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"Dann bleibt mir nur noch die Landschaft meiner inneren Reflexionen"

Todkrank und bewegungslos, zuletzt sogar seiner Sprache beraubt, schrieb der englische Historiker Tony Judt sein Abschiedsbuch "Das Chalet der Erinnerungen". Ein autobiografisches Vermächtnis, in dem er sprachlich brillant die wichtigen Themen seines Lebens und seiner Zeit Revue passieren lässt.

Von Angela Gutzeit | 25.04.2012
    Was bleibt einem Menschen, wenn er sich nicht mehr bewegen kann? Wenn ein Muskel nach dem anderen den Dienst quittiert und wenn schließlich nur noch der Kopf funktioniert? Übrig bleibt das Denken. Die Erinnerung. Aber die heimtückische Krankheit mit dem Namen Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, lässt für ihre Artikulation nur noch ein sehr kleines Zeitfenster offen. Dann wird auch Kommunikation unmöglich.

    Der englische Historiker Tony Judt, der 2010 an dieser Krankheit in seiner Wahlheimat New York starb, liebte die geschliffene Rede, das Streitgespräch, den Austausch, die gedankliche und körperliche Bewegung, die Mobilität. In seinem letzten Buch "Das Chalet der Erinnerungen" lässt er sein Leben, seine Zeit und die Themen, die Fragen, die ihm wichtig waren, noch einmal Revue passieren. Erhellend und bewundernswert, wie souverän der Wissenschaftler dabei seinen Zustand und das rasante Verlöschen seiner Fähigkeiten reflektiert.

    "Für jemanden, der immer schon gern Worte und Ideen kommuniziert hat, ist das eine ungewöhnlich Herausforderung. Dahin ist das Notizheft und der nunmehr nutzlose Stift, der erholsame Spaziergang im Park und die Stunde im Sportstudio, in der Überlegungen und Argumente wie durch natürliche Auslese zurechtgerückt werden. Dahin auch die produktiven Gespräche mit Freunden - selbst im mittleren Stadium von ALS denkt man schneller, als man Worte bilden kann, sodass Gespräche stockend verlaufen, frustrieren und letztlich sinnlos werden.

    Auf die Lösung dieses Dilemmas bin ich durch Zufall gestoßen. Ein paar Monate nach Ausbruch der Krankheit fiel mir auf, dass ich nachts in meinem Kopf ganze Geschichten schrieb. Bestimmt suchte ich Ablenkung - an die Stelle des Schäfchenzählens traten komplexe Erzählungen von vergleichbarer Wirkung. Im Laufe dieser kleinen Übungen erkannte ich, dass Segmente meiner Vergangenheit wie Lego-Steine zusammenfügte, von denen mir bislang nicht klar gewesen war, dass ich sie zusammengehörten. (...) Aber wie konnte ich die halb verborgenen Pfade am nächsten Tag wieder präsent haben?"


    Es lohnt sich, bei dieser Frage einen Moment zu verweilen. Judt vermochte es bis wenige Monate vor seinem Tod seiner rasant fortschreitenden Krankheit Produktivität abzutrotzen, zumindest solange er noch sprechen konnte. Judt nutzte dafür sein ausgeprägtes Raumgedächtnis. Schon immer, so schreibt er, habe er sich für die Gedächtnistechniken neuzeitlicher Philosophen und Reisender interessiert, die in der Lage waren, Wissen in gedanklichen Räumen zu speichern. Unter anderem die englische Historikerin Frances Yates hat das in ihrem Buch "Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare" beschrieben.

    Tony Judt eignete sich diese Methode an, indem er als Erinnerungsspeicher das geliebte Schweizer Gasthaus im Wallis wählte. Dort verbrachte er in der Kindheit die Ferien mit seinen Eltern. In seinen oft schlaflosen Nächten ging nun der bewegungsunfähige Autor, der sich in diesem Stadium unfassbar selbstironisch als "original talking head", als "sprechenden Kopf" bezeichnete, in seiner virtuellen Kopfreise von Raum zu Raum und füllte sie mit jeweils einem spezifischen Thema. Am nächsten Morgen versetzte er sich wieder zurück in einen dieser Themenräume und diktierte das darin Gespeicherte einem Mitarbeiter. So ist - "Das Chalet der Erinnerungen" - das autobiografische Vermächtnis des englischen Historikers - entstanden.

