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Das Ende des Urkilos

Einmal im Jahr wird in Paris ein Safe geöffnet, und ein kleines Gewicht aus einer Platin-Iridium-Legierung kommt zum Vorschein: Das Urkilogramm. Alles wird über Vergleichswägungen indirekt mit diesem über 120 Jahre alten Klotz verglichen – von den Karotten auf dem Markt über Goldbarren bis hin zu schweren LKWs. Inzwischen sind sich die Physiker einig: Das Urkilo muss durch moderne Laborexperimente ersetzt werden.

Von Jan Lublinski | 28.03.2010
"Es muss alles genau aufeinander passen. Also wenn VW Kolben in Brasilien herstellt und Zylinder dazu in Wolfsburg, müssen die auf Mikrometer, oder besser als ein Mikrometer genau aufeinander passen. Globaler Handel und globale Fertigung wäre ohne eine globale Metrologie nicht möglich."

Das weltweit gebräuchliche SI Einheitensystem, das Système International d’Unités, besteht aus sieben Basiseinheiten. Kilogramm, Meter, Sekunde und Kelvin. Außerdem: Ampere für die elektrische Stromstärke, Mol für die Stoffmenge, und Candela für die Lichtstärke. Die meisten der SI-Einheiten können heute durch Laborexperimente hergestellt und weitergegeben werden. Das heißt: Diese Einheiten sind überall auf der Welt nachprüfbar. Bei der Masse aber liegen die Dinge anders. Hier ist das Ur-Kilogramm nach wie vor das Maß aller Dinge. Ein kleiner Zylinder aus Platin-Iridium, 39 Millimeter hoch, 39 Millimeter im Durchmesser. Eine Zumutung für die moderne Physik.

In der Nähe von Paris liegt der Pavillon de Breteuil, ein Jagdschloss aus dem 17. Jahrhundert, heute Sitz der Weltbehörde für Maße und Gewichte. Jedes Jahr im Herbst kommen Einheitenexperten und Politiker aus aller Welt hierher und nehmen an einer eigenartigen Prozession teil. Sie stehen Schlange auf einer Kellertreppe vor einer Tür mit drei Schlössern und warten darauf, dass die Pforte zum Urkilogramm geöffnet wird. Diese besondere Reliquie ist nur einmal im Jahr zu sehen. Eine Dame und zwei Herren öffnen je eine alte Holzkassette und nehmen schwere Schlüssel heraus. Nacheinander schieben sie diese in die Tür und öffnen die drei Schlösser.

Ein schrankgroßer Safe kommt zum Vorschein, und Andrew Wallard, der Chef der Maßbehörde macht sich an seinen Hebeln und Rädern zu schaffen. Er kommt ins Schwitzen und schaut mehrfach auf einen Zettel, den er mitgebracht hat. Schließlich zieht er die dicke Safetür auf.

"This is amazing. Mystique. This strange piece of metal.”"

Das Kilogramm ist noch an seinem Platz: unter drei Glasglocken liegt es, ein mysteriöses Stück Metall, ein wenig verdeckt von einer beachtlichen Staubschicht. Andrew Wallard ist erleichtert.

""Das ist alles sehr aufregend. Unsere alltäglichen Wägungen machen wir ja mit Kopien des Urkilogramms, aber es ist schön zu sehen, dass es noch da ist – und in gutem Zustand."

"Temperature actuelle? Tant mieux."

"Vingt virgule huit, maximale."

"Les deux sont… vingt et un minimum vingt."

"Et Hygrometrie?"

Die drei Hüter des Kilogramms messen, entsprechend dem Protokoll des Tages, Temperatur und Luftdruck des engen Kellerraums. Immer mehr Wissenschaftler drängen unterdessen herein. Sie wollen das Kilogramm in Augenschein nehmen und sich mit ihm fotografieren lassen.

"Take a picture of you."

"Right. Who has a camera?"

Das Kilogramm, unter seinen drei Käseglocken, bleibt indes ruhig. Nicht auszudenken, wenn es jemand stehlen oder nur fallen lassen würde. Selbst ein Fettfleck auf dem Urkilo würde alle Öl-, Kohle- und Edelmetallreserven der Welt mit einem Schlag leichter machen. Nur sehr selten holen die Physiker das Kilogramm-Klötzchen darum aus dem Safe heraus. Zuletzt 1990. Damals verglichen sie seine mit anderen ebenso alten Massen, den sogenannten nationalen Kilogrammprototypen. Das Ergebnis der Wägung war beunruhigend. Ernst-Otto Göbel, Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig.

"Es sieht so aus, dass wenn man einmal annimmt, dass das Kilogramm stabil ist, dass fast alle nationalen Prototypen, das heißt die Kopien, die dann die einzelnen Staaten bekommen haben, schwerer geworden seien über die Jahre. Und das sind inzwischen an die 40 Einzelne, die man vergleicht, so dass man aus dem den Schluss zieht, es ist eher wahrscheinlich, dass das eine, nämlich das Urkilogramm in Paris leichter geworden ist. Um einen entsprechenden Anteil. So dass es keinen Beweis wissenschaftlich dafür gibt, wer sich verändert. Aber es steht wohl fest, dass entweder alle 40 Prototypen oder das Urkilogramm sich verändern."

