Freitag, 29. März 2024

Archiv


Das Buch der von Neil Young Getöteten

Gleich der erste Satz in Navid Kermanis sehr persönlichem, klugem und kenntnisreichem Essay markiert die Breite seines thematischen und motivischen Spektrums, deren Fallhöhe und zugleich die Kühnheit eines Unternehmens, das die Extreme zusammenführen will:

Christoph Schmitz | 26.03.2003
    Als wolle Gott ihr die Erkenntnis einbläuen, dass sie das Paradies verlassen habe, als wolle er ihr die Erinnerung rauben oder, schlimmer noch, die Geborgenheit zu einer bloßen Erinnerung gerinnen lassen, bekam meine Tochter regelmäßig abends um acht oder halb neun Blähungen.

    Das Paradies, die Vertreibung, Gott und die Blähungen – alles in einem Atemzug und im zweiten: Neil Young. Denn seine Musik bringt die Rettung. Sobald der sich in der sogenannten Drei-Monats-Kollik windende und schreiende Säugling die Musik von Neil Young hört, schwindet der Schmerz, wird das Kind still und glücklich. Den kanadischen Rockmusiker, Liedtexter und Gitarristen Neil Young mit seiner nicht nur äußerlichen Nähe zur Country-Music in Verbindung mit einem wundersamen Erlösungswerk zu bringen, wirkt schief dimensioniert. Dennoch bezieht Navid Kermanis Text seinen Reiz und seine Dynamik gerade aus dieser scheinbaren Schieflage. Das vermeintliche triviale popkulturelle Phänomen wird mit einer akademischen Gelehrsamkeit und Ernsthaftigkeit, mit einer elaborierten und feinsinnigen Prosa angegangen, als ginge es ums Ganze. Und darum geht es tatsächlich.

    Bei Essen, bei Sex, bei Neil Young, bei Adorno – es geht um dasselbe, zumindest in einem bestimmten Bereich. Ich habe da keine Hierarchien, also mit der gleichen Ernsthaftigkeit, mit der ich zum 1. FC Köln gehe, das nehme ich ernst, ich lasse mich ein auf das Schauspiel. Diese Erfahrung des Aus-sich-Heraustretens, das sind Erfahrungen, die uns en miniature täglich begegnen. Nur das sie so klein sind, dass wir sie gar nicht fassen und gar nicht reflektieren. Vergrößert ist es das, was einem die Musik von Neil Young bereitet oder eben auch andere Erfahrungen bereiten, und was Menschen seit jeher, seit sie mit Musikerfahrungen zu tun haben, die nicht mehr in den Kategorien der realen Welt zu fassen sind, versucht haben zu beschreiben, also wirklich eine Grunderfahrung. Das ist eine zentrale Erfahrung, die auch keineswegs neu ist. Nur was nicht so ganz neu ist oder normal ist, dass man diese Erfahrung auf die sogenannten Alltagsphänomene zuordnet. Und das eine ist nicht heiliger als das andere, sondern auch ein Neil Young oder FC Köln, was auch immer, es kommt auf unseren Blick an.

    Navid Kermani hat aber zuerst einmal ein Musik-Buch über Neil Young geschrieben. Deutsche Rockgrößen und Neil Young Spezialisten haben es schon ausreichend gelobt. Aber um es gleich zu sagen, man muss weder ein Neil Young Fan sein, um das Buch zu verstehen, man muss nicht einmal Neil Young und seine Musik kennen, um es lesen und genießen zu können. Kermani ist ein profunder Kenner Neil Youngs, jemand, der die Musik und vor allem die Texte sehr genau analysiert und interpretiert, aber nicht aus musikwissenschaftlicher, sondern philologischer und religionswissenschaftlicher Sicht. Er ordnet seine Lyrik literaturgeschichtlich in die Gattungen und Erzählformen der Völker ein und hebt sie schon damit in den Stand der etablierten Kunst. Aber Kermanis Zielrichtung ist eine andere, geht über die Kunst hinaus. So deutet er den Text des Liedes "Cortez The Killer" als Menschheitsmythos, ...