    "Das Chalet der Erinnerungen" ist eine intellektuelle Autobiografie, insofern vor allen Dingen der eigene Bildungsweg und die markanten geistigen und politischen Prägungen thematisiert werden, die zu Judts Lebensthemen und seinen wichtigsten Büchern führten. Die chronologische Vorgehensweise täuscht. Judts Denken ist eher assoziativ. Und Familiär-Privates spielt eigentlich nur eine Rolle, um zum Beispiel sein Verhältnis zum Judentum zurückzuverfolgen oder um das London der 50er Jahre lebendig werden zu lassen.

    Oft reichen wenige Sätze aus, um der Zeit, in der er aufwuchs, Farbigkeit und Intensität zu geben. Es gab einmal einen Scheideweg, so schreibt Judt, wo er sich habe entscheiden müssen, ob er sich der Schriftstellerei zuwende oder Wissenschaftler werde. Das Interesse an der Geschichtswissenschaft hatte gesiegt. Aber der elegante und ausdrucksstarke Stil in diesem persönlichsten seiner Bücher bestätigt auch seine literarische Begabung. Das Rumpeln der Straßenbahnen im Londoner Stadtteil Putney der Nachkriegszeit, die Gerüche und Geräusche aus den vielen, kleinen Läden der Seitenstraßen - das sind Erinnerungsauslöser, die weitere Geschichten und Gedanken hervorbringen. Das seien seine "Madeleines" - wie er in Anspielung an Marcel Prousts Erzähler in der "Verlorenen Zeit" anmerkt.

    Fast jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen autobiografischen Kernsatz wie "Ich bin im Nachkriegsengland aufgewachsen", "Ich liebe Eisenbahnzüge" oder "Meine Schulzeit war schlimm", um dann das Autobiografische ins Gesellschaftliche und Politische zu überführen. Der Grundton ist dabei zwangsläufig elegisch, da die Zeiten sich geändert haben, der Autor aber an Werten wie "Austerity" - so ist das erste Kapitel betitelt - also Bescheidenheit, sowie Gemeinschaft, Solidarität, die ihm als Nachkriegskind in den Jahren der Entbehrung mitgegeben wurden, festhält und ihren Verlust als Kulturverfall beklagt.

    "Es war dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Einschränkungen und den grauen Alltag im Nachkriegsengland erträglicher machte. Natürlich waren wir keine richtige Familie - wenn, dann gaben die falschen Mitglieder (wie Orwell schrieb) immer noch den Ton an. Dennoch hielten sich die Reichen klug zurück. Es gab damals keinen Luxuskonsum. Alle sahen ziemlich gleich aus und trugen die gleichen Sachen, Wolle, Flanell oder Cord. (...) Wie stark mich diese Kindheitsjahre geprägt haben, ist mir erst in jüngster Zeit richtig klar geworden. Im Rückblick erkennt man sehr viel deutlicher, was an jener Zeit so besonders war. Niemand möchte sie zurückhaben. 'Austerity' war aber nicht nur ein wirtschaftliches Programm, sondern auch eine allgemeine Haltung. (...)

    Kürzlich habe ich unserem zwölfjährigen Sohn Truffauts Klassiker 'Sie küssten und sie schlugen sich' von 1959 gezeigt. Der Angehörige einer Generation, die mit 'The Day After Tomorrow' und 'Avatar - Aufbruch nach Pandora' aufgewachsen ist,´staunte: 'Diese Sparsamkeit! Er kann so viel mit so wenig ausdrücken.' So ist es. Die ungeheuren Summen, die in die Unterhaltungsindustrie gesteckt werden, kaschieren nur die Dürftigkeit des Produkts. Ähnlich ist es in der Politik, wo endloses Geplapper und große Worte gähnende Leere überdecken. (..) Statt um Gemeinwohl geht es nur noch um Wirtschaft ..."


    Tony Judt ist in London in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Das spätere Studium in Cambridge und an der École Normale Superiéure in Paris sowie seine Lehrtätigkeiten in Cambridge, Oxford, Berkeley und in New York als Direktor des Remarque-Instituts waren ihm nicht in die Wiege gelegt. Seine Großeltern waren osteuropäische Juden, die in England dem Holocaust entkamen. Die Eltern arbeiteten in einem Friseurladen. Akademiker war keiner von ihnen, aber alle waren sie redegewandt und diskutierfreudig. Sie waren säkulare Juden, der Sozialdemokratie nahestehend.

