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Das Ende der Stechuhr
Individuelle Arbeitszeitgestaltung - auch am Band

Früher bestimmte die Stechuhr, wann gearbeitet wurde. Heute gibt es Gleitzeit, Sabbaticals und Arbeitszeitkonten: Auch in der Tarifpolitik ist das Thema Arbeitszeitgestaltung fast wichtiger geworden als die Forderung nach mehr Lohn und Gehalt. Ab September will die IG Metall über mögliche Modelle verhandeln.

Von Uschi Götz und Michael Braun | 28.08.2017
    Eine Stechuhr in einem Düsseldorfer Unternehmen.
    Die Forderung der Gewerkschaft nach Arbeitszeitautonomie dürfte für lange und schwierige Tarifverhandlungen sorgen. (imago / photothek)
    Die Arbeitswelt befindet sich in einem rasanten Wandel. Immer weniger Menschen laufen am Morgen durch ein Firmentor und stempeln ihr Kommen und Gehen an einer Stechuhr ab. Dank digitaler Technik sind mobile Arbeitsplätze mittlerweile die Regel. Das gilt allerdings nicht für alle Branchen. Im produzierenden Gewerbe ist die Anwesenheit der Mitarbeiter zwingend notwendig. Doch gerade Beschäftigte der Metall-und Elektrobranche wünschen sich mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung.
    Gewünschte Flexibilität im Tarifvertrag abbilden
    Die Gewerkschaft IG Metall will diese Arbeitszeitautonomie in der im September beginnenden Tarifrunde für die fast vier Millionen Beschäftigten der Branche einfordern. Auch Metaller sollen ihre wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf zum Beispiel 28 Stunden reduzieren können, wenn sie Kinder erziehen oder Angehörige pflegen. Das soll in allen Unternehmen umgesetzt werden, in großen wie in kleinen, sagte der Leiter des Bereichs Tarifpolitik der IG Metall, Stefan Schaumburg:
    "Wir wollen die Themen aufgreifen, die die Kolleginnen und Kollegen auf der Werft in Schleswig-Holstein, beim Maschinenbauer im Schwarzwald und beim Automobilzulieferer in Sachsen bewegen."
    Auch viele Unternehmen wünschen sich mehr Flexibilität in Punkto Arbeitszeit von ihren Beschäftigten. In der kommenden Tarifrunde wird es deshalb darum gehen, die von Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerseite gewünschte Flexibilität im Tarifvertrag auch abzubilden. Theoretisch könnten beide Seiten davon profitieren, wenn starre Systeme - wie beispielsweise das Dreischichtsystem - künftig beweglicher gestaltet werden.
    Pilotprojekt: Die App "KapaflexCy"
    Von rund 700 Beschäftigten arbeiten bei dem Ludwigsburger Autozulieferer Borg Warner etwa 200 Mitarbeiter im Schichtbetrieb. Glühkerzen und Zündspulen für Verbrennungsmotoren werden an dem Standort nahe Stuttgart produziert. Im Unternehmen fand ein bundesweit einmaliges Pilotprojekt statt, dessen Kernstück eine App mit dem Namen "KapaflexCy" war. Mit einer eigens für den Schichtbetrieb in der Produktion entwickelten Software testeten Personalplaner und Beschäftigte die Tauglichkeit dieser App, die immer dann zum Einsatz kam, wenn für die Schichten am Wochenende Mitarbeiter gesucht wurden. Bislang ist das Verfahren dafür umständlich, es bedarf einer Planung vieler Tage im Voraus, erklärt der Betriebsratsvorsitzender Muhsin Acar.
    "Am Dienstag wusste man, wie viele Schichten man braucht und spätestens am Donnerstag wollte man die Gewissheit haben, dass die Leute auch zusagen. Es wurde ein Zettel in den Abteilungen ausgehängt, und davon war dann abhängig, ob die Leute kommen oder nicht."
