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Archiv

Das Bundesjustizministerium in den 50er-Jahren
Rund drei Viertel der Mitarbeiter mit NS-Vergangenheit

Wie viele Mitarbeiter des Bundesjustizministeriums hatten in den 50er- bis 70er-Jahren eine NS-Vergangenheit? Mindestens die Hälfte - lautet die Antwort einer Studie mit dem Titel "Die Akte Rosenburg". Die Autoren Manfred Görtemaker und Christoph Safferling hatten dafür uneingeschränkten Zugang zu Archiv und Personalakten des Ministeriums.

Von Otto Langels | 28.11.2016
    Heiko Maas im Gustav-Heinemann-Saal am 10. Oktober 2016 anlässlich der Vorstellung des Abschlussberichts "Die Akte Rosenburg – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit", v.l.n.r. Professor Dr. Christoph Safferling, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Heiko Maas und Professor Dr. Manfred Görtemaker.
    Die Autoren der Studie Christoph Safferling (l.) und Manfred Görtemaker (r.) mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und ihrem Amtsnachfolger Heiko Maas (SPD). (photothek /Thomas Koehler)
    Thomas Dehler, der erste Justizminister der Bundesrepublik, wurde im "Dritten Reich" verfolgt, weil er mit einer Jüdin verheiratet war und engen Kontakt zu Widerstandskreisen hielt. Seinen Staatssekretär Walter Strauß vertrieben die Nazis wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Justizdienst. Die Gründungsväter des Bundesjustizministeriums waren daher über jeden Verdacht erhaben, Nazis gewesen zu sein. Gleichwohl waren sie dafür verantwortlich, dass viele NS-belastete Juristen nach 1949 in ihrer Behörde eine Anstellung fanden. Warum? Die Antwort von Manfred Görtemaker und Christoph Safferling:
    "Die Nutzung der Funktionseliten, auch wenn sie einen hohen Belastungsgrad aufwiesen, war politisch gewollt, weil von ihnen, wie man meinte, nicht nur das Funktionieren des neuen Staates abhing, sondern weil man davon auch eine Integrationsleistung erwartete, die anders als in der Weimarer Republik, wesentlich zur inneren Stabilität der Bundesrepublik beitragen sollte."
    NS-Täter machten ungehindert Karriere in BRD-Behörden
    Funktionseliten wie die Juristen hatten die Verbrechen des NS-Regimes nicht nur gebilligt, sondern auch direkt oder indirekt daran mitgewirkt, sei es als Richter oder Staatsanwälte oder als Angehörige des Reichsjustizministeriums.
    Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker, Autor der "Akte Rosenburg", verweist auf Eduard Dreher, den spektakulären Fall eines Mannes mit einschlägiger NS-Vergangenheit, der im BMJ, im Bundesjustizministerium, Karriere machte:
    "Er war erster Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck gewesen, hatte dort eine ganze Reihe von Todesurteilen erwirkt, das heißt, er hat sich selber in hohem Maße strafbar gemacht, war zumindest beteiligt an einem Justizmord."
    Wie die Autoren in ihrer grundlegenden, sachlich gehaltenen Untersuchung nachweisen, lancierten die Juristen erfolgreich die Legende, sie hätten im "Dritten Reich" allenfalls eine unbedeutende Nebenrolle gespielt oder gar Schlimmeres verhütet. Zu Recht verweisen die Autoren auf die bekannte, 2010 erschienene Studie zum Auswärtigen Amt, die ähnliche Entlastungsversuche konstatierte.
    Bis zu drei Viertel der BMJ-Mitarbeiter hatten NS-Vergangenheit
    So konnte eine erstaunlich große Zahl "furchtbarer Juristen", wie sie später kritisch genannt wurden, nach 1949 problemlos im BMJ unterkommen:
    "Wenn man sich auf die Gesamtzeit bezieht, dann waren gut die Hälfte der Mitarbeiter des Hauses Mitglieder der NSDAP oder in anderen NS-Organisationen, aber das ist eine Durchschnittszahl. Wir haben das Phänomen, dass die Belastung zu Beginn der 1950er-Jahre noch vergleichsweise gering war, aber sie ist dann in den 50er-Jahren deutlich angestiegen, so dass wir am Ende der 50er-Jahre tatsächlich eine Zahl haben, die etwa drei Viertel der Mitarbeiter betrifft."