    Dagegen fühlte sich der junge Tony Judt zunächst von den Ideen und Idealen des Zionismus und des Marxismus angezogen. Voller Begeisterung ging er als noch nicht Zwanzigjähriger nach Israel, um sich dem sozialistischen Arbeiterzionismus in einem Kibbuz anzuschließen. Auch als Soldat meinte er zur Verteidigung des Landes unter anderem auf den Golanhöhen seine Pflicht tun zu müssen. Das Ganze geriet zum Fiasko, erwies sich aber schließlich für den späteren Historiker als richtungsweisende Erfahrung. Tony Judt erlebte Israel als ideologisches Gefängnis und die Verabsolutierung des jüdischen Glaubens sowie die Rechtfertigung jeglicher militärischer Maßnahmen gegen Araber mit dem Verweis auf den Holocaust als Irrweg.

    Diese kritische Haltung zu Israel hat Tony Judt nicht nur beibehalten, sondern auch zunehmend radikalisiert. Immer wieder - in seinen Büchern wie öffentlichen Auftritten - bezichtigte der Historiker die USA und ihre "Israel-Lobby", wie er unverhohlen formulierte, einer fatalen Außenpolitik gegenüber dem Nahen Osten. Dieser Brandherd müsse befriedet werden, so Tony Judts Mahnung, und zwar durch die Bildung eines gemeinsamen israelisch-palästinensischen Staates.

    Tony Judt hatte sich mit dieser Haltung viele Feinde gemacht, in Israel, in den USA, wo er seit 1979 lebte und lehrte, und übrigens auch in Deutschland. Man denke nur an den Krach, den seine Nominierung in der Jury für den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück im Jahre 2007 auslöste. Sicherlich hatte gerade Judts kritische Haltung gegenüber Israel und der Israelpolitik der USA, die er sowohl in seiner Essay-Sammlung "Das vergessene 20. Jahrhundert" wie auch im "Chalet der Erinnerungen" immer wieder zu begründen sucht, zu seiner weltweiten Bekanntheit beigetragen.

    Aber wer ihn nur als jüdischen Israelkritiker in Erinnerung behält, übersieht die Komplexität seiner Themen und seiner Bücher. Judt war ein pragmatischer Denker, der gerade aufgrund der historischen Erfahrung mit den Totalitarismen im 20. Jahrhundert jeder Verabsolutierung eines politischen Programms oder einer gesellschaftlichen Utopie eine scharfe Absage erteilte.

    Nicht ohne Grund sind wohl deshalb "Unabhängigkeit" und "Identität" Schlüsselbegriffe in seinen letzten beiden Büchern und im Grunde genommen zwei Seiten einer Medaille: Die zu starke Identifizierung mit einer Gruppe, einer Anschauung, einer Ideologie verdrängt nach seiner Ansicht Individualität wie auch Heterogenität und gefährde damit die Unabhängigkeit des Denkens. Tony Judt hat sich immer wieder mit Identität auseinandergesetzt, auch mit der eigenen - vielleicht gezwungenermaßen, da Judesein immer zur Stellungsnahme und zur kritischen Selbstbefragung herausfordert. So heißt es im "Chalet der Erinnerungen":

    "Ich berufe mich (...) auf eine jüdische Vergangenheit, die sich der Orthodoxie verweigert: Das weitet den Blick, ermöglicht offene Diskussionen. Judesein ist für mich die Bereitschaft zu kollektiver Selbstbefragung und unbequemer Wahrheitssuche, jene Unabhängigkeit des Denkens, für die wir einst bekannt waren. Es reicht nicht, die Konventionen anderer Leute zu verwerfen, wir müssen auch die unnachsichtigsten Kritiker unserer selbst sein. Dieser Vergangenheit fühle ich mich verpflichtet. Darum bin ich Jude."