    Im Pilotprojekt - wissenschaftlich begleitet vom Fraunhofer Institut - wurde per Smartphone angefragt, wer am Wochenende Zeit zum Arbeiten hätte. Ein Klick genügte und der Mitarbeiter war in einer entsprechenden Schicht eingeteilt. Vor allem der Meister habe bei diesem Verfahren Zeit gespart, so Acars Kollege Sven Ehrenberg:
    "Er hatte auch nicht den Zeitaufwand letztlich, auf die Mitarbeiter zuzugehen, jeden zu fragen, zu bitten, jeder Mitarbeiter durfte für sich dann gleich entscheiden: bin da, bin nicht da. Und er hat nur die quantitative Auswahl noch gegengecheckt."
    Das Logo der IG Metall
    Metaller sollen ihre wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf zum Beispiel 28 Stunden reduzieren können. (dpa/picture-alliance/Marijan Murat)
    Solange gesetzliche und tarifliche Vorgaben eingehalten werden, sei dieses digitalisierte System für die Produktion durchaus zu befürworten, darüber sind sich die Betriebsräte einig. Die Teilnahme am rund anderthalb-jährigen Pilotprojekt ist für alle freiwillig gewesen, sagt Betriebsratschef Acar. Doch vereinzelt habe es auch Kritik von Mitarbeitern gegeben:
    "Also ein Vorwurf wurde uns schon gemacht, dass die Leute auch Zuhause in ihrem privaten Umfeld nochmal eine Mail vom Arbeitgeber bekommen haben."
    Zunehmende Flexibilisierung hat auch Kehrseiten
    Die Ludwigsburger Unternehmensleitung ist bereits an den Betriebsrat herangetreten. Künftig sollen in zwei Bereichen über eine weiterentwickelte Schicht-App, Mitarbeiter angefragt und flexibel eingesetzt werden können. Der Betriebsrat prüft zurzeit das Vorhaben.
    Werner Eichhorst ist beim Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit tätig und koordiniert dort die Forschungsgruppe für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik in Europa. Er weiß, dass die zunehmende Flexibilisierung auch ihre Kehrseiten hat und die Gewerkschaften deshalb neue Schwerpunkte in ihrer Tarifpolitik setzen müssen:
    "Die Industriebeschäftigung ist ja in Deutschland - auch im Vergleich zu anderen Ländern und auch über die Zeit hinweg - derzeit sehr stabil, auch leicht ansteigend. Gleichzeitig haben wir auch Reallohnzuwächse gehabt in den letzten paar Jahren. Der Arbeitsmarkt ist relativ eng in dem Bereich. Gleichzeitig ist natürlich das Vereinbarkeitsthema, auch das Stressthema, stärker geworden als in der Vergangenheit. Von daher macht es durchaus Sinn, jetzt hier auch das Thema Arbeitszeit so ein Stück weit in den Vordergrund zu rücken. Das sozusagen als qualitative Tarifpolitik, die es früher auch schon mal gegeben hat, aber die eben jetzt noch mal akut wird."
    In der gleichen Zeit mehr leisten als früher?
    Mehr Autonomie über die individuelle Arbeitszeit und damit weniger Druck, also mehr Lebensqualität am Arbeitsplatz - dieses Thema ist in der Tarifpolitik fast wichtiger geworden als die Forderung nach mehr Lohn und Gehalt. Dieser Trend hat sich bereits vor vier Jahren in einer Untersuchung des Deutschen Gewerkschaftsbundes angedeutet. Der DGB wollte damals wissen, wie sich die Menschen am Arbeitsplatz fühlen. Die gute Nachricht war: Es gibt zunehmend mehr Arbeitsplätze. Die schlechte: Im Job wird es immer stressiger: 61 Prozent der Beschäftigten in Deutschland gaben an, dass sie in der gleichen Zeit mehr leisten müssten als früher. 56 Prozent verrichten ihre Arbeit "häufig" oder "oft" gehetzt. Und nur 45 Prozent der Befragten glauben, unter diesen Bedingungen bis zum gesetzlichen Rentenalter durchhalten zu können. DBG-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach:
    "Die relative Erholung am Arbeitsmarkt führt nicht automatisch zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leisten offensichtlich hervorragende Arbeit. Sie selbst können aber nicht von guten Arbeitsbedingungen profitieren. Im Gegenteil: Die Stärke der deutschen Wirtschaft geht seit Jahren auf die Knochen der Beschäftigten. Und das kann nicht lange gut gehen. Wir brauchen eine neue Initiative für eine Humanisierung der Arbeit."
    Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvorstands, spricht in Hamburg auf einer Kundgebung.
    Annelie Buntenbach ist Mitglied des DGB-Bundesvorstands. (picture-alliance / dpa / Markus Scholz)
    Diese Initiative hat in der Praxis schon begonnen. Arbeitszeitflexibilität etwa wird nicht mehr nur konjunkturell definiert. Sondern es geht mittlerweile um Flexibilität mit Blick auf den Arbeitsort und die Arbeitszeit. Technische Hilfsmittel haben die Chancen für flexibles Arbeiten eröffnet.
    Durch mobiles Arbeiten Pendelzeit sparen
    Gemeint sind damit die Möglichkeiten, von außerhalb mit dem Tablet auf seinen Account im Betrieb zugreifen zu können. Mobiles Arbeiten, sagt Susanne Steffes, die sich am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim mit Arbeitsmärkten beschäftigt, hat viele Vorteile:
    "Mobiles Arbeiten ist ein Teil der Lösung, weil natürlich durch die räumliche Flexibilität bei mobilen Arbeiten auch zeitliche Flexibilität entsteht, indem einfach Zeit gespart wird - vor allem Pendelzeit. Insofern können Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen, die mobil arbeiten, die im Homeoffice arbeiten, vielleicht ein bisschen mehr arbeiten. Sie geben das auch an, dass das ein Vorteil ist. Und auch die Arbeitgeber unterstützen das in der Hinsicht. Aber natürlich ist Arbeitszeitflexibilität noch viel mehr als das mobile Arbeiten. Aber als ein Teil kann man das auf jeden Fall ansehen."
    Imagespot Daimler AG: "Die Arbeit, das Leben, das Arbeitsleben. Alles unter einen Hut zu bekommen, ist oft nicht leicht. Die Daimler AG ermöglicht ihren Mitarbeitenden deshalb vielfältige Arbeitszeitmodelle, die eben das individuell ermöglichen …"
    Das Büro im Koffer
    Immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Autokonzern Daimler arbeiten mobil und bestimmen ihre Arbeitszeiten selbst. Ein höchstens zwei Mal in der Woche ist beispielsweise die Marketing- und Kommunikationsexpertin Nicole Smit in Stuttgart-Untertürkheim, dem Stammsitz des Unternehmens, anzutreffen. Von wo aus sie ihren Job macht, spielt keine Rolle mehr. Nicole Smit hat zwei kleine Kinder und arbeitet in Teilzeit 25 Stunden in der Woche, die meiste Zeit davon von zuhause aus.
    "Mein Büro ist eigentlich mein Rollkoffer, der steht neben mir. Da ist dann alles drin, was ich brauche, vom Ladekabel bis hin zum Laptop, hin zu einer kleinen Schreibtischunterlage, hin zu meiner Funkmaus. Das ist mein Schreibtisch, den habe ich immer und überall dabei. Und umgekehrt, meinen eigentlichen Schreibtisch hier im Büro, den können auch andere benutzen."
    Jeden Morgen neu entscheiden, wo man arbeit
    Auch Elmira Schmidt hat eine kleine Tochter und arbeitet mobil. An zentraler Stelle ist die 35-Jährige mitverantwortlich für das Daimler-Projekt "Leadership 2020". Dahinter verbirgt sich jenes Programm, das den Paradigmenwechsel im Bereich der Arbeitskultur bei einem der größten deutschen Arbeitgeber begleitet und reflektiert. Elmira Schmidt entscheidet jeden Morgen neu, wo sie arbeitet:
    "Das größte Entscheidungskriterium ist derzeit noch meine kleine Tochter. Natürlich gibt es ein paar Anforderungen oder auch ein paar Themen, wo ich dann auch ins Büro muss, aber meistens ist es tatsächlich so, dass ich es spontan situativ entscheide und dann auch sehr oft von zuhause aus arbeite."
    Elmira Schmidt nutzt viele Gelegenheiten, um ihren Laptop aufzuklappen: "Ich habe Arbeitsplätze, die fangen an, tatsächlich von morgens einfach im Bad, Spielplatz, bis hin zum Frisör, also so nach dem Prinzip: Überall und nirgends."
    Unterwegs, erzählt sie, arbeite sie ohnehin effektiver und schneller als in einem Büro.
    "Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich die Arbeit und auch das Leben außerhalb der Arbeit gar nicht mehr so trenne. Da werden die Grenzen verschmolzen. Das passt für mich in meine derzeitige Situation hervorragend."
    Individuelle Arbeitszeitengestaltung - auch am Band
    Diese Flexibilität ist jedoch den Angestellten bei Daimler vorbehalten. Am Band gelten nach wie vor die herkömmlichen Arbeitszeitregelungen. Doch auch das wollen die Arbeitnehmervertreter nun ändern: Die Beschäftigten in der Produktion sollen ebenfalls flexibler arbeiten können – auch im Schichtbetrieb. Wolfgang Nieke, IG Metall - Betriebsratschef in Untertürkheim:
    "Genau darum geht es, dass wir den Menschen dort auch eine Chance geben, zumindest ein Stück weit in der Zeit flexibel zu sein. Aber sie können natürlich nicht in einer Montagelinie für Motoren, den Motor nicht zuhause oder woanders montieren, den müssen sie in der Fabrik montieren. Da geht es eher um eine individuelle Flexibilität, mal ein Stückchen früher zu gehen oder ein bisschen später anzufangen. Da haben wir aber auch eine Baustelle, die mit dem Unternehmen im Moment schwer zu regeln ist."
    Wie wollen die Menschen arbeiten? Wo? Und wann? Und wie flexibel soll sich die Arbeit gestalten? Die Gewerkschaft IG Metall hat dies und mehr noch von ihren Mitgliedern wissen wollen. An der Basisbefragung haben im Januar und Februar 681.241 Personen teilgenommen. Herausgekommen sei, so betont es die Gewerkschaft stolz, "die Erhebung der Industrie in Deutschland zu zentralen Fragen der Arbeitsgesellschaft von morgen".
    Der IG-Metall Chef Jörg Hofmann.
    Ein "echtes Wahlrecht zur Arbeitszeit" müsse her, sagte IG-Metall Chef Jörg Hofmann. (imago / Jürgen Heinrich )
    Das Ergebnis: Die Menschen wollten mehr Selbstbestimmung über ihre Arbeitszeit. Sie wollten selbst entscheiden, wie viele Stunden in der Woche sie arbeiten, und wann und zu welchen Konditionen sie in Rente gehen. Vor allem wollen sie nicht darum betteln müssen, brachte es der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann auf den Punkt. Hofmann hat dieses Thema schon vor zwei Jahren zum Schwerpunkt seiner Arbeit als Gewerkschaftsvorsitzender erklärt. Ein "echtes Wahlrecht zur Arbeitszeit" müsse her, sagte er damals nach seiner Wahl.
    "Arbeitszeit an Lebensphasen anpassen"
    "Wir müssen die Arbeitszeit selbstbestimmt an unsere Lebensphasen anpassen können. Arbeitszeit zu reduzieren, wenn Kinder zu betreuen sind, die Mutter zu pflegen oder berufliche Fortbildung angesagt ist. Und das verlangt Zeit und Geld, soll der Weg für alle offen stehen. Das verlangt solidarische Lösungen eines Entgeltausgleichs, wenn Arbeitszeit für diese Zwecke verkürzt wird. Nur so können wir ungleiche, häufig geschlechterspezifische Verteilung der Arbeitszeiten aufbrechen."
