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Das Abendland lieferte selbst das Vorbild für die Kritik des Abendlands

Allahs Imperium schlägt zurück - auch diesmal übrigens mit westlichen Waffen, sprich: abendländischen Autoren. Sie liefern, gewissermaßen spiegelbildlich, die Antwort auf die fassungslose, unschuldig rassistische Frage des Westens nach dem 11. September: "Warum hassen die uns?"

Von Eike Gebhardt | 18.08.2005
    "Die" - das ist in dieser Form die ganze arabische Welt. Dem stereotypen Bild des Orients bei uns entspricht nämlich ein ebenso vorgerastertes Bild des Abendlandes im Orient. Unser dummdreistes Bild vom Orient hatte uns schon der New Yorker Palestinenser Edward Said um die Ohren geschlagen, jenes liebgewordene, in zahllosen Filmen und Romanen kanonisierte Potpourri aus Exotik und Erotik, aus Sinnenfreude und aus Repression, aus Sitten- und Sippenstrenge und deren oft unmenschlichem Ehrbegriff, kurzum: jenes Destillat aus Jahrhunderten Kolonialismus und dessen Legitimationsstrategien.

    Nicht nur arabische Intellektuelle wehren sich gegen diesen "Orientalismus" - so der Titel von Saids Buch. In der Regel erklären sie (ob im Exil oder in ihren Heimatländern) den Blick des Abendlandes auf den Islam durch westliche Interessenlagen, als eine Projektion, ein Destillat aus Angst und Abwehr, aus Ignoranz und Arroganz. Die Autoren des vorliegendes Bandes, jeweils aus England und aus Israel, beide hochrenommiert für ihre kenntnisreichen und empathischen Brückenschläge zwischen Politik und Kultur, haben gleichsam stellvertretend den Blick der Orientalen auf uns selber übernommen - seit Montesquieu eine fruchtbare Methode kultureller Selbstreflexion. Sie offenbart, kaum überraschend, Okzidentalismus als das Spiegelbild des Orientalismus.

    Frappierend freilich ihre Einsicht, dass die meisten außereuropäischen Kulturen für ihre Kritik am Abendland einfach Begriffe aus der Selbstkritik der Europäer übernahmen: Den Blick des edlen Wilden auf die eigene Kultur zum Beispiel - nicht nur Rousseau und Madame de Stael wirken, in der östlichen Welt bis heute nach, s. selbst Nietzsche und seine Kritik an der moralischen Dekadenz und Erschlaffung des Abendlands, ein beliebter Topos bis in unsere Tage. So spottete ein afghanischer Gotteskrieger: "Sie lieben Pepsi, wir den Tod". Diese Sichtweise des Westens als wehleidig, schwächlich und bequem, als dekadente Zivilisation, die süchtig nach Vergnügungen ist, erinnert an ganz ähnliche Empfindungen von Kämpfern in anderen heiligen Kriegen gegen den Westen.

    Übrigens auch im Westen selber, betonen die Autoren. Doch vor allem übernehmen östliche Kulturpuristen und Traditionalisten gerne einen Topos westlicher Romantiker und Reaktionäre: die Abneigung gegen das Aufklärungsideal einer rationalen Zivilisation, wie Margalit & Buruma in straffen Einzelskizzen zeigen; das gelte selbst für Japan und andere fernöstlicher Kulturen. "Rationalistische Klugheit galt als westliche Krankheit: als Klugheit ohne Weisheit."

    Die Folgen sind uns wohlvertraut - wir können sie im eigenen Land erleben:

    "Die meisten Spielarten des Okzidentalismus stellen dem leeren westlichen Rationalismus den tiefen Geist der 'Rasse' oder Glaubensgemeinschaft gegenüber, welche die Okzidentalisten jeweils
    gerade für die größte halten."

    Kein Okzidentalist, nicht einmal der fanatischste heilige Krieger, könne sich jemals vollständig vom Okzident befreien, haben Buruma und Margalit beobachtet.

    "Abhängiger Ungehorsam" - so laute die freundliche Umschreibung Richard Sennetts für diesen Sprengsatz. Wie Teenager von ihren Eltern, so kommen auch die angeblich Unmündigen nicht von den großen Teufeln los - sie können sich nur noch durch einen rituellen Mord von ihren Übervätern befreien. Der deutsch-libanesische Psychoanalytiker Gehad Mazarweh hat diesen fatalen Psycho-Mechanismus oft beschrieben.

    So kann die Auflehnung vielerlei Gründe haben, warnen die Autoren, d.h. nicht jeder Feind des Westens ist zugleich religiös motiviert, "Wir können nicht einfach linksradikale Gegner des 'US-Imperialismus' mit radikalen Islamisten in einen Topf werfen."