    Worte der Selbstverortung. In diesem autobiografischen Erinnerungsbuch verknüpfen sie sich noch einmal besonders eindrücklich mit den biografischen und intellektuellen Stationen, die Tony Judt rückblickend als Lehrjahre unabhängigen Denkens Revue passieren lässt. Und dabei geht es eben tatsächlich nicht nur um eine Kritik an Israel, sondern allgemein um die Kritik eines Denkens, das sich nicht aus ideologischer Verblendung zu lösen vermag, sowie um eine Kritik des Mitläufertums und des "Verführten Denkens" wie der polnische Dichter Czeslaw Milosz in seinem gleichnamigen, sehr einflussreichen Buch vor Augen führte. Und deshalb bezog Tony Judt beispielsweise nicht nur schon sehr früh Position gegen die kommunistischen Regime Osteuropas, sondern grenzte sich ebenfalls gegen die Markt- und Konsumideologie des Westens ab, die er als kulturelle und intellektuelle Verwahrlosung wahrnahm. Das "verführte Denken", das Milosz auf die Mitläufer des Kommunismus münzte, bescheinigte Judt auch den neoliberalen Kapitalismus-Apologeten. So heißt es im "Chalet der Erinnerungen":

    "Die heutige Marktgläubigkeit ähnelt dem alten linken Glauben an die Zwangsläufigkeit des historischen Fortschritts. (...) Die Macht einer Ideologie erweist sich am deutlichsten in der Unfähigkeit der Verführten, sich Alternativen vorzustellen. Wir wissen sehr wohl, dass der Glaube an den freien und schrankenlosen Markt tödlich ist."

    Tony Judt bewies bereits als Student wie dann auch später als Historiker ein ausgeprägtes Bewusstsein für den gesamten Raum Europas - und zwar politisch wie geografisch. Judts Ideal war ein demokratisches, sozialstaatlich verfasstes Europa, und das schon zu einer Zeit als Europa noch tief gespalten war. Der englische Historiker war ein Intellektueller, der immer der eigenen Anschauung gegenüber der Theorie den Vorzug gab. Deshalb reiste er viel, lernte sogar Tschechisch. Vielleicht sind auch dafür die ersten Grundlagen in der Kindheit gelegt worden.

    Im Buch "Das Chalet der Erinnerungen" gibt es dazu eine schöne Geschichte, abgelegt in einem seiner sehr frühen Erinnerungsräume. So erzählt Tony Judt, er sei immer leidenschaftlich gern Eisenbahn gefahren. Schon als 12-Jähriger habe er sich allein und ohne das Wissen seiner Eltern in einen Zug gesetzt und seine sorgfältig geplanten Fahrten immer weiter ausgedehnt, schließlich bis nach Dover, bis an die letztmögliche Grenze. Von da aus war es nur noch ein Katzensprung nach Kontinental-Europa. Und so ließ er seine Gedanken weiterfliegen - über das Meer und über die Grenzen hinaus. Seitdem verband sich Freiheit und Abenteuer für Tony Judt mit Bahnhöfen und Zügen. "Nie wieder Bahn fahren zu können. Nach Rilke ist es der Verlust meiner selbst" schreibt er aus der Perspektive des bewegungslosen Todkranken.

    "Wenn es etwas Spezifisches an meiner Darstellung der europäischen Nachkriegsgeschichte gibt, dann dürfte es der Blick auf den Raum sein, auf Regionen, Entfernungen, Unterschiede und Kontraste innerhalb dieses kleinen Subkontinents. Dieses Raumbewusstsein hat sich vermutlich während meiner Zugfahrten entwickelt, wenn ich absichtslos aus dem Fenster schaute und auf den Bahnhöfen die vielen Szenen und Geräusche aufmerksam wahrnahm."

    Europa wurde zu Tony Judts bevorzugtem Reise- und Forschungsfeld. Sein opus magnum ist das 1000-Seiten-Werk "Geschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart" - eine Studie, der das Interesse eingeschrieben ist an den Erschütterungen, Grenzen, Irrwegen und Befriedungsmodellen des Kontinents.

    Lange bevor Judt seine großartige Studie niederschrieb, hatte er die Grenzen seines Interesses immer weiter nach Osten verschoben, "immun gegen die Versprechungen der Neuen Linken, zumal ihrer radikalen, maoistischen und internationalistischen Ableger". Was er an der dogmatischen Linken kritisierte, war nicht nur ihre verbohrte Phrasenhaftigkeit, sondern vor allem ihre Ignoranz gegenüber den Freiheitsbestrebungen und den intellektuellen Stimmen in Osteuropa. Deshalb hat er sich - wie er im Buch beschreibt, nach einer kurzen Rebellenphase von den Studentenrevolten in Paris und Berlin wieder verabschiedet.