    Der Wunsch nach mehr Autonomie in der Arbeitszeitgestaltung rührt wohl auch daher, dass sich viele Beschäftigten in der Metallindustrie einem Arbeitszeitdiktat der Arbeitgeber ausgesetzt fühlen. Der Arbeitgeber wolle von seinem Mitarbeiter alles, argwöhnt die IG Metall: die normale Arbeitszeit, bei Bedarf natürlich Überstunden, bei weniger Bedarf Arbeitszeitflexibilität. Und das alles "auf Befehl" von oben. Das entfremde Chef und Arbeiter. Es werde die Wertschätzung des Bosses für seine Mitarbeiter vermisst.
    "Es wird unterschiedliche Formen der Flexibilität geben"
    Mehr Partnerschaft auch in der Arbeitszeitgestaltung will die IG Metall in der Tarifrunde erkämpfen. Denn nicht mehr die Stechuhr soll dem Arbeitsverhältnis den Rahmen geben. Arbeitsmarktexperten glauben, das könne klappen. Jedenfalls sei Neid zwischen denen, die mit dem Tablet im Garten sitzen und einen Vertrag kontrollieren, und denen, die am Band erscheinen müssen, nicht zu befürchten. Werner Eichhorst vom Bonner Institut für die Zukunft der Arbeit:
    "Klar ist, dass ein Betrieb unterschiedliche Tätigkeiten, unterschiedliche Berufe, auch unterschiedliche Anforderungen umfasst. Da gibt es halt den Entwicklungsingenieur, den Manager oder Buchhalter oder was es alles gibt auf der einen Seite. Und dann eben tatsächlich Menschen, die face to face im Kundenkontakt sind oder mit Maschinen zu tun haben. Da wird es dann unterschiedliche Formen der Flexibilität geben. Das kann durchaus zu den individuellen Präferenzen ganz gut passen. Und man muss halt auch sagen: Wenn man sich für einen bestimmten Beruf entscheidet und einen bestimmten Berufsweg eingeht, dann wird man möglicherweise einige Vorteile genießen, aber vielleicht auch gewisse Einschränkungen. Und das ist dann auch nicht beliebig austauchbar."
    Keine Konflikt zwischen Angestellten und Arbeitern zu erwarten
    Und auch Susanne Steffes vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung befürchtet keine Konflikte zwischen Angestellten und Arbeitern:
    "Mein Eindruck ist auch, dass Arbeitgeber da sehr sensibel mit umgehen. Also, es ist ja häufig so, vor allem in den größeren Unternehmen, dass es Betriebsvereinbarungen gibt, die zwischen den Betriebsräten und den Arbeitgebervertretern getroffen werden über die Möglichkeit, mobil zu arbeiten. Und ich glaube, dass da schon sehr sensibel geschaut wird, wer kann das machen. Und auch überall dort, wo es dann nur ein bisschen möglich ist, die Möglichkeiten auch geschaffen werden. Aber selbstverständlich ist es so, dass nicht jeder Job dazu geeignet ist. Und im Zweifelsfall ist es vielleicht dann auch so, dass Unternehmen sagen: Dann bieten wir das gar nicht an."
    Arbeitsrechtlich steht den Wünschen der IG Metall nach mehr Arbeitszeitautonomie ebenfalls nichts im Wege. Denn Selbstbestimmung sei die Grundlage des Tarifrechts, sagt Martin Becker, der an der Frankfurter Goethe-Universität Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht lehrt:
    "Wenn dieser Gedanke der Selbstbestimmung vor dem Hintergrund der demokratischen Legitimation tarifrechtlicher Normensetzung auch und gerade im Hinblick auf die Lebensbedingungen, auf die Zeitsouveränität, auf die Autonomie des einzelnen Arbeitnehmers bezogen werden kann - und er kann dies, auch in abstrakt formulierten Tarifnormen - würde der Tarifvertrag eine neue, modernere Ausformung und Gestaltung erhalten können. Rechtlich, gesetzlich und verfassungsrechtlich gibt es hierzu keine Hindernisse."