    Zeitweilig sah es so aus, als ob eine einschlägige NS-Vergangenheit sich positiv auf die Karriere im Justizapparat auswirkte. Bis 1973 waren mehr als fünfzig Prozent der Führungskräfte im BMJ ehemalige NSDAP-Mitglieder.
    Manfred Görtemaker und Christoph Safferling hatten uneingeschränkten Zugang zum Archiv des Justizministeriums, auch zu den Personalakten. So können sie auf solider Quellenbasis die hochgradige Kontinuität zwischen NS-Justiz und BMJ bilanzieren und die fatalen Folgen der Personalpolitik für die Gesetzgebung und Rechtspraxis der Bundesrepublik aufzeigen: Das Jugendstrafrecht oder der Mordparagraph wurden nur oberflächlich entnazifiziert, Homosexuelle, Opfer der Euthanasie, Sinti und Roma jahrzehntelang kontinuierlich diskriminiert.
    Gesetze offenbarten zum Teil Gesinnung der Juristen
    "Die NS-Belastung einzelner Abteilungen spiegelte sich im Inhalt der Referentenentwürfe für die Gesetzgebung wider. Auf ganz besondere Weise kam die innere Verbundenheit mit dem Dritten Reich bei der Verfolgung von NS-Straftätern zum Ausdruck, die von der deutschen Justiz geradezu verhindert wurde – begleitet und gefördert nicht zuletzt vom Bundesjustizministerium."
    Zu den schwerstbelasteten Beamten zählte Franz Massfeller. Als Vertreter des Reichsjustizministeriums hatte dieser an Besprechungen zur sogenannten "Endlösung der Judenfrage" teilgenommen sowie an Kommentaren zum berüchtigten "Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz" mitgewirkt. Obwohl seine Vergangenheit bekannt war, stieg Massfeller nach 1949 zum Referatsleiter Familienrecht auf:
    "Jahrzehntelang repräsentierte er die Gesetzgebung und deren Kommentierung im deutschen Familienrecht, das er zugleich beeinflusste und lenkte. Dabei reichte sein langer Arm zurück bis zur sogenannten 'Machtergreifung' Hitlers. Das Ministerium ehrte Massfeller, der 1966 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte, für seine 'ausgezeichneten Kenntnisse, seine Schaffenskraft und seine Gewissenhaftigkeit', die ihn zu 'höchsten Leistungen' befähigt hätten."
    Studie: Mitarbeiter zeigten weder Unrechtsbewusstsein noch Einsicht
    1968 entstand im Ministerium der Entwurf für ein "Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitsgesetz". Der harmlos klingende Titel kaschierte eine Verjährung von NS-Verbrechen. Am 1. Oktober trat dieses Gesetz in Kraft, Zehntausende von Strafverfahren gegen NS-Täter mussten eingestellt werden. Hinter dem geschickten Täuschungsmanöver stand der bereits erwähnte Eduard Dreher, der vor 1945 an zahlreichen Todesurteilen mitgewirkt hatte; nach dem Krieg eine führende Figur im BMJ und einflussreicher Kommentator des Strafgesetzbuches.
    "Dreher musste natürlich auch Ende der 60er-Jahre persönlich befürchten, nachdem die Öffentlichkeit durch den Eichmann-Prozess und die Auschwitz-Prozesse in viel höherem Maße als vorher sensibilisiert worden war für diese Taten, dass das auch bekannt würde. Und dann hätte er tatsächlich auch nach den damaligen geltenden Gesetzen verurteilt werden können. Insofern hatte er auch durchaus ein persönliches Motiv."
    Ansätze von Unrechtsbewusstsein unter den ehemaligen NS-Juristen haben die Autoren in den Akten des Justizministeriums nicht gefunden, kein Wort der Einsicht oder der Entschuldigung. Diese Generation, so lautet das Fazit der aufschlussreichen Studie, sei unfähig gewesen, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
    Manfred Görtemaker, Christoph Safferling: "Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit"
    C.H. Beck Verlag, 588 Seiten, 29,95 Euro.