    "Was sagt es über die Illusionen vom Mai 1968, das in all unseren ersten, radikalen Diskussionen kein einziges Mal über den Prager Frühling oder den Aufstand der polnischen Studenten gesprochen wurde? Wären wir nicht so borniert gewesen (heute, vierzig Jahre später, ist kaum zu vermitteln, mit welcher Leidenschaft wir über die Sperrstunde im College diskutierten), hätten wir vielleicht einen bleibenderen Eindruck hinterlassen. Nächtelang diskutierten wir über die mexikanischen Aufstände oder die Sit-ins an der Columbia University, doch abgesehen von einem einzelnen Deutschen, der Alexander Dubcek verächtlich als reformistischen Wendehals bezeichnete, verlor niemand ein Wort über Osteuropa."

    Das ist nicht übertrieben. Unter anderem der Schriftsteller Peter Schneider, damals einer der Protagonisten in der Berliner Studentenszene, meinte rückblickend, die 68er seien blind gewesen für das, was sich in Prag abgespielt hätte. Schlimmer noch, Rudi Dutschke habe den tschechischen Intellektuellen das Festhalten am Sozialismus gepredigt, während die Tschechen den Aufbruch in die Demokratie proben wollten. Eine absurde Situation. Trotzdem fällt auf, dass Tony Judt sich speziell gegenüber den deutschen Verhältnissen zur Zeit der Studentenunruhen seltsam undifferenziert verhält.

    Er ist ganz offensichtlich nicht bereit, auf die spezifisch deutsche Situation in der Nachkriegszeit einzugehen, auf das wie auch immer zu bewertende Bedürfnis der Jungen, mit der Elterngeneration abzurechnen, mit falschen Autoritäten und autoritären Strukturen. Vielleicht war damals manches in seiner hochtrabenden Theorielastigkeit einfach lächerlich, aber der historische Hintergrund war in Berlin ein deutlich anderer als der in Paris. In diesem Kontext hat die 68er-Bewegung trotz mancher Kindereien eine deutliche Zäsur geschaffen und damit einen großen Beitrag geleistet für die Demokratieentwicklung in Deutschland. Tony Judt aber reduziert die Berliner Rebellen auf pubertäre Spinner:

    "In Deutschland bedeutete 'Revolution' etwas ganz anderes. Hier hatte niemand Spaß. Aus Sicht eines Engländers waren alle furchtbar ernst - und alle dachten immerfort an Sex (...) bei den Deutschen ging es in der Politik um Sex - und beim Sex um Politik. Beim Besuch einer westdeutschen Studenten-WG (...) habe ich staunend festgestellt, dass meine Altersgenossen tatsächlich von ihrer Rhetorik überzeugt waren. Unkomplizierter, beiläufiger Geschlechtsverkehr, erklärten sie, sei der beste Weg, sich von allen Illusionen über den amerikanischen Imperialismus zu befreien, und zugleich ein geeigneter therapeutischer Ansatz, die repressive Sexualität zu überwinden, die zum faschistischen Erbe der Elterngeneration gehört. (...) Die Vorstellung, ein zwanzigjähriger Westeuropäer könne elterliche Schuld überwinden, indem er Kleider und Hemmungen abstreift, gewissermaßen die Symbole der repressiven Toleranz abschüttelt, löste bei mir, dem empirisch denkenden, linken Engländer ein gewisses Misstrauen aus."

    Tony Judt hatte es nicht mit der Rebellion ohne Risiko, wie er an einer Stelle seines Erinnerungsbuches vermerkt. In Prag kämpften die Menschen gegen eine Diktatur unter Einsatz ihres Lebens. Dagegen war für den Historiker der Straßenkampf der Wohlstandskinder im Westen offensichtlich ohne Fundament und Legitimation. Judt verachtete zudem Theorie ohne eigene Anschauung. Das trennte ihn nach eigenem Empfinden von den Protestbewegungen der 60er-Jahre, aber interessanterweise auch von den Intellektuellen an der Pariser Ècole Normale.

    Ihren mangelnden Wirklichkeitsbezug sah er in den 70er-Jahren zunehmend begründet in der Trennung zwischen "dem banalen Konkreten, das man mit eigenen Ohren hören und mit eigenen Augen sehen kann, und der unfehlbaren Kraft des Verstandes". Und so feiert er in seinem Buch noch einmal die Zeiten, als französische Schriftsteller und Philosophen wie Camus, Sartre, Raymond Aron, Roland Barthes oder Michel Foucault großen gesellschaftlichen Einfluss hatten.

