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Das deutsche Nationalgefühl auf dem Prüfstand
"'Wir sind das Volk!' ist heute ein Satz des dumpfen Ressentiments"

Das deutsche Nationalgefühl als historische Kategorie gebe es nicht in dem Maße wie in anderen Nationen, sagte der Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow. Die derzeit erlebten Ängste kämen nicht aus dem "Nationsgedanken". "Wir sind das Volk!", ein Satz der Emanzipation und der Freiheit, sei heute ein Satz des dumpfen Ressentiments.

Martin Sabrow im Gespräch mit Karin Fischer | 01.03.2016
    Pegida-Demonstranten halten ein Tranparent hoch, auf dem "Wir sind das Volk" steht.
    Anhänger der Pegida-Bewegung demonstrieren in Dresden gegen eine angebliche Überfremdung Deutschlands durch Flüchtlinge. (picture alliance / dpa/ Kay Nietfeld)
    Karin Fischer: Wer ist eigentlich wir? Wer ruft gerade "Wir sind das Volk!" und aus welcher Perspektive? Wie weit geht der Definitionsraum dessen, was heute als Deutsch gilt? Warum wird der Ausdruck der deutschen Volksgemeinschaft plötzlich wieder hoffähig? Darüber machen sich Soziologen, Kulturwissenschaftler und Journalisten Gedanken, die versuchen, den mentalen Rechtsruck in Deutschland zu verstehen. In den "Kulturfragen" im Deutschlandfunk meinte dazu der Sozialpsychologe und Konfliktforscher Andreas Zick:
    "Die meisten Menschen können sich unter diesem Wir eben nur einen Nationalstolz vorstellen und eine homogene Volksgemeinschaft, und daran glauben sehr viele und sie hoffen, mit dieser Verheißung einer homogenen Volksgemeinschaft, wo andere, die zuwandern, sich vollständig assimilieren, dass sie damit eigentlich ihre Vorteile, die sie erwirtschaftet haben, behalten können. Wir haben eben keine andere. Die Zivilgesellschaft, die jetzt im Moment sich ehrenamtlich sehr stark macht, auch die Migrationsgesellschaft. Wir haben festgestellt, viele Menschen mit Migrationshintergrund können dieses gemeinsame Wir noch nicht denken, haben kein Bild. Wir haben es immer noch nicht geschafft, Diversität richtig zu denken, ohne als Bedrohung wahrzunehmen."
    Fischer: Andreas Zick war das. - Warum können wir Deutschen ein Wir nur als nationalistisches, nicht als diverses Wir denken? Die Frage ging an Martin Sabrow, den Direktor des Zeithistorischen Instituts in Potsdam, der in seinem Institut vor allem auch die Sozialisationsgeschichte und Mentalitäten der Ostdeutschen im Blick hat. Hier seine Antwort.
    Martin Sabrow: Na ja, ich denke, weder Historiker noch Soziologen oder auch Sozialpsychologen haben im Moment einfache Antworten. Wir erleben im Moment eine Beschleunigung des Historischen, vor der auch Zeithistoriker mit einer gewissen Sorge, vielleicht auch Unfähigkeit stehen, schnelle Antworten zu liefern. Ausgangspunkt ist eine migrantische Revolution, die die Geschichte Europas und der Bundesrepublik dauerhaft verändern wird, und insoweit sind wir alle ein bisschen stochernd im Nebel. Ich finde die Überlegung von Herrn Zick sehr interessant und anschlussfähig, frage mich aber, ob schon der Begriff "Wir Deutsche" überhaupt noch ein tauglicher Ausgangsbegriff ist, um dann mentale Vermutungen anzustellen, wie die Deutschen beschaffen sind. Ich glaube, damit gehen wir schon auf den Leim eines Populismus, der sich einen Begriff von Deutsch sein denkt und konstruiert, der keine realhistorische Fundierung hat. Jeder achte Staatsbürger der Bundesrepublik ist nicht deutscher Herkunft und seit 1990, seit 1945 leben wir mit Migrationswellen, die den Begriff des Deutschen eigentlich nur zu einer Parole macht, aber nicht zu einer Substanz historischer und zeithistorischer Erkenntnis.
