Freitag, 19. April 2024

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Das Dorf am Rande der Katastrophe

Die ukrainische Kreisstadt Tschernobyl ist zum Synonym geworden für eine der größten atomaren Katastrophen der Geschichte. Morgen vor 22 Jahren explodierte der Reaktorblock. Seitdem sind Name und Ereignis untrennbar miteinander verbunden, auch wenn Tschernobyl 17 Kilometer vom Unglücksort entfernt ist. Sehr viel näher, gerade einmal vier Kilometer entfernt, liegt Pripjat. Eine Arbeiterstadt, extra errichtet für die Mitarbeiter des Kraftwerks und ihre Familien. Kurz nach der Explosion am 26. April 1986 müssen die fast 50.000 Bewohner die Stadt hastig verlassen. Keiner hat Zeit, etwas mitzunehmen, keiner darf zurückkehren. Viele der ehemaligen Bewohner haben das Trauma ihrer erzwungenen Umsiedlung nie überwunden. Wie der GAU ihr Leben verändert hat, schildert Clemens Hoffmann:

25.04.2008
    Bustour durch eine Geisterstadt: Über den Lenin-Prospekt holpert der Kleinbus mit ausländischen Touristen ins Zentrum von Pripjat, vorbei an zerbröckelnden Plattenbauten mit leeren Fensterhöhlen Seit 22 Jahren ist die Stadt der Kraftwerksmitarbeiter von Tschernobyl verlassen. Die Natur holt sie sich zurück.

    Wilde Rosenbüsche wuchern über die Straße. Aus dem Asphalt wachsen Birken. Meterhoch wuchert Unkraut auf den Bürgersteigen. Auf dem Festplatz rostet das Riesenrad, das für die Maifeiern 1986 aufgebaut war. Doch dann explodierte der vierte Reaktorblock von Tschernobyl. Und Pripjat wurde komplett geräumt. Fast 50.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Der Reiseführer erinnert sich:

    " Als man die Menschen evakuierte, versprach man ihnen: Ihr kommt in drei Tagen zurück nach Hause, deshalb nahmen die meisten nur Geld und Dokumente mit. Niemand ist je zurückgekehrt. Meine Frau hat nicht mal mehr ein Schulfoto von früher. "

    Doch die Einwohner von Pripjat haben mit der Atom-Katastrophe mehr verloren als Erinnerungsstücke. Viktor Haidak wird im nächsten Monat 68 Jahre alt. Er hat seinen alten Werksausweis hervorgekramt. Das Foto zeigt einen stattlichen Mann mit entschlossenem Blick. Heute ist der frühere Kraftwerks-Ingenieur nur noch ein Schatten seiner selbst.

    " Ich hatte zwei Herzinfarkte, eine Krebsoperation, früher wog ich gut 100 Kilo, jetzt nur noch 66. Mir geht es schlecht, ich zähle jeden Tag, jeden Monat, den ich lebe. "

    Der schmächtige Mann sitzt im Wohnzimmer seiner Drei-Zimmer-Wohnung im Kiewer Stadtteil Trojeschjna. In dem Neubauviertel wurden 1986 Tausende Pripjat-Umsiedler einquartiert. Victor lebt hier mit seiner Frau Lidia, dem jüngsten Sohn Nikolaj, und der Familie seiner älteren Tochter. Insgesamt sechs Personen auf 42 Quadratmetern. Victor und seine beiden älteren Söhne, die in der Nähe wohnen, haben bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl geholfen. Alle drei sind heute schwer krank. Ein Schicksal, dass sie mit Tausenden teilen:

    " In unserem Haus wohnten 36 Familien aus Pripjat, jetzt leben noch elf Männer von diesen Familien, vier Männer sind sehr krank, fast alle haben Krebs. "

    1064 ukrainische Hriwna bekommt Victor im Monat. Das ist der höchste Satz der Tschernobyl- Invalidenrente. Umgerechnet 130 Euro. Als vor zwei Jahren sein Magenkrebs operiert wurde, sammelte die Familie Geld bei Verwandten, um das Krankenhaus zu bezahlen. Vom ukrainischen Staat würden die Opfer vergessen, klagt Victor. Oft träumt er von Pripjat - vor dem Unfall. Von seinem alten Leben, einer heilen Welt, die auch seine Frau Lidjia vermisst:

    " Wir vermissen alles: Die Arbeit, unsere Wohnung, die Geburt unserer Kinder, alles was wir uns erarbeitet hatten, aber das wichtigste ist Gesundheit, wir haben unsere Gesundheit verloren und unsere Freude. "

    Im letzten Jahr war die Familie zu Besuch in der Sperrzone. Hat das Grab von Victors Vater besucht, das alte Wohnhaus fotografiert, die Klinik, in der Sohn Nicolai auf die Welt kam.

    " Es war sehr merkwürdig. Nichts ist mehr, wie es war. Alles ist gestohlen werden, es ist ein fruchtbar und merkwürdig Ort. Nichts Lebendes ist dort geblieben. "

    Doch die Haidaks geben nicht auf. Nikolai war noch ein Säugling, als der Reaktor explodierte. Schon als Baby musste er Krebsbehandlungen über sich ergehen lassen. Jetzt studiert der 22-Jährige Informatik:

    " Ich will Computer-Programmierer werden und arbeite nebenbei als System-Administrator, um mein Studium zu finanzieren. Ich bin krank, aber versuche nicht immer daran zu denken - um zu leben, um zu überleben. "

    Genetische Schäden werden noch viele Generationen von Tschernobyl-Nachkommen belasten. Auf dem Arm hält Nikolai seine kleine Nichte. Auch die Zweijährige ist nicht gesund. Nadeschda haben ihre Eltern sie genannt: auf Russisch heißt das: Hoffnung.