Die Gewichts-Verschiebung betrug 50 Mikrogramm, also etwa den Betrag, den ein Salzkorn auf die Waage bringt. Die Präzisionsforscher suchen, bisher vergeblich, nach Erklärungen. Göbel:

"Es gibt verschiedene Überlegungen. Zum Beispiel: Das ist ja ein Edelstahl Platin-Iridium, in dem Wasserstoff gelöst ist. Dass also Wasserstoff ausdiffundiert. Das könnte ein möglicher Prozess sein. Oder das andere: Verunreinigungen bei der Fertigung, die leicht flüchtig sind. Eine andere Möglichkeit, die aber fast ausgeschlossen wird, dass beim Reinigen des Urkilogramms – jede Vergleichsmessung erfordert eine Reinigungsprozedur, wo mit organischen und anorganischen Lösungsmitteln das Kilogramm gereinigt wird. Dass man dabei Atome abreibt und inzwischen so viele abgerieben hat, dass man das mit der Wägung feststellen kann."

Doch auch dieser Erklärungsversuch steht nicht auf sicherem Grund. Die Physiker haben versucht, andere Metallklötzchen zu reinigen und zu polieren – konnten aber beim besten Willen keine Abweichungen des Gewichts feststellen. Es weiß also niemand, was eigentlich los ist mit dem Urkilogramm. Fest steht nur: Es wiegt genau ein Kilogramm. Per definitionem. Egal was mit ihm passiert.

Ian Mills, Universität Reading, Präsident des Beratenden Komitees für Einheiten an der Weltmaßbehörde BIPM.

"Es ist wirklich sehr unbefriedigend, dass unser Referenzmaß für die Masse selbst seine Masse ändert. Das ist für mich eine völlig inakzeptable Situation."

Den Metrologen, so heißen die Leute, die sich mit Maßen und Maßeinheiten befassen, ist es geradezu peinlich, dass im 21. Jahrhundert noch immer ein menschengemachtes Objekt die Grundlage bildet für alle Massen der Welt. Während sie am Urkilo vorbeidefilieren, fragen sie sich, wie lange es dieses Ritual der Kilogramm-Safe-Öffnung wohl noch geben wird. Andrew Wallard hofft, dass sich bald etwas ändern wird.

"Oh I think all the scientific evidence is that it should be replaced. At least the definition of the mass unit should be replaced."

Der Wunsch nach Verbesserung des Einheitensystem ist alt. Er geht zurück bis zur Französischen Revolution, in deren Folge man die physikalischen Einheiten nicht mehr an den Gliedmaßen von Despoten, also Elle und Speiche, orientieren wollte. Die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts forderten die Einheiten durch fundamentale Größen der Natur zu definieren, so dass sie für jedermann zugänglich würden. 1875 unterschrieben dann Vertreter aus 17 Nationen die sogenannte Meter-Konvention in Paris, einen Vertrag über Einheiten-Standards für Wissenschaft und Wirtschaft. Wenig später stellte der Physiker Max Planck eine weiterführende Forderung auf, die heute aktueller ist denn je: Das Einheitensystem sollte auf Naturkonstanten fußen – unveränderlichen Zahlen, die in den Formeln der Physiker auftauchen und die von der Natur vorgegeben sind. Ian Mills:

"Es ist in jedem Fall günstiger, Definitionen zu nehmen, die auf fundamentalen Konstanten beruhen, als solche, die an Wasserproben gebunden sind oder an die Eigenschaften eines Platin-Iridium-Klötzchens, das in Paris aufbewahrt wird."

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Physiker darum bemüht, möglichst viele Einheiten und Messverfahren auf Phänomene der Mikrowelt zurückzuführen. So haben sie zum Beispiel die Sekunde als das Vielfache einer speziellen Schwingung in einem Cäsium-Atom definiert. Die Zeit wird heute mit extrem genauen Atomuhren angegeben. In Zukunft aber wollen die Einheitenreformer noch einen Schritt weiter gehen und alle Einheiten mit Hilfe von Naturkonstanten festlegen, so wie Max Planck es einst vorschlug.

"Man möchte ja als Basis der Einheiten, die man im praktischen Leben verwendet, etwas benutzen, was unabhängig von Ort und Zeit ist, und was überall das gleiche Messergebnis liefert, egal wie man das System herstellt."


Franz-Josef Ahlers, Physikalisch Technische Bundesanstalt Braunschweig. Das Paradebeispiel für eine Definition einer Basiseinheit über Naturkonstanten ist die Neudefinition des Meters aus dem Jahr 1983. Damals stützten die Physiker das Meter auf die Lichtgeschwindigkeit. Die anderen Einheiten könnten nun bald folgen: Die Temperatur soll über die sogenannte Bolzmann-Konstante definiert werden, die Zeit über die Rydbergkonstante, das Mol über die Avogadro-Zahl - und das Kilogramm könnte über eine Basisgröße aus der Quantenwelt definiert werden: das Planck’sche Wirkungsquantