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Das Ende der ETA (5/5)
Die Generation des Schweigens

Für Jugendliche im Baskenland ist der Terror der ETA kaum noch ein Thema. Manche jungen Erwachsenen dagegen merken erst jetzt, wie prägend die Ansichten der Separatisten für sie waren. Über die Gewalt wurde jedoch nicht gesprochen. Die baskische Regierung fördert nun den Dialog über die eigene Geschichte.

Von Hans-Günter Kellner | 25.05.2018
    Bars an der Plaza Nuevo in Bilbao
    Bars an der Plaza Nuevo in Bilbao: "Wir gehören einer Generation an, die ein wenig zwischen den Stühlen sitzt", sagen junge Menschen in Bilbao (Imago)
    Der Verkehr, die Hochöfen der Stahlindustrie - Bilbao war eigentlich immer eine laute und schmutzige Stadt. Im 19. Jahrhundert war Bilbao das Zentrum der spanischen Industrialisierung. Menschen aus den ärmeren, spanischen Regionen kamen – das nährte die Angst der Basken vor massenhafter Einwanderung. Die ETA nutzte Jahrzehnte später diesen Nährboden – und hoffte seit ihrer Gründung 1958, bei den Arbeitern Unterstützung für ihre Vorstellung vom marxistischen baskischen Staat zu finden.
    Heute regieren die Nationalisten das Baskenland. Aber sie rufen nicht nach Unabhängigkeit. Sie setzen auf Ausweitung der Autonomie und darüber verhandeln sie mit der spanischen Regierung. Und überhaupt: Die ETA verschwindet zunehmend aus dem öffentlichen Bewusstsein.
    Der große Indautxu-Platz liegt im Herzen Bilbaos. Die Teenager stören sich nicht an der tristen Betonästhetik des Indautxu-Platzes. Etwa 50 Heranwachsende, keiner älter als 16 Jahre alt, üben sich in Rap-Duellen. Ein Zeremonienmeister stoppt die Zeit und gibt ein Thema vor, Technologie oder Sport, dann starten jeweils zwei Jugendliche ihren Sprechgesang. Die Texte zeichnen sich zwar durch viel verbale Gewalt aus. Aber keiner greift das Thema ETA auf.
    Zu Hause nie über die ETA gesprochen
    Die ETA habe sich doch aufgelöst, oder zumindest mache sie doch nichts mehr, fragt einer der Rapper etwas hilflos seinen Freund. Die jungen Leute kümmern sich eben um andere Dinge, meint Eñaut, der mit Gorka etwas abseits auf einer Bank sitzt. Die beiden sind Mitte 20, der eher schmächtige Gorka ist Informatiker, der kräftige und stets optimistisch lächelnde Eñaut hat sein Sportstudium gerade abgeschlossen. Sie können sich im Gegensatz zu den Rappern auf der Mitte des Platzes noch gut an die ETA erinnern:
    "Wir gehören einer Generation an, die ein wenig zwischen den Stühlen sitzt. Wir haben auf der einen Seite die spanische Diktatur nicht erlebt und auch nur die letzten Jahre der ETA. Aber wir können eine Brücke zu den Jüngeren schlagen, damit dieser Teil unserer Vergangenheit nicht vergessen wird, damit der Frieden auf soliden Fundamenten errichtet wird und sich dieser Konflikt nicht wiederholt."
    Bei einem Friedensworkshop des baskischen Jugendwerks zur Aufarbeitung der gewaltgeprägten Vergangenheit haben sich die beiden Angehörigen der Opfer der ETA kennengelernt, bedrohte Journalisten und auch Opfer der Polizeigewalt – Menschen, die während der harten Jahre im Baskenland im Fokus standen. Die baskische Regierung versucht mit solchen Initiativen, einen gesellschaftlichen Dialog über die eigene Geschichte in Gang zu bringen. Das ist auch dringend nötig, meint Gorka:
    "Wir haben dort alle festgestellt, dass wir zu Hause nie über die ETA gesprochen haben. Nie haben wir über einen dieser Morde gesprochen. Auch nicht unter Freunden. Wir waren die Generation des Schweigens. Erst jetzt, nach vielen Jahren, beginnen wir, uns darüber zu unterhalten."
