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"Das Deutsch der Migranten gibt es nicht"

Viele Bürger mit Migrationshintergrund sprechen kein reines Hochdeutsch. Besonders Jugendliche unterhalten sich in einem eigenen, nach den Sprachregeln völlig falschem, Slang. Kein Problem, sagt die Soziolinguistin Inken Keim - solange die Kinder auch Standarddeutsch lernen, wenn sie später eine Berufsausbildung machen oder studieren wollen.

Das Gespräch führte Stefan Koldehoff | 13.03.2012
    Stefan Koldehoff: Etwas mehr als acht Millionen Familien mit Kindern unter 18 Jahren gibt es in Deutschland, und in jeder dritten dieser Familien - das hat eine heute veröffentlichte Studie ergeben - hat mindestens ein Elternteil, was seit einiger Zeit "Migrationshintergrund" heißt: Hat also eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft, wurde eingebürgert oder ist Russlanddeutsche oder Russlanddeutscher. Mit der Sprache, die sich in solchen Familien, aber auch in Schulen und in der Freizeit, entwickelt, beschäftigen sich seit einiger Zeit die Soziologen, denn in Abwandlung des Zitats eines ehemaligen Bundespräsidenten: Das Deutsch der Migranten gehört zu Deutschland.

    "Kiezdeutsch" allerdings – so der Titel eines aktuellen Buchs zum Thema – griffe zu kurz, denn weder ist diese Sprache einheitlich, noch entsteht sie ausschließlich an bestimmten Orten.

    Die 48. Jahrestagung des "Instituts für Deutsche Sprache", die heute in Mannheim beginnt, ist deshalb dem "Deutsch der Migranten" in all seinen Ausprägungen gewidmet. Erste Frage deshalb an die Sprachsoziologin Inken Keim: "Das Deutsch der Migranten" - so der Titel der Tagung, an der Sie teilnehmen -, das gibt es dann aber doch gar nicht?

    Inken Keim: Das Deutsch der Migranten gibt es nicht. Es gibt keine einheitliche Sprachform, die alle Migranten und Migrantinnen sprechen würden. Migranten sind auch Professoren, die nach Deutschland kommen und ihre Kinder in Europaschulen schicken. Die werden ganz anders sprechen als ein arabisches oder sonstiges Kind, das in den sogenannten Migranten-Ghettos – also das ist eine Bezeichnung von den Leuten selbst -, die also daher kommen. Also das Deutsch der Migranten gibt es nicht.

    Koldehoff: Und trotzdem gibt es so eine Sprache, die dem Klischee des Migrantendeutschs entspricht – mit bestimmten Redewendungen, "ich hau dich Krankenhaus" oder "ich weiß, wo dein Haus wohnt" oder solche Geschichten.

    Keim: Ja.

    Koldehoff: Wie entsteht so etwas?

    Keim: Es gibt – und das ist der zentrale Punkt – in den großen Städten Ballungen in bestimmten Stadtgebieten. Das sind Stadtgebiete, die traditionell Arbeiterstadtgebiete sind, auf der sozioökonomischen Ebene eher zu den benachteiligten Stadtgebieten gehören, und in die sind in den letzten 30, 40, 50 Jahren (vor allem auch wegen billiger, günstiger Wohnungen, großer Wohnungen) Migranten eingezogen. Und in diesen Stadtgebieten, da sind multiethnische Stadtgebiete, also mehrsprachige. In Mannheim zum Beispiel gibt es 170 Sprachen. Familiensprachen leben hier zusammen und bilden dann in diesen Stadtgebieten, in den Schulen in den Stadtgebieten, was die Linguisten Ethnolekte oder Multiethnolekte bezeichnen.

    Koldehoff: Nun kann man das ja durchaus positiv sehen, da versucht jemand, sich die deutsche Sprache anzueignen. Was dabei herauskommt, ist dann kein reines Hochdeutsch, aber doch immerhin Deutsch.

