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Das Ende der Kindheit

In seiner Heimat hat der neuseeländische Autor Carl Nixon mit seinen Short Stories und Dramen bereits zahlreiche Preise gewonnen. Sein erster Roman verknüpft eine atmosphärisch dichte Detektivgeschichte mit einer bewegenden Milieustudie über das Erwachsenwerden.

Von Heidi Schumacher | 25.02.2013
    Rocking Horse Road, eine Straße, die mitten durch eine Landzunge verläuft. Das schmale, an drei Seiten von Wasser umgebene Band zwischen Lagune und offenem Meer gehört zu New Brighton, einem Stadtteil der neuseeländischen Stadt Christchurch. Hier wohnen Leute, die es gewohnt sind, dass der Ostwind ihnen den Sand in die Häuser fegt und Salzkristalle ihre Autos vorzeitig rosten lassen. Im rauen Klima von The Spit, wie die Landzunge genannt wird, wächst außer Kohlbäumen und Strandhafer nicht viel. Die Bewohner sind entsprechend hart im Nehmen. Väter arbeiten bei der Müllabfuhr, Mütter schieben Nachtdienst in der Konservenfabrik.

    New Brighton war eine Arbeitergegend, wo die Leute Autokarosserien und halbfertige Boote jahrelang vor ihren Häusern stehen ließen - nie beendete Projekte. Unsere Väter waren Mechaniker und Bauarbeiter, Metzger und städtische Arbeiter, Schauerleute, die drüben im Hafen arbeiteten. Sie fuhren die Müllautos und bauten Straßen. Männer, die mit ihren Händen arbeiteten und dazu das Radio laut aufdrehten, im Sommer, um Cricketmatches zu verfolgen. Rugby war ihre Winterreligion.

    Die ungewöhnliche Topografie von The Spit bildet das Setting für ein Ereignis, das eine Gruppe Jugendlicher einholt und für die nächsten Jahrzehnte zusammenschweißt: der Tod eines jungen Mädchens aus ihrer Straße. Die Ermordung der siebzehnjährigen Lucy Asher ereignet sich kurz vor Weihnachten des Jahres 1980. Sie ist die bei allen beliebte Tochter der Besitzer eines kleinen Milchladens an der Rocking Horse Road, und ihre nackte Leiche wird von einem der Jungen aus der Clique am Strand gefunden. Sie wurde vergewaltigt und erwürgt, in den Kanal geworfen und vom Meer dort wieder angeschwemmt, wo sie einst die Lebensrettermedaille erwarb oder beim Langlauf siegte.

    Die befreundeten Jungen sind um die fünfzehn. Das Verbrechen lässt sie nicht ruhen und sie versuchen sich in den nächsten Wochen selbst als Detektive, führen Befragungen durch und gründen eine Art postmortaler Fanclub von Lucy Asher, mit einem Clubzimmer in einer Garage, in dem alles, was über den Fall bekannt ist, archiviert wird und Kerzen unter dem Foto der Ermordeten brennen.

    Nixon konstruiert dabei geschickt die Erinnerungen und verliebten Träume der Pubertierenden um die Tote, deren Bild sich für den Leser schemenhaft aus diesen Projektionen ergibt: ein junges Mädchen, voller Leben, sportlich, das viel und gerne lacht, beim Collegefest barfuß tanzt und auch zu den Jüngeren immer freundlich ist, wenn sie im Milchladen der Eltern bedient. Eine Verheißung in der sonst so kargen Umwelt des "Spit".

    Ihre gewaltsam herbeigeführte Abwesenheit markiert das Ende der Kindheit der Jungen. Sie beherrscht das Leben auch noch der erwachsenen Männer, denn der Wir-Erzähler berichtet aus einem Abstand von 27 Jahren über das Geschehen. Die Obsession, mit der die Jugendlichen versuchen, den Mörder zu finden, hat etwas mit der Rolle zu tun, die der Mord an dem Mädchen für sie und ihre pubertäre Psyche spielt. Nixon macht dies explizit:

    Wenn wir ganz aufrichtig sind, dann stammte die Gewissheit, dass Lucy ihren Mörder kannte, aus einem tiefen Blick in unser eigenes Inneres. Wir erkannten die dunkle Seite dessen, was es ausmacht, ein Mann zu sein. Gewalt war auch uns nicht gänzlich fremd, hauptsächlich vom Rugby her, aber fast jeder von uns hatte sich auch außerhalb der sportlichen Regeln geprügelt.

