Donnerstag, 18. April 2024

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"Das Bayreuth des Kurzfilms"

Meret Becker

Von Marli Feldvoß | 27.10.2004
    29. April 2004. Ich erkläre hiermit die 50. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen für
    eröffnet.


    Gerhard Schröder
    Liebe Meret Becker. Ich wollte wirklich in gesetzten bedeutungsschwangeren Worten den Satz sagen: Hiermit sind die Kurzfilmtage eröffnet. Und was passiert? Sie klauen mir diese Möglichkeit. Das ist nicht fair, aber Ihnen seh' ich’s nach.

    Eine solche Eröffnungspanne, selbst mit dem deutschen Bundeskanzler, kann die Internationalen Kurzfilmtage nicht erschüttern. Ein halbes Jahrhundert lang sind dort schon unbotmäßige, meist der deutschen Filmpolitik geschuldete Zwischenfälle an der Tagesordnung. Nur ganz am Anfang, in den vier Tagen des Gründungsfestivals im Oktober 1954, als es noch "Westdeutsche Kulturfilmtage Oberhausen" hieß, gab man sich mit Kurzfilmen wie Paul Steinbergs 'Alle Menschen sind Brüder' und Jean Mitrys 'Pacific 231' noch politisch neutral oder abstrakt-spielerisch. Als der Oberhausener Volkshochschulleiter Hillmar Hoffmann 1954 das Kurzfilmfestival aus der Taufe hob, sollte es das geschichtlich noch junge proletarische Kohlerevier um Kultur und Bildung bereichern.

    Der Film besaß eine echte volksbildnerische Funktion. Film als eines der wenigen Allgemeingüter der Menschheit wurde von allen verstanden. Zudem dürfen Sie nicht vergessen, dass wir gerade zwölf Jahre hinter uns hatten, in denen den Menschen in Deutschland jede Information über den internationalen Film vorenthalten worden war.
    Jahre, in denen der Film nur eine propagandistische Funktion hatte.

    Der Bildungsauftrag und der dazugehörige Kulturfilm wurden groß geschrieben. Dafür standen mit "Van Gogh" und "Guernica" gleich die Debütfilme von Alain Resnais auf dem Programm, der hier auch seinen von der Bundesregierung geächteten Auschwitzfilm "Nuit et brouillard" zeigen durfte. Oberhausen, nach Hillmar Hoffmann "per definitionem politisch", war 1962 also genau die richtige Plattform für das Oberhausener Manifest. Alexander Kluge:


    Wir erklären unseren Anspruch, den Neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner, Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des Neuen deutschen Films konkrete geistige, formale wirtschaftliche Vorstellungen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.

    In seiner 'großen Zeit' der Sechziger verfolgte Oberhausen mit seinem neuen Motto "Weg zum Nachbarn" sogar seine eigene Ostpolitik, mit Annäherungen an die DDR und Osteuropa, wohin die meisten Preise gingen; Experimentelles blieb lange unerwünscht. Zwangsläufig wurde 1968 Hellmuth Costards Kurzfilm "Besonders wertvoll", der einen sprechenden Penis zum Hauptdarsteller machte, wegen Pornographieverdachts verboten. Da legte einer den Finger ins deutsche Bevormundungs- und Besserwisserwesen – genauso wie Alexander Kluge in "Abschied von gestern":

    Anita: Herr Professor, passen Sie auf: ich brauche einen Rat.
    Prof: Ich meine es gut mit Ihnen. Ich versuche, Sie zu erziehen.
    Anita: Eine Bekannte, die kam aus dem Osten. Hier im Westen beging sie Diebstähle. Sie wird im Fahndungsblatt gesucht.
    Prof: Vor allen Dingen müssen Sie viel lesen. Die Gedanken schulen sich beim Lesen.


    In den 'roten' Siebzigern beherrschte der politische Film die Szene. Oberhausen blieb der Ort für Protest und Einmischung, schon deshalb, weil dem Festival so lange die ihm eigentlich zustehende Bundesförderung verweigert wurde.

    Inzwischen hatte Hillmar Hoffmann nach 26 Jahren Amtszeit das Zepter aus der Hand gelegt - Will Wehling, Wolfgang Ruf, Karola Gramann, Angela Haardt und seit 1997 Lars Henrik Gass folgten nach. Das Programm ist längst von anfänglichen 45 auf 300 Filme angewachsen. Trotz der vielen Neuerungen der letzten Jahre, trotz des Spagats zwischen Popkultur, Werbeclip, Experiment und politisch ambitioniertem Kurzfilm hält Festivalleiter Gass letztlich an den alten Maximen fest:

    Ich nenne Oberhausen immer so etwas spöttisch das Bayreuth des Kurzfilms, weil man sich Wagneropern genauso gut auf CD oder auf 3-SAT im Fernsehen anschauen könnte. Aber es ist doch eine sehr eigenwillige Erfahrung vor Ort, die Begegnung zu suchen oder die Zusammenhänge, die sich auf einem Festival ergeben.