    "Linksradikale Gegner des US-Imperialismus" finden sich auch in den USA, Noam Chomsky zum Beispiel - während der alljährlichen Konferenz sozialistischer Wissenschaftler in New York, also der Höhle des kapitalistischen Löwen, finden sich vermutlich mehr Wahlverwandte für diesen Ansatz als im gesamten nahen Osten.

    Faszinierend der, im weitesten Sinn, gemeinsame romantische Nenner, die kleinen, ach so menschlichen Gemeinschaften seien durch die großen Städte auf- und abgelöst worden - eine auch im Westen populäre Fiktion: Die große Hure Babylon, die sich jedem hingibt, d.h. pluralistisch ist und damit die organische Wertegemeinschaft auflöst. Der natürliche Feind jedes Monotheismus ist nicht einfach ein anderer Gott, ein anderes Wertesystem, sondern die Wertevielfalt. Auch hier standen westliche Fundamentalisten Pate - die Kommunitarier verkünden diese Weltsicht noch heute, die einst Ferdinand Tönnies auf den bündigen Nenner seines Buchtitels gebracht hatte: Gemeinschaft und Gesellschaft. Im Widerwillen gegen die Stadt als Hort der Hure Pluralismus fanden die christlichen Puritaner ihre islamistischen Partner - die freilich auch gleich die praktische Korrektur vornahmen. Denn "alle politischen Islamisten waren Puritaner", warnen die Autoren.

    "Ein bewußt geplanter und durchgeführter Massenmord bediente sich eines antiken Mythos - des Mythos von der Zerstörung der sündigen Stadt. Die Frage ist nun: Wann wurde die Vorstellung von der Stadt als einem sündhaften Symbol für Gier, Gottlosigkeit und entwurzelten Kosmopolitismus fast ausschließlich mit dem Westen assoziiert?"

    So verblüffend wie einleuchtend erklären die beiden das Phänomen: "Menschenmengen bieten Raum für individuelle Exzentrizität. Man kann sich in der Masse verstecken. Ihre Gleichgültigkeit macht einen frei."

    Genau das macht die Stadt für alle Fundamentalisten so suspekt: Der Spielraum für ein individuelles Leben, das niemandem Rechenschaft schuldet: Im Pluralismus der großen Städte gibt es keine Instanz, die über Sitte und Ordnung (und damit die Grundlagen der Gemeinschaft) wachen würde. Dieser Mangel an Kontrollmöglichkeiten macht es allen Unangepassten leicht, unterzuschlüpfen. Doch statt das als ein humanes Potenzial des Stadtlebens zu sehen, wollen monomane Fanatiker genau diese Freiräume verhindern - ihr Feind ist nicht eine bestimmte Ketzerei sondern die Anmaßung der Wahlfreiheit! Die katholische Kirche war genau mit diesem Argument gegen alle Ketzer vorgegangen. Das Abendland lieferte selbst das Vorbild für die Kritik des Abendlands.

    In pluralistischen Gesellschaften kann man das Zusammenleben eben nicht mehr mit inhaltlichen sondern nur mir formalen Regeln gestalten, deshalb auch waren die großen Städte Brutstätten demokratischer Ideen. Die Werte einzelner Ideologien, Religionen, Lebensformen usw. gelten nicht für alle, man kann Andersgläubige nicht mehr disziplinieren. Und, so folgern sie: Hier liegt auch der Grund für den häufigen Hass auf die Demokratie, die menschliche Beziehungen formal, gleichsam verfahrenstechnisch regelt - und damit alle gleich behandelt; jede quasi-organische Gemeinschaft aber - vom Liebespaar bis hin zur Volksgemeinschaft - will die eigenen Mitglieder bevorzugen, fremde ausschließen.

    Zum Sprengsatz wird all das erst, wenn wir selber aus kurzfristigen Interessen kurzsichtig werden und - z.B. durch die falschen politischen Allianzen - unsere eigenen Totengräber produzieren:

    "Die Abneigung gegen oder der Haß auf den Westen stellen an sich kein wirklich ernstes Problem dar. Der Okzidentalismus wird erst dann zur Gefahr, wenn er sich mit politischer Macht verbindet."

    Just dieser Okzidentalismus herrscht nicht zuletzt mal wieder auch im Westen, vor allem in der christlichen Rechten der USA, wie liberale Kritiker im Land verzweifelt diagnostizieren: Der religiös beflügelte Kampf der Kulturen hat seine Kreuzritter an höchster Stelle.

    Ian Buruma/Avishai Margalit: Okzidentalismus.
    Hanser Verlag