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Das Ende des Menschen?

Dass die Schlachten um Darwin eigentlich längst geschlagen sind, das geben manche Autoren der Neuerscheinungen zu Darwins 200. Geburtstag wenigstens zu, so Philip Kitcher mit seiner Streitschrift "Mit Darwin leben", die die Argumente des Darwinismus und des Antidarwinismus gegenüberstellt. Dass dem trotzdem nicht so sein muss, dass zeigt eine der Neuerscheinungen, nämlich die von Philipp Sarasin über "Darwin und Foucault". Beide Denker eint denn auch überraschenderweise erheblich mehr als nur die Ablehnung auf die sie beide heute immer noch stoßen.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 11.02.2009
    Immanuel Kants Philosophie gipfelt in der Frage:

    "Was ist der Mensch?"

    Die meisten Philosophien in den zwei Jahrhunderten vor Kant versuchten darauf eine Antwort zu geben. Wenn man das Wesen des Menschen erkennt, dann folgt daraus zum Beispiel, wie der Staat organisiert werden muss. Noch Marx hält den Menschen für ein arbeitendes Wesen. Manche verstehen den Menschen als Altruisten, andere als Egoisten. Doch heute bemüht man sich um Anthropologie in der Philosophie kaum mehr, hat man doch lernen müssen, dass ein Menschenbild eben nur ein wie auch immer konstruiertes Bild vom Menschen ist. Trotz aller Beschwörungen, den Menschen gibt es nicht mehr. Derjenige, der das als erster schneidend formulierte, war der Vordenker von Poststrukturalismus und Postmoderne Michel Foucault 1966 in seinem Buch "Die Ordnung der Dinge":

    "In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken."

    Dass sich Foucault bei dieser These explizit auf Friedrich Nietzsche beruft, verwundert wenig, spricht Nietzsche doch von seinen Zeitgenossen als den letzten Menschen, die es zu überwinden gelte, und postuliert den Übermenschen. Erstaunlicher wirkt indes, dass für den Züricher Historiker Philipp Sarasin bei dieser These Foucaults vor allem Darwin Pate steht. Denn erstens bezieht sich Foucault nur sehr selten explizit auf Darwin.

    Zweitens scheint Darwin doch geradezu den Menschen als ein evolutionäres Wesen zu bestimmen, das vom Affen abstammt. Doch dem hält Sarasin in seinem Buch Darwin und Foucault entgegen:

    "Indem die Evolutionstheorie die Frage nach der Existenz des Menschen aufgreift und erklärt, entreißt sie den Menschen der (philosophischen) Anthropologie und verbaut fortan jede Möglichkeit, weiterhin von einem irgendwie im "Geist" begründeten, immer gleichen und "wahren" Wesen des Menschen zu sprechen. Das hätten Nietzsche und Freud klar gesehen: indem sie auf Darwin zurückgegangen seien. Von diesem Punkt aus, das heißt von Darwin aus, sei es seither unmöglich, im Menschen das Fundament der Wahrheit zu suchen."

    Darwin geht nicht mehr von der Menschheit als Gattung aus, sondern von Individuen, die sich im Laufe der Evolution entsprechend so entwickelten, dass aus ihnen eine menschliche Population entsteht, wie wir sie heute kennen. Auch alle anderen Arten bestehen aus Einzelwesen, die ähnliche Eigenarten oder manchmal auch Unterschiede ausprägen. Foucault, der gleichfalls sein Augenmerk auf die Pluralität der Individuen richtet, bemerkt 1971 in einem Interview:

    "Darwin war der erste, der die Lebewesen nicht mehr als Individuen, sondern auf der Ebene der Population behandelte."

    Population besteht aber aus einer Vielzahl von Individuen und entspricht vor allem keiner Gattung mit bestimmten Eigenschaften und Merkmalen, somit keinem festen Wesen mehr, das die Individuen prägt, das sie selbst zu erfüllen hätten. Nicht nur jedes Individuum einer Gattung entwickelt individuelle Merkmale. Auch wenn mehrere Individuen sich in ihren Besonderheiten ähneln, wird es nach Darwin schwierig zu unterscheiden, ob es sich dabei um eine neue Art oder bloß eine Abwandlung von einer bestehenden Art handelt. Es gibt eben keine Idealbilder weder von einem Tier noch von einem Menschen, sondern immer nur diese Populationen von Einzelwesen, die man zu einer Art zusammenfassen kann. So bemerkt Foucault 1969 in einem Vortrag über Darwin:

    "Die Art ist für Darwin keine dem Ursprung nach erste und zugleich analytisch letzte Realität. Für Darwin ist es schwierig, zwischen Art und Varietät zu unterscheiden. Er zitiert zahlreiche Beispiele, bei denen man nicht als guter Botaniker oder Zoologe sagen kann, "dies ist eine Art" oder "dies ist eine Varietät"."

    Wo also bleibt noch ein Wesen des Menschen? An seinen Ursprüngen finden sich bestenfalls Gestalten, die entfernt an den heutigen Menschen erinnern, Affen oder Neandertaler. In welchem historischen Augenblick sollte man also sagen, dass jetzt der Mensch fertig und entstanden sei, bei Abraham, Sokrates, Jesus oder Kant? Die Evolutionstheorie Darwins legt ähnlich wie Foucaults These vom Ende des Menschen nahe, dass sich auch die heutigen Menschen weiterentwickeln, dass also der Mensch, wie man ihn noch bis vor kurzem verstanden hat, verschwinden wird. Allerdings kann man nicht sagen, wer an seine Stelle tritt. Wer könnte die Zukunft auch voraussagen! Wenn es kein Wesen des Menschen gibt, dann weiß auch die Geschichte nicht wohin sie reisen wird, kann sich in ihr keine bestimmte Vorstellung vom Menschen mehr vervollkommnen. Sarasin bemerkt daher:

    "Im Ursprung, so waren Darwin wie Foucault überzeugt, liegt keine "Idealität" und keine "Wahrheit" - und weder die Geschichte der Evolution noch die Geschichtsschreibung menschlicher Gesellschaften berichten daher von einer irgendwie sinnvollen, "logischen", vernunftgemäßen oder zielgerichteten Entwicklung, von einem Fortschritt, gar von einer zunehmenden Vervollkommnung oder einer Annäherung an die Wahrheit."

    Sarasins Buch radikalisiert mit Foucault Darwins Thesen, indem er weniger den Einfluss von Darwin auf Foucault philologisch rekonstruiert, als dass er beide Denker miteinander ins Verhältnis setzt und miteinander ins Gespräch bringt: ständig wechseln Kapitel über Darwin mit Kapiteln über Foucault. Dadurch avanciert Darwin zu einem Wegbereiter des foucaultschen Denkens, das sich ähnlich wie Darwin mit überlieferten Denkschablonen nicht abspeisen lassen möchte und das trotz seiner Popularität gleichfalls ähnlich wie Darwin immer noch auf große Ressentiments stößt. Damit gelingt es Sarasin nicht nur als einzigem aus der aktuellen Literatur zu Darwin neue Blickwinkel zu eröffnen. Vor allem aber zeigt sich daran, warum Darwin heute immer noch ein Skandal ist.
    Davon ahnt zumindest der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist David Quammen in seiner Darwin-Biographie, wenn er schreibt:

    "Seine größte Idee, größer als die bloße Evolution, war einfach zu groß, zu unerhört, zu bedrohlich: die "natürliche Auslese", laut Darwin der hauptsächliche Mechanismus evolutionären Wandels. Seiner Ansicht nach ist natürliche Auslese ein planloser, jedoch wirkungsvoller Prozess. Unpersönlich, blind für die Zukunft, kennt sie kein Ziel, nur Ergebnisse. Ihre einzigen Wertmaßstäbe sind Überleben und erfolgreiche Fortpflanzung. Sie verkörpert äußerste Zufälligkeit, die im Widerspruch zu der Vorstellung steht, die Lebewesen auf dieser Erde, ihre Fähigkeiten (auch die menschlichen), ihre Geschichte und die Beziehungen zwischen ihnen, all dies spiegle irgendeine Art göttlicher Vorsehung wider."

