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Darf lebenslang ein Leben lang dauern?

"Die Todesstrafe ist abgeschafft", heißt es im Grundgesetz. Über die lebenslange Freiheitsstrafe findet sich in der Verfassung keine ausdrückliche Regelung. Sie wurde praktiziert wie eh und je. Dann aber kamen Zweifel auf, ob das lebenslängliche Wegsperren mit der Menschenwürde vereinbar sei. Schließlich musste sich 1977 das Bundesverfassungsgericht mit dieser Frage befassen.

Von Horst Meier | 21.06.2007
    "IM NAMEN DES VOLKES!
    Die lebenslange Freiheitsstrafe für Mord ist [...] mit dem Grundgesetz vereinbar. Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse kann nicht festgestellt werden, dass der Vollzug dieser Strafe [...] zwangsläufig zu irreparablen Schäden psychischer oder physischer Art führt, welche die Würde des Menschen verletzen."

    Dienstag, 21. Juni 1977: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet sein mit Spannung erwartetes Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe. Sie ist verfassungsgemäß - aber nur unter Auflagen:

    " Zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, dass dem [...[ Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Die Möglichkeit der Begnadigung allein ist nicht ausreichend; vielmehr gebietet das Rechtsstaatsprinzip, die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe (zur Bewährung) ausgesetzt werden kann, [...] gesetzlich zu regeln."

    Dem Urteil vorausgegangen war ein spektakulärer Schritt des Landgerichts Verden: Es hatte den Mordprozess gegen einen in Rauschgiftgeschäfte verstrickten Polizeibeamten ausgesetzt und dem Verfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die lebenslange Freiheitsstrafe, die für Mord zwingend vorgeschrieben ist, mit dem Grundgesetz vereinbar sei. In der leidenschaftlich geführten Debatte ging es nicht zuletzt um das Selbstverständnis der strafenden Gesellschaft: Die Anhänger der unbefristeten Freiheitsstrafe warnten vor einem Dammbruch und beschworen die Generalprävention: Schreckliche Taten müssten mit abschreckenden Strafen belegt werden. Die Reformer hingegen sahen die Würde der Gefangenen verletzt. Die extrem lange Haft sei persönlichkeitszerstörend für Körper und Geist. Von "Mord auf Raten" war die Rede. Und manch ein Lebenslänglicher befürwortete gar, um der Qual ein Ende zu bereiten, die Todesstrafe.

    Nun also eine höchstrichterliche Entscheidung, die den goldenen Mittelweg sucht:

    "Wir haben gesagt, dass wir nach dem Stande der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnis nicht ausschließen können, dass - nicht in allen, aber in einer Reihe von Fällen -, persönlichkeitsschädigende Wirkungen von dem Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgehen.2"

    Ernst Benda, Präsident des Verfassungsgerichts, am Tag der Urteilsverkündung:

    ""Wir sagen dann aber weiter, dass dem durch zwei Dinge entgegengewirkt werden kann - und aus Verfassungsgründen auch gegengewirkt werden muss: nämlich erstens durch einen menschenwürdigen Strafvollzug. Dies ist, so weit es den Gesetzgeber anlangt, durch das Strafvollzugsgesetz von 1976 sichergestellt. Und der zweite Punkt ist, dass diesen persönlichkeitszerstörenden Wirkungen des Vollzugs einer lebenslangen Freiheitsstrafe dann entgegengewirkt werden kann, wenn dem Gefangenen ein Funken Hoffnung bleibt."

    Den Hinweis auf die denkbar ungewisse Möglichkeit einer Begnadigung ließ das Gericht nicht gelten. Vielmehr forderte es eine Verrechtlichung des Verfahrens und zwang damit den Gesetzgeber, zugunsten der Lebenslänglichen tätig zu werden: Seitdem hat jeder nach 15 Jahren das Recht, von einem Gericht prüfen zu lassen, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Es sei denn, er wurde mit Blick auf die "besondere Schwere" seiner Schuld zu einer längeren Mindesthaftzeit verurteilt.

    Alles in allem bestätigte das Verfassungsgericht jene Relativierung des lebenslänglich, die sich in der Gnadenpraxis auf 20 Jahre eingependelt hatte. Einen Bruch mit der absoluten Strafdrohung wagte es aber nicht. So bleibt es im Extremfall zulässig, die Strafe wirklich bis ans Lebensende zu vollstrecken. Dabei stellt sich noch heute die Frage, ob man bei Mord nicht besser von vornherein auf die lebenslange Strafe verzichten sollte.

    "Ja, ich meine allerdings man sollte von ihr absehen, weil ich meine, sie gehört nicht in das Rechtssystem eines humanen, sozialen Rechtsstaates hinein. Es ist sicherlich unbestritten, dass für das höchste Gut, das verletzt wird, auch die höchste Strafe notwendig ist."

    Helga Einsele, Schülerin des Rechtsphilosophen und Strafrechtsreformers Gustav Radbruch, leitete 28 Jahre das Frauengefängnis in Frankfurt-Preungesheim. Sie trat 1977 als Sachverständige vor dem Verfassungsgericht auf und wusste, dass nach 15 Jahren Haft nur noch eines bleibt: den Verfall der Persönlichkeit zu verwalten.

    "Aber es ist nicht unbedingt notwendig, dass diese Strafe eine lebenslange ist. Ich glaube, zum Schutz der Gesellschaft genügt es, wenn man eine sehr lange zeitige Strafe einsetzt und die Möglichkeit der anschließenden Sicherungsverwahrung. Das scheint mir das Humanste zu sein für unser Rechtssystem."