarzt war, alle Helden dieses Buches: sie sind allein mit ihrem Leid. Und Bukiet macht nichts weiter als zeigen, wie das ist und was das ist, das Danach, nach diesem Schicksal: "Was haben sie denn hier gemacht?" fragt die Fotografin Smith Moss in ihren scharfen Armeestiefeln Isaak Kaufmann.

    "Die Antwort war klar. "Wir sind gestorben." "Bad times?"

    Die Gefühlsregung wurde ins Deutsche übersetzt. Isaak lächelte: "ja". Ein Soldat drehte sich zu der Fotografin um: "Die sind verrückt, was?" "Wären sie das nicht auch?"

    Darum geht es in diesem Buch: Die Freiheit ein Schock, das Leben danach eine nicht zu bewältigende Groteske. Gab es "Davor" ein Gefüge, ein wie auch immer geartetes soziales Netz, "Danach" gibt es nichts mehr: Und dazwischen? Auf die Frage eines alten, verückt gewordenen deutschen Grafen, der ein Kriegsverbrecher war, auf die Frage: "Was ist denn jetzt geschehen?" weist Markus Morgenstern lediglich auf sich und Isaak Kaufmann: "Es!" antwortet er.

    Vierte Behauptung: Der Roman "Danach" von Melvin Jules Bukiet ist genial.

    Denn besser kann man es nicht sagen. Nicht Shoah, nicht Vernichtung, nicht Holocoust, nicht Massenmord, ES. Und dieses "es" schließt all die merkwürdigen Verhaltensweisen der Überlebenden ein. All das, was ihnen widerfahren ist, auch. Nicht sprachlich, sondern körperlich, Markus Morgenstern, der ehemalige Zaharzt, der in Dachau Dollarnoten fälschen mußte, zeigt mit dem Finger auf den Freund und sich. "Es" ist er und die Distanz zu sich selbst zugleich. "Ich" kann er dazu nicht mehr sagen.

    "Haben Juden überlebt?" fragt Isaak Kaufmann und antwortet selbst: "Ich weiß gar nicht mehr, was ein Jude ist."

    Und damit zurück zur ersten Behauptung. Der Roman von Melvin Jules Bukiet ist tatsächlich ein Schock. Denn vieles stimmt. Die Überlebenden haben als ersten Film "Dick und Doof im Biergarten" gesehen. Eine psychologische Folge der Folter ist tatsächlich das Nichtmehrspürenkönnen von Leid, sie äußert sich in Zynismus, Sarkasmus, Apathie. Sie haben gesabbert, sind weiter gestorben massenweise, und sie haben für ein Foto unterm Galgen einen Dollar gekriegt. Begafft wurden sie wie die Affen im Zoo, sie trauten sich nicht durch das Tor aus dem Lager hinauszugehen, als der Krieg vorbei war und die Leichen stanken.

    Und deshalb stimmt auch die zweite Behauptung: Es handele sich bei diesem Roman um übelsten Spott und Hohn für die Überlebenden. Wenn man mit den Überlebenden einmal alle meint. Alle, die "danach" kamen. Ihnen gilt Melvin Jules Bukiets Wut. Spürbar zieht sie sich durch den ganzen Roman. Die Wut gilt nicht seiner eigenen Vätergeneration, die ihn mit ihren Geschichten nervte. Sie gilt der unverschämten, penetranten Stigmatisierung der Opfer. Denn das ist sicher: Wer Melvin Jules Bukiets Roman "Danach" gelesen hat, besucht keine Gedenkfeier mehr nur aus Routine. Pflichttränen im Augenwinkel sind nicht angebracht. Nach dieser Lektüre wird man wieder fassungslos, sie ist ein heilsamer Schock und gerechter Hohn.