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Daniel Kehlmann: "Du hättest gehen sollen"
Fingerübung eines routinierten Autors

Eine Familie macht Ferien in den Bergen. Doch in ihrem Haus ereignen sich plötzlich merkwürdige Dinge. Daniel Kehlmann spielt in seinem neuen Buch "Du hättest gehen sollen" mit Elementen der Schauerliteratur. Allerdings reißt er zu viele Motive an, die er nicht ausführt. Spannung kommt kaum auf.

Von Christoph Schröder | 23.11.2016
    Links das Buchcover von Daniel Kehlmanns "Du hättest gehen sollen", rechts der Autor im Kuli 2016 in Potsdam.
    Daniel Kehlmanns Buch "Du hättest gehen sollen" weist Parallelen zum Film "Shining" auf. (Rowohlt/imago/Martin Müller)
    Spiegelungen, Identitätsverwirrungen, Realitätsverschiebungen und der plötzliche Einbruch des Unheimlichen – all das hat Daniel Kehlmann schon immer gereizt. In "Du hättest gehen sollen" betreibt Kehlmann nun ein Spiel mit der Schauer- und Horrorliteratur, allen voran mit Stephen Kings Klassiker "Shining".
    Schon die Ausgangslage weist Parallelen zu "Shining" auf: Der Ich-Erzähler, seine Frau Susanna und die vierjährige Tochter Esther kommen in der Vorweihnachtszeit in einem einsamen, eleganten Ferienhaus in den Bergen an. Susanna ist Schauspielerin; er schreibt Drehbücher und ist unter Druck: Sein Produzent sitzt ihm im Nacken; er muss liefern, hat aber eine Blockade. Und gleichzeitig wird deutlich, dass die Beziehung der beiden aus mehreren Gründen in einer Krise steckt.
    "Ich konnte nicht widerstehen, sie daran zu erinnern, dass die Tantiemen für jene Drehbücher, die sie zwar für Werke, nicht aber für Werke hält, die Kreditzinsen für unser Haus bezahlen, ein Reihenhaus mit Garten, das sie für so wichtig hielt, weil ein Kind schließlich einen Garten haben müsse, und jetzt haben wir das Reihenhaus, und der Kredit ist noch lange nicht abbezahlt, und Esther spielt eigentlich nie im Garten, und wenn ich den zweiten Teil zu meinem erfolgreichsten Film nicht schreibe, was ist dann mit den Zinsen?"
    Verhextes Ferienhaus in den Bergen
    Mit dem Haus, in das die drei sich eingemietet haben, stimmt allerdings etwas nicht. Genauer gesagt, es ist der Ort, der auf eigentümliche Weise verhext, verwunschen zu sein scheint. Mit seinem Drehbuch, das, wie die in den Text eingearbeiteten Auszüge daraus nahe legen, in Albernheit scheitern wird, kommt der Protagonist ohnehin nicht so recht voran.
    Vor allem aber ereignen sich merkwürdige Dinge: Fotografien von unbekannten Menschen, die dem Ich-Erzähler zuvor im Traum begegnet sind, hängen auf einmal dort, wo zuvor noch weiße Wände waren. Die rechten Winkel im Haus ergeben in der Summe nicht mehr 90 Grad. Und urplötzlich kann der Mann auch sein eigenes Spiegelbild nicht mehr in der Panorama-Fensterscheibe des Wohnzimmers erkennen. Etwas geht hier vor. Und man hätte es wissen können, wie bereits das Gespräch mit dem nicht eben zuvorkommenden Einzelhändler im Dorf nahe gelegt hat.
    "Er nickte, zeigte auf einen Punkt über meinem Kopf und fragte: Ihr wohnt da oben? Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Geste unserem Ferienhaus galt. Entschlossen, es ihm an Einsilbigkeit gleichzutun, nickte ich. Ah, sagte er. Ja, sagte ich. So, sagte er. Doch, sagte ich. Schon was passiert? Bitte? Er schwieg."
    Kleine, prägnante Dialoge
    Unter anderem in solchen Passagen zeigt sich die Routine von Daniel Kehlmann. Er kann Szenen entwerfen und weiß, wann er sie abbrechen muss. Er beherrscht die kleinen, prägnanten Dialoge. Andererseits aber greift er auf ein höchst übersichtliches und auch nicht sonderlich originelles Arsenal von Unheimlichkeits- und Entfremdungsmotiven zurück. Man fragt sich ständig: Wird hier die sich ausweitende Krise eines Mannes in Beruf und Ehe mit Hilfe kleiner Taschenspielertricks zu einem existenziellen Problem aufgeblasen? Oder geht es tatsächlich um mehr?
    Daniel Kehlmann hat in früheren Prosatexten wie "Der fernste Ort", "Mahlers Zeit" oder auch in seinem Debüt "Beerholms Vorstellung" unter Beweis gestellt, dass er in der Lage ist, auf elegante Weise zwischen den Ebenen hin- und herzuspringen. Er kann mathematische und physikalische Probleme mühelos mit den Illusionskünsten eines Zauberers in Einklang bringen. Und auch in "Du hättest gehen sollen" öffnet Kehlmann die Tür zu den ganz großen Ewigkeitsräumen, um eine mögliche Erklärung für die an sich unerklärlichen Vorgänge anzubieten:
    "Ich habe mal gelesen, dass viele Astronomen meinen, das All könnte unendlich sein. Sie meinen, dieses unendliche Universum könnte nur eines von vielen unendlichen Universen sein, jedes mit anderen Gesetzen. Eines ist vom anderen aus unerreichbar, sie sind strikt voneinander getrennt. Normalerweise."
    Zu viele Andeutungen und Motive
    Vielleicht ist aber genau das auch das Problem dieser schmalen Erzählung: Dass mehr behauptet wird als erzählt. Auf buchstäblich zu engem Raum legt Kehlmann zu viele Erzählmuster, zu viele intertextuelle Andeutungen aus; reißt zu viele Motive an – und lässt sie dann unausgeführt. Beklemmung kommt da nicht auf.
    "Du hättest gehen sollen" ist kein sonderlich ärgerliches, aber auch kein, wie behauptet wird, spannendes oder gar faszinierendes Buch. Es ist die Fingerübung eines routinierten Autors. Dass die letzten drei Seiten weiß bleiben und die Erzählung somit im unendlichen Nichts endet, spricht für sich. Immerhin: Kehlmann holt wenigstens nicht die Axt aus der literarischen Asservatenkammer. Blutig wird es hier, im Gegensatz zu "Shining", nicht.
    Daniel Kehlmann: "Du hättest gehen sollen".
    Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 96 Seiten, 15,- Euro.