    Es ist diese unbewusste Identifikation mit dem Mörder, aus der sich die Energie speist, mit der die Jungen versuchen, den Täter zu finden. Latente Gewalt kennzeichnet auch ihren Alltag: So sind die Übergänge vom Rugby-Spiel zur Bürgerwehr und zur Lynchjustiz fließend, so wenn einige der Jungen den vermeintlichen Täter halb tot prügeln.
    Dabei lag es jedoch nicht in der Absicht des Autors, einen Kriminalroman zu schreiben.

    "Ich wollte einen Roman schreiben, der am Anfang so tut, als sei er ein Thriller. Aber meine Idee war ein literarischer Coming-of-Age-Roman. Ein Mord wurde begangen, ein großes Ereignis für die bis dahin unversehrte Gemeinde. Der Mord verändert das ganze Leben der Jungen und gibt ihnen einen neuen Fokus. Sie sind um die fünfzehn herum, ein Alter, in dem es um Identitätsfindung und die Auseinandersetzung mit Sexualität geht. Es geht nicht darum, wer der Mörder ist, sondern darum, was sie über sich selbst herausfinden."

    Diese Erfahrung koppelt der Autor mit der politischen Bewegung des Jahres 1981: In diesem Jahr verliert auch Neuseeland bzw. sein Nationalsport seine Unschuld. Als die südafrikanische Rugby-Mannschaft Springboks, der härteste Gegner der nationalen Rugby-Mannschaft, nach Neuseeland kommt, regt sich Protest gegen die Apartheidspolitik Südafrikas und spaltet das ganze Land in Gegner und Befürworter der Tour, in Protestierende und solche Fans, die einzig und allein das Sportevent genießen wollten. Die Väter der Jungen gehören der Fan-Gruppe an, die sich nicht scheut, sich mit Demonstranten zu prügeln.

    "Es gab vorher kleinere studentische Proteste gegen den Vietnamkrieg in Neuseeland, aber die waren nicht groß oder gar gewaltsam. 1981 jedoch war fast jeder im Land für oder gegen die Tour der Südafrikaner. Es gab kaum neutrale Positionen. Wir hatten nie zuvor Proteste von diesem Umfang. Es gab Hunderte von Demonstrationen während der Spiele und vor den Stadien. Die Südafrikaner kamen und es explodierte. Die 'Halt-all-racist-tours'-Bewegung organisierte bei jedem Rugby-Spiel Proteste im ganzen Land, die von der Polizei niedergeschlagen wurden. Die Gewalt des Staates gegen Neuseelands Bürger wurde das erste Mal sichtbar."

    Rocking Horse Road ist alles in allem ein eindrucksvoller Coming-of-Age Roman, in dem junge Männer versuchen, ihre Sexualität und die überall existierende physische Gewaltbereitschaft auch ihrer Väter zu integrieren und etwas Sinnvolles in der von Rugby, Fernsehen und Bier dominierten Freizeit zu tun, es ist aber auch ein Roman, der die sukzessive Zerstörung der Familie des Mordopfers berührend nachzeichnet.

    Carl Nixon ist mit der spröden Poesie von 'Rocking Horse Road' ein atmosphärisch dichtes Debut gelungen, eine intensive Milieustudie und ein Roman über das Ende der Kindheit. Stefan Weidle hat den Text sorgfältig ins Deutsche übertragen.

    Carl Nixon: Rocking Horse Road.
    Deutsch von Stefan Weidle.
    Weidle Verlag 2012, 236 Seiten, 19,90 Euro