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Daniel Alarcón
Road Novel, Entwicklungsroman und Thriller

Von Wera Reusch | 12.01.2015
    Der Roman spielt in einem nicht namentlich genannten Land, das jedoch unverkennbar Parallelen zu Peru aufweist: Ausgangspunkt sind die 80er-Jahre, als Krieg herrscht zwischen der maoistischen Guerilla und der Regierung. In den Kreisen der linken städtischen Boheme bildet sich eine Theatergruppe, die durchs Land tourt und ein Stück mit dem Titel "Der dumme Präsident" aufführt.
    "Die Truppe hieß Diciembre, sie scharte sich um ein paar schrill debütierende Dramatiker und war bald für ihre gewagten Tourneen in die Konfliktgebiete bekannt, wo sie ihre für die Schauspieler durchaus gefährliche Losung auslebten: Theater für das Volk! Das war der Tenor der Zeit, und während derartig aufopferndes Engagement in Teilen der Öffentlichkeit Beifall erntete, wurde es von vielen anderen abgelehnt, sogar mit Terrorismus gleichgesetzt."
    Der Autor des Stücks, Henry Núñez, wird 1986 wegen Aufwiegelung festgenommen und monatelang in einem berüchtigten Gefängnis inhaftiert. 15 Jahre später - der Krieg ist mittlerweile vorbei - überredet ein Freund den Bühnenautor zu einer Revival-Tour. Als Dritten im Bunde engagieren sie den jungen Schauspieler Nelson. Für den 23-Jährigen kommt das Angebot genau richtig: Sein Plan, in die USA auszuwandern, ist gescheitert, die langjährige Beziehung zu seiner Freundin zerbrochen. Eine Theatertournee durch die Provinz verspricht Ablenkung. Zunächst ist die Reise ein aufregendes Abenteuer. Das Trio spielt "Den dummen Präsidenten", wo immer sich Gelegenheit bietet.
    "Die Dörfer bestanden unter Umständen nur aus ein paar Häusern inmitten endloser graugelber Felder, doch oft war das das beste Publikum: insgesamt nicht mehr als ein Dutzend Menschen mit geringer Bildung oder Theatererfahrung, ein paar rotwangige Bauern, ihre leidgeprüften Frauen und unterernährten Kinder, die nach dem Stück zu Henry kamen, ihn nie direkt ansahen und voller Respekt sagten: 'Vielen Dank, Herr Präsident.'"
    Die beschwerliche Tournee durch die karge andine Landschaft schweißt die Männer zusammen. Analog zur Konstellation des Theaterstücks entsteht zwischen Henry und Nelson eine Art Vater-Sohn-Beziehung. Beide kämpfen jedoch mit ungelösten persönlichen Konflikten der Vergangenheit. Schließlich landet die Theatertruppe in einem abgelegenen Dorf, in dem sich das Schicksal der Männer unglücklich verkettet: Henry trifft auf die Familie eines ehemaligen Zellengenossen und wird mit Ereignissen aus seiner Gefängniszeit konfrontiert.
    Nelson versucht, die Situation zu retten, indem er seine Schauspielkünste auch im realen Leben zur Anwendung bringt. Doch die Sache läuft aus dem Ruder, und Nelson bezahlt für sein gutgemeintes Engagement einen hohen Preis. Als Leser ahnen wir bereits früh, dass die Tour kein gutes Ende nehmen wird und Nelson der tragische Held sein könnte, denn Daniel Alarcón hat für seinen Roman eine eigenwillige Erzählperspektive gewählt: Zunächst scheint es, als werde die Geschichte von einem allwissenden Erzähler geschildert. Dann zeigt sich, dass sich dahinter ein Journalist verbirgt, der die Ereignisse im Nachhinein zu rekonstruieren versucht:
    "Schon jetzt wusste ich mehr über Nelson als über viele Menschen, mit denen ich aufgewachsen war. (...) Nelsons Geheimnisse, aufgedeckt durch seine Vertrauten, seine Geliebten, seine Klassenkameraden, Menschen, die es angemessen fanden, mir zu vertrauen, als könnten wir durch das gemeinsame Erinnern etwas für ihn erreichen, ihn wiedererschaffen. Wiederbeleben. Zurückbringen in die Welt. Stück für Stück bekam ich ein Gespür für sein reiches Innenleben, seine Fantasie. (...) Ich hatte versucht, die Dinge durch Nelsons Augen zu sehen, mich so oft wie möglich von seinen Tagebüchern leiten lassen. An guten Tagen hatte ich das Gefühl, dass es mir gelang."
    Trotz der komplexen Struktur des Romans mit zahlreichen Vor- und Rückblenden und eines Ich-Erzählers, der vorgibt, allwissend zu sein, behält der Autor die Zügel in der Hand. Das Drama entwickelt sich mit der Zwangsläufigkeit einer Shakespeare'schen Tragödie. Als der Bühnenautor Henry dies bemerkt, ist es bereits zu spät:
    "Wir hätten dieses dem Untergang geweihte Stück niemals wiederbeleben dürfen, sagte er. Ein anderes vielleicht, aber warum gerade dieses, das so viele Geister mit sich herumträgt? Dieses Stück, das nichts als Ärger gebracht hat, seit es geschrieben wurde? Er sprach weiter: Wir hätten nie auf Tour gehen dürfen, nie die Stadt verlassen, wo wir sicher waren, nie unser Leben unterbrechen dürfen, um dieser Donquichotterie von Berufung zum Theater, zur Kunst nachzugehen."
    Daniel Alarcón variiert das klassische Motiv des Lebens als Theater und stellt letztlich auf raffinierte Weise die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion. Er verbindet dies mit zeitgenössischen lateinamerikanischen Themen wie der Perspektivlosigkeit junger Männer, die all ihre Hoffnungen auf die USA richten, der Gewalt und Drogenökonomie als Erbe der politischen Konflikte in den 80er-Jahren oder den grausamen Verhältnissen in den Gefängnissen. Der 1977 geborene Autor gehört zu einer Generation von Schriftstellern, für die häufig journalistische Recherchen den Ausgangspunkt ihres literarischen Schaffens bilden. Die politischen Verhältnisse stehen nicht im Mittelpunkt, prägen das Leben der Figuren jedoch auf subtile Art und Weise.
    "Des Nachts gehn wir im Kreis" vereint Elemente einer Road Novel, eines Entwicklungsromans und eines Thrillers. Das von Friederike Meltendorf souverän ins Deutsche übersetzte Werk beweist, dass Daniel Alarcón zu Recht als eines der großen Talente der US-amerikanischen wie der peruanischen Literatur gilt.
    Daniel Alarcón: "Des Nachts gehen wir im Kreis", aus dem Amerikanischen von Friederike Meltendorf, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014, 350 Seiten, 22,90 Euro.