    Ein Mann ist von oben zu sehen, wie er an einem Tisch mit dem Computer und mehreren anderen digitalen Geräten wie Notebook, Smartphone, Smartwatch arbeitet. 
    Wer mobil arbeitet, ist auf stets funktionierende Technik angewiesen. (imago / Westend61)
    Verhandlungen beginnen im September
    Gleichwohl gebe es Regelungsbedarf. Etwa bei der mobilen Arbeit. Natürlich, so Becker, bringe diese für den Beschäftigten örtliche und zeitliche Souveränität. Aber:
    "Auf der anderen Seite ist er angewiesen auf eine stets funktionierende Technik, auf eine stets funktionierende Vernetzung zum Unternehmen und er ist angewiesen auf seine gesundheitsfördernden Pausen, die natürlich auch bei einer mobilen Arbeit und der Möglichkeit zur Entgrenzung beachtet werden müssen. Und genau das sind die Punkte, die präzise in Tarifverträgen auch festgelegt werden können."
    Die Tarifverhandlungen beginnen im September. Drei Monate bevor am 1. Januar 2018 die Friedenspflicht in der Metall- und Elektroindustrie endet. Natürlich will die IG Metall für die 3,78 Millionen Beschäftigten der Branche mehr Lohn und Gehalt fordern. Wie viele Prozentpunkte mehr, das kann der Gewerkschaftsvorsitzende Jörg Hofmann noch nicht sagen. Er weiß nur, dass die Tarifkommissionen dafür bekannt seien, "sehr anspruchsvoll zu reagieren". Und dafür gebe es Anlass:
    "Nun, wir haben eine hervorragende Konjunktur. Wir haben ein Ertragsjahr hinter uns, 2016, mit glänzenden Bilanzen. Das Jahr 2017 sieht nach allen Prognosen mindestens genauso gut aus. Also kein Grund für irgendwelche Zurückhaltung im Entgelt."
    Kürzere Wochenarbeitszeit? Unrealistisch
    Damit nicht genug. Auch die Forderung der Gewerkschaft nach Arbeitszeitautonomie dürfte für lange und schwierige Tarifverhandlungen sprechen. Rainer Dulger, der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, kann darüber nur den Kopf schütteln: In den Unternehmen herrsche sowieso Facharbeitermangel. Eine kürzere Wochenarbeitszeit sei deshalb unrealistisch:
    "Das kann sich wirklich niemand wünschen. Wir haben in unserer Industrie seit der Finanzkrise rund 440.000 neue Arbeitsplätze geschaffen und bilden im Jahr mehr als 200.000 Jugendliche aus. Zurzeit können wir in einigen Regionen jetzt schon nicht mehr alle neuen Stammarbeitsplätze und Lehrstellen besetzen. Wenn wir von 35 auf 28 Wochenstunden reduzieren, würden wir den Fachkräftemangel in unverantwortlicher Weise verschärfen. Das zerschlägt nicht nur nachhaltig unseren wirtschaftlichen Erfolg. Wir würden auch eine massive Tarifflucht erleben. Und Produktionsverlagerungen ins Ausland, weil die Arbeit hier gar nicht mehr erledigt werden könnte."
    Damit ist der Konflikt in der kommenden Tarifrunde klar umrissen. Denn die IG Metall rückt von ihrer Forderung nach Arbeitszeitautonomie nicht ab. Beschäftige der Branche sollen ihre wöchentliche Arbeitszeit reduzieren können, wenn sie Kinder erziehen oder Angehörige pflegen – Gewerkschaftschef Jörg Hofmann: "Es gehört zum Arbeitsleben von morgen, dass die Menschen auch selbst über ihre Arbeitszeit bestimmen können."