    Judt war ein Historiker mit einem wachen Blick für die soziale Realität und ein Sozialdemokrat mit Traditions- und Elitebewusstsein. Und so verbindet er die 60er-Jahre nicht nur mit einer vertanen Chance der studentischen Rebellen, den Aufbegehrenden in Osteuropa zur Seite zu stehen, sondern auch mit dem Niedergang der Bildung im klassischen Sinne. Im "Chalet der Erinnerungen" trauert er einer untergegangenen Epoche hinterher, die sich seiner Meinung nach eben nicht nur - zumindest in England - in "Austerity" oder einer größeren Wertschätzung der Arbeit äußerte, sondern, was die Eliten anging, auch durch intellektuelle Brillanz. Er macht für ihr Verblassen ein Bildungssystem verantwortlich, das zwar Chancengleichheit anbiete, aber vor der Auslese der Besten und der Ausbildung immer neuer Eliten zurückschrecke.

    "Wir, die Angehörigen meiner Generation, betrachteten uns als Radikale und zugleich als Angehörige einer Elite. Wenn das inkohärent klingt, so ist es die Inkohärenz eines bestimmten Liberalismus, den wir während des Studiums aufgesogen haben. Es ist die Inkohärenz des Patriziers Keynes, der das Royal Ballet und den Arts Council schuf, Institutionen, die der Allgemeinheit dienen, aber von den Besten geführt werden sollten. Es ist die Inkohärenz von Meritokratie: Jedem eine Chance geben und dann die Besten auswählen. Es war die Inkohärenz meines King‘s College. Ich bin dankbar, dass ich es erlebt habe."

    Über diesen Bildungsbegriff und die angeblich heute fehlende Förderung der Talentiertesten lässt sich sicherlich streiten. Aber als Mahner, der sich über Gesellschaften Gedanken machte, die sich zunehmend ihrer eigenen Errungenschaften und Zukunftserwartungen nicht mehr sicher sind, erfüllte dieser beeindruckende Gelehrte eine wichtige Funktion.

    Eines der Kapitel in diesem Abschiedsbuch, das besonders berührt, beinhaltet den Appell, in Zeiten von Facebook, MySpace und Twitter den Ausdrucksreichtum der Sprache nicht zu vernachlässigen.

    "Wenn wir den individuellen Ausdruck über formale Konventionen stellen, privatisieren wir, neben vielem anderen, auch die Sprache. (...) Am Ende herrscht Anarchie. (...) Wenn die Sprache verkommt, was wird an ihre Stelle treten?",

    schreibt der Gelähmte, für den auch die Sprechfähigkeit als letzte Verbindung zur Welt nach und nach verschwand.

    "Der Sprechmuskel, über sechzig Jahre mein zuverlässigstes Alter Ego, will nicht mehr. Kommunikation, Argumentation, Begründung - dies sind nun meine größten Schwächen. Das Sein in Gedanken übersetzen, Gedanken in Worte und Worte in Kommunikation - das wird bald nicht mehr möglich sein. Dann bleibt mir nur noch die Landschaft meiner inneren Reflexionen."

    Der englische Historiker Tony Judt hat uns neben seinem großartigen Werk ein schönes und intellektuell anregendes Erinnerungsbuch hinterlassen. Er, der in New York seine Heimat fand, zeigt sich hier noch einmal als überzeugter Europäer - und als engagierter Zeitgenosse, der sprachlich brillant die Räume vergangener Epochen besucht - sicherlich um Rechenschaft abzulegen über den eigenen Lebensweg, über die Themen und Debatten, die ihn bewegten.

    Aber erkennbar auch, um uns seine Gedanken über eine ungewisse Zukunft unserer Gesellschaften nahezubringen. Zukunft kann nur gestaltet werden, so muss man Tony Judt verstehen, wenn die humanen, sozialen und geistigen Errungenschaften unseres europäischen Erbes gepflegt werden. Dies alles formuliert mit dem Anspruch an sich selbst, die Grenzen des Sagbaren bis zuletzt auszukosten. Tony Judt schreibt, die Texte dieses Buches sollten eigentlich nie veröffentlicht werden, aber der Freund und Kollege Timothy Garton Ash habe ihn dazu überredet. Und wir Leser profitieren davon.

    Tony Judt: "Das Chalet der Erinnerungen". Hanser Verlag, 224 Seiten, 18,90 Euro.