    Während David Quammen in seiner Biographie primär spannend schildert, wie sich Darwin zu seiner Theorie und ihrer Veröffentlichung durchringt und nur nebenbei die aktuell wiederholten religiösen Einwände vor allem in den USA im Auge behält, erkennt er nicht, dass mit Darwin jedes traditionelle Verständnis vom Menschen obsolet wurde. Er übersieht das von Darwin eingeläutete und von Foucault markierte Ende des Menschen.
    Daran reicht auch der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Philip Kitcher in seinem Buch "Mit Darwin leben" nicht heran, verteidigt er primär die Evolutionstheorie vor ihren religiösen Kritikern und wiederholt damit ausdrücklich eine bekannte Kritik am Kreationismus und an der Theorie des Intelligent Design. Er schreibt:

    "Darwins Entdeckung eines einzigen Stammbaums des Lebens untergräbt den Kreationismus und macht es erforderlich, dass jeder Eingriff seitens der Gottheit in weite Ferne gerückt wird. Angesichts des chaotischen Charakters der Prozesse, über die sich das Leben entfaltet, kann jeder Plan nur als ausgesprochen unintelligent und jeder Schöpfer bestenfalls als launenhaft und willkürlich gelten. Die Idee einer göttlichen Vorsehung ist nur dann haltbar, wenn man unterstellt, der göttliche Plan sei ein unergründliches Geheimnis."

    Das bleibt eine ehrenwert harmlose Verteidigung des Darwinismus gegenüber alten religiösen Einwänden, die den Skandal von Darwins Theorie wahrscheinlich besser verstanden haben als deren Verteidiger. Oder gar die naive allzu populär und vereinfachend geschriebene Darwin-Biographie des Schriftstellers Jürgen Neffe. Er hat die Pointe von Darwins Denken auch nicht von Ferne her verstanden, wenn er über Darwin schreibt:

    "Er sagt auch: Ein Gott, so was Hohes würde sich nicht damit zufrieden geben 600.000 verschiedene Arten von Rüsselkäfern zu erfinden. Nein damit machen wir ihn klein. Gott hat diesen ganzen Vorgang erfunden. Er hat die Welt erfunden und da ist die Evolution ein Teil davon. Und deshalb sage ich: Man kann sehr wohl an Gott glauben und trotzdem an die Evolutionstheorie. Die beiden schließen sich nicht aus."

    Das aber ist schwerlich noch der Gott der Bibel. Zudem fragt sich, inwiefern den Urknall interessieren könnte, dass irgendwo auf einem rumschleudernden Felsbrocken die Nachfahren von Würmern den Urknall oder dessen Verursacher als jemanden verehren, der zudem noch die Gestalt der Verehrenden haben soll. Nein, die Tragweite von Darwins Evolutionstheorie wird erst klar, wenn man mit Foucault begreift, dass der Mensch sein Wesen verloren hat, das nicht durch den Affen oder die Verwandtschaft mit dem Fadenwurm ersetzt werden kann. Deswegen lehnen Darwin ja auch nicht nur Anhänger von Religionen, sondern auch der politischen Linken häufig ab. Ihnen gefällt zweifellos nicht der Kampf ums Dasein. Doch dahinter steht die Angst, die Foucault noch verstärkt, dass man dann nicht mehr weiß, wer man ist, gerade wenn man sich heute noch für einen Proletarier oder einen linken Intellektuellen hält.

    - Philipp Sarasin, Darwin und Foucault - Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Suhrkamp, Frankfurt/M 2009, gebunden, 224 S., EUR 24,80
    - David Quammen, Charles Darwin - Der große Forscher und seine Theorie der Evolution, Piper, München, Zürich 2008, gebunden, 318 S., EUR 19.95
    - Philip Kitcher, Mit Darwin leben - Evolution, Intelligent Design und die Zukunft des Glaubens, Suhrkamp, Frankfurt/M 2009, gebunden, 224 S., EUR 24,80
    - Jürgen Neffe, Darwin, Das Abenteuer des Lebens, Bertelsmann, 2009, 528 S., EUR 22,95
    - Desmond, Adrian / Moore, James / Browne, Janet, Charles Darwin - kurz und bündig (Spektrum Akademischer Verlag 2008, Paperback, 172 S., EUR 9,95
    - Darwin, Charles, Mein Leben , 1809-1882. Vollständige Ausgabe der "Autobiographie" (Insel Verlag) 2008, Paperback, 279 S., EUR 10