    Keim: Diese Ethnolekte oder Multiethnolekte basieren im Wesentlichen auf dem Umgangsdeutschen, allerdings mit einigen Besonderheiten, und zu den Besonderheiten gehört – das wird ja auch immer wieder beschrieben -, Artikel fallen aus, in Lokal- und Richtungsangaben kommen keine Präpositionen vor und es gibt ganz bestimmte Partikel, die neu gebildet werden. Aber auch das ist vor allem eine Sprache der zweiten und dritten Generation, also der jungen Generation, und im Augenblick, wo die jungen Leute in Berufe, in höhere Schulen oder wo immer auch hinkommen, lernen sie im Laufe ihrer schulischen Sozialisation in der Regel Umgangs- beziehungsweise Standarddeutsch, sodass diese Ethnolekte oder Multiethnolekte eine weitere Stilmöglichkeit sind, um sich auszudrücken.

    Koldehoff: Nun finden leider nicht alle Kinder aus Migrantenfamilien auf höhere Schulen, oder besuchen die Schule so lange wie Kinder aus Nicht-Migrantenfamilien.

    Keim: Das ist richtig, ja.

    Koldehoff: Es gibt deswegen Sprachförderung.

    Keim: Ja.

    Koldehoff: Hat die überhaupt einen Sinn, ...

    Keim: Natürlich!

    Koldehoff: ... , oder kommt die gegen das Deutsch der Sprache gar nicht an?

    Keim: Natürlich hat die Sinn. Die hat sogar einen sehr großen Sinn. Die Kinder und Schüler(innen) lernen sehr schnell. Oft können sie auch Umgangsdeutsch und lernen sehr schnell Standarddeutsch. Das heißt, sie lernen sehr schnell zu unterscheiden zwischen dem, was in der Schule verlangt und gebraucht wird, und dem, was in ihrer Jugendgruppe, in ihrer Kindergruppe normal ist. Und im Augenblick, wo sie diese Unterschiede kennen und im Standarddeutschen und vor allem dann auch im Schriftdeutschen gefördert werden, ist es überhaupt kein Problem, wenn sie untereinander in einer Art Jugendsprache dann ihren Ethnolekt praktizieren.

    Koldehoff: Also können wir einfach ganz entspannt damit leben, ...

    Keim: Ja, natürlich!

    Koldehoff: ... , dass es neben den zahlreichen Dialekten in Deutschland jetzt auch Ethnolekte gibt. – Nun gibt es ja zahlreiche Politiker, die immer wieder fordern, wer in diesem Land lebt, der muss gefälligst auch vernünftig die deutsche Sprache beherrschen. Erstaunlicherweise sind das gerne auch Politiker, die ich zum Beispiel ...

    Keim: ... , die selbst Dialekt sprechen.

    Koldehoff: ... beim politischen Aschermittwoch in Passau gar nicht so gut verstehe. Sind diese Forderungen demnach gar nicht so begründet?

    Keim: Die Forderungen sind unsinnig. Was die Kinder lernen müssen, was alle Kinder lernen müssen, ist Standarddeutsch und Schriftdeutsch, wenn sie die Schule erfolgreich durchlaufen wollen und wenn sie erfolgreich in eine Berufsausbildung oder sich in ein Studium begeben wollen. Was sie daneben tun, geht weder einen Politiker aus Bayern, noch sonst irgendjemanden was an. Das sind Jugendsprachformen. Andere sprechen Dialekte oder sprechen irgendwelche Arbeitersprachen oder sonst Fachsprachen, Jargons, irgendwas.

    Koldehoff: Und wird, abschließend gefragt, in Sachen Sprachförderung, die Sie gerade als wichtig beschrieben haben, wird da genug getan?

    Keim: Nein!

    Koldehoff: Klare Antwort. - Die Sprachsoziologin Inken Keim über die Deutschs der Migranten. Vielen Dank.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.