    Der Historiker Martin Sabrow
    Der Historiker Martin Sabrow (Zentrum für Zeithistorische Forschung)
    Fischer: Deswegen geht die Frage an Sie, Herr Sabrow, der sich ja auch tatsächlich mit den Verhältnissen in Ostdeutschland sehr, sehr gut auskennt. Warum haben die Menschen so viel Angst vor Migranten, vor Flüchtlingen eben dort? Wieso gibt es diese harschen Reaktionen und kann man sich das im Vergleich zu Westdeutschland, wo wir tatsächlich mit den sogenannten Ausländern ja schon sehr lange zusammenleben, historisch erklären?
    Sabrow: Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, aber auch hier muss der Historiker erst mal die Frage ein bisschen zurückgeben. Ist es wirklich so, dass wir diese ost-westdeutsche Grenze so scharf ziehen können, wie wir es tun? Auch die Bundesrepublik lebte lange Zeit von einem D-Mark-Patriotismus oder einem D-Mark-Nationalismus, oder wie Jürgen Habermas sagte, von einem Verfassungspatriotismus. Tatsächlich gibt es ja das deutsche Nationalgefühl als historische Kategorie nicht oder nicht in dem Maße, wie es andere Nationen haben. Es ist eher eine Leerstelle, meine ich, das, was wir mit dem Begriff des deutschen Nationalgefühls bezeichnen, und in die kann man auf verschiedene Weise hineingehen: durch verschämtes Ausweichen, durch ironisches Bekenntnis, wie wir das mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 erlebt haben, und jetzt erleben wir Ängste, die ganz anderswo herkommen, glaube ich, als aus dem Nationsgedanken, die sich aber national schmücken, national aufputzen, weil hier ein Werkzeugarsenal da ist, das zur Verfügung steht und das gelegentlich ja sogar die völlige Umwertung bekannter Begriffe bedeutet. "Wir sind das Volk!" was für ein Satz noch vor einem Jahr, ein Satz der Emanzipation und der Freiheit, heute ein Satz des dumpfen Ressentiments.
    Fischer: Was ist denn Ihrer Ansicht nach, Herr Sabrow, der Grund für diese Art von Seelenlage, sage ich jetzt mal? Denn die Ängste vor der Flüchtlingskrise, vor der Einwanderung, dazu sagen uns Soziologen im Moment, dass die gar nicht so real sind, sondern sehr, sehr subjektiv.
    Sabrow: Gebiete, in denen Singvereine, die Freiwillige Feuerwehr, der Karnevalsverein fehlen und eine Struktur für öffentliches Zusammensein fehlt, das auch nicht mal durch Kneipen geboten wird, suchen sich andere Räume. Ein anderes Moment ist das, was wir oft diskutieren und was als Effekt auch aus den USA in der Begeisterung für Donald Trump nach Europa schwappt, dass die Mittelschichten, gerade die unteren Mittelschichten sich abgehängt fühlen, sich ausgeschlossen fühlen, mit Existenzängsten reagieren und mit einer Form von Pseudosouveränität, die in diesem Begriff "Wir sind das Volk!" zum Ausdruck kommt. Und dann, glaube ich, Frau Fischer, kommen auch noch Ursachen hinzu, die tatsächlich auch landesspezifisch sind. Die 26-jährige Herrschaft einer Partei, der CDU, die sehr stark obrigkeitsstaatliche Traditionen befeuert hat, etwa im Bereich der Polizei, der Schule, des Bildungswesens, eine Regierung, die sehr stark mit kurzer Leine, mit Anweisungen operiert und deren Gemeinsinn im freien Sinn der Bürgergesellschaft relativ wenig Raum gelassen hat im bundesdeutschen Durchschnitt, wie ich meine und auch aus eigener Erfahrung meine, belegen zu können, trifft auf eine Gesellschaft, die ihrerseits in starkem Maße auch obrigkeitsstaatlich verfasst war durch die SED-Diktatur hindurch und für eine Form des autoritären Regierens möglicherweise einen gewissen Anschluss bietet, verbunden mit einem etwas seltsamen sächsischen Landesstolz. Alles Phänomene, die nicht nur auf Sachsen zutreffen, aber hier vielleicht in besonderer Weise kumulieren können.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.