    ... nämlich als unlogisches Festhalten daran, dass das, was ist, nicht alles und Erlösung möglich ist, daran, dass wir geliebt werden, ein Glaube so realistisch wie die Existenz einer verborgenen aztekischen Prinzessin im heutigen Mexico-City; die Katastrophe des Anfangs als schemenhafte Erinnerung, die Verstrickung in eine Schuld, von der wir nicht einmal genau wissen, worin sie besteht – im Zweifelsfall darin, ein Mensch zu sein, dem Geschlecht eines Mörders wie Cortez anzugehören.

    Ich glaube, dass die Ironie in der Ernsthaftigkeit besteht. Wenn sich jemand furchtbar ernst nimmt, dann wirkt das auf Außenstehende komisch. Das ist der ganze Trick wie bei Buster Keaton, Charly Chaplin oder Woody Allen, die ganze Komik läuft ja bei ihnen so, dass sie sich selbst nie ironisch nehmen oder sie nehmen sich niemals unernst. Aber gerade weil sie sich so extrem ernst nehmen, wird es für Außenstehende komisch. Und wenn es im Buch hier und da komisch wirkt, dann auf dieser Linie. -- Das Schöne an Navid Kermanis Essay ist, dass er seine geisteswissenschaftlichen Ausführungen immer wieder an die eigene Erfahrung rückbindet, sie autobiografisch erdet, etwa im Zusammenleben mit dem Säugling. So entseht nebenbei unter anderem nicht nur ein Selbstbildnis, sondern auch das Porträt einer Generation, der anderen Generation Golf, denn auch bei Kermani spielt die Fahrt im VW eine Rolle, im Unterschied zu den Konsumjüngern eines Florian Illies kommt es bei Kermani zum charismatischen Augenblick.

    Navid Kermanis Arbeit ist eine existenzielle Selbstvergewisserung, deren Vehikel und Ziel Neil Young ist. Ähnlich wie bei Peter Handkes "Versuch über die Jukebox" werden bei Kermani das Ephemere des Alltags und die Populärkultur zum Koordinatensystem von Heimat. Heimisch fühle er sich, wo Neil Young gespielt wird. Der Beat des Stücks "Down by the river" trage weit, heißt es an anderer Stelle, wer sich auf das sein Tempo einlasse, dem gehe so schnell nicht die Puste aus, seien es Probleme mit Frauen oder Blähungen von Baby. Und dann kommt wieder eine dieser Volten ins Grundsätzliche: Neil Youngs Beat lehre ...

    ...das Leben in seiner rechten Dimension zu sehen, nämlich als langer Marsch, der zu nichts führt.

    Aber auch bei dieser Erfahrung macht Kermani nicht Halt, treibt seine Deutung weiter, zieht den Text von "Down by the river" hinein in die islamische Mystik, über die der Autor promoviert hat, die eine alte Handschrift mit dem Titel "Das Buch der vom Koran Getöteten" kennt. Kermani hat sie für das 21. Jahrhundert umgeschrieben.

    Für mich selbst ist das ein sehr frommes Buch. Es vermittelt sich vielleicht nicht so sehr, es ist nicht konfessionell. Es geht um Erfahrungen, die sehr viel mit Religion zu tun haben oder mit dem, dass es eine Welt außerhalb dieser Welt gibt.

    Dabei ist der Autor kein naiver Schwärmer, der sich vom frommen Rausch oder von den Extasen des Pop einfach so umnebeln lassen würde. Außerdem kennt er die Problematik Neil Youngs und benennt die Schwächen des Musikers. Aber es wäre kein Kermani-Text, wenn auch das technisch Provisorische nicht als geheimen Weg zum Hintereingang ins Paradies gedreht würde.

    Neil Young ist auf seine Weise ein sehr bewusster Musiker. Er würde das nicht in Kategorien fassen, die die meinen sind; aber gerade was das Improvisierte angeht, das Unfertige, das Rohe, das hat er ganz genau im Blick und das versucht er immer wieder herzustellen oder sich dahinzutreiben und darum auch immer wieder die Bands und die Stile ändert, damit es nicht fertig wird. Insofern ist es ein Wesenselement und die absolute Faszination von Neil Young.