    "Mit 14 oder 15 konnte ich die Ansichten der ETA teilen"
    Es waren Gespräche in einem Landhaus, abgeschottet von der Öffentlichkeit, die erst nach Beendigung des Treffens in einem Dokumentarfilm vorgestellt wurden. "Ja, sie schlossen uns ein und warfen die Schlüssel raus", sagt Gorka und lacht. Eñaut stimmt zu. Manche Dinge hätte er vorher öffentlich nicht eingestanden:
    "Es stimmt schon, mit 14 oder 15 Jahren konnte ich die Ansichten der ETA schon teilen. Ich kannte aber auch keine andere Sicht auf die Dinge. Das Umfeld der ETA hat ihre Wahrheit diktiert. Nicht in meinem Elternhaus, aber auf der Straße. Doch plötzlich benötigte jemand aus unserer Familie einen Leibwächter. Er war Stadtverordneter der Sozialisten in einem anderen Dorf. Das habe ich nicht verstanden. Wie kann jemand, den ich so sehr mag, so schlecht sein, dass er den Tod verdient? Aber wenn Du jung bist, bist Du wie ein Schwamm, der alles aufsaugt. Das Gute wie das Böse. Mit der Zeit konnte ich die andere Seite, die der Opfer, besser verstehen."
    "Immer, wenn sie jemanden getötet haben, haben wir uns gedacht, dass er schon irgendetwas getan haben wird. Die ETA würde ja niemanden einfach so umbringen."
    Nachdenken über die eigene Haltung zum Terror
    So setzt bei vielen Basken erst jetzt, Jahre nach dem Ende der Gewalt, ein Nachdenken über die eigene Haltung zum Terror nach. Der Einfluss des Umfelds, der Gruppe, sei in den Dörfern, in denen sie aufgewachsen seien, sehr groß gewesen, geben die jungen Männer zu. Anders als in den großen Städten, sei die Haltung der ETA und ihrer Unterstützer tonangebend gewesen. Und sie hätten keinen Widerspruch geduldet. So etwas darf sich nicht wiederholen:
    "Die Leute sollen nie mehr politische Ansichten für einen Grund halten, weshalb sie nicht miteinander sprechen. Das würde mir schon genügen."
    "Vor kurzem hat mir ein Stadtrat der Volkspartei berichtet, dass seine Hausfassade immer noch mit feindseligen Sprüchen beschmiert wird. Das muss alles aufhören. Unsere Generation muss aus all diesen Ereignissen lernen, damit wir in Frieden zusammen leben können. Frieden ist mehr als keine Gewalt. Damit die Gesellschaft vorwärts kommt, müssen wir die Unterschiede zusammenbringen."
    "Ich wünsche mir, dass das Baskische überlebt"
    Auffällig: Keiner der beiden erwähnt bei der Frage nach der Zukunft die Unabhängigkeit des Baskenlandes, der die ETA ihren Kampf ja gewidmet hatte. Wichtig sei ihm, in Frieden zu leben, sagt Gorka nachdenklich, und Eñaut, der zugibt, sich als Heranwachsender einmal über den Tod zweier Guardia-Civil-Beamter gefreut zu haben, denkt praktisch:
    "Mir ist der Wohlstand wichtig. Ich wünsche mir, dass das Baskische überlebt. Dass wir eine Stimme haben, eine Fußballnationalelf. Dass meine Kinder Baskisch, Spanisch, English oder auch Deutsch sprechen. Die Frage nach einem Bruch - ich weiß nicht."
    ETA, Unabhängigkeit - für die jugendlichen Rapper in der Mitte auf dem Indautxu-Platz von Bilbao sind das Themen aus einer Vergangenheit, die zunehmend in die Ferne rückt. Es ist spät geworden. Vom Atlantik kommt ein kalter Wind über die Stadt. Gorka und Eñaut ziehen sich die Reißverschlüsse ihrer Jacken hoch und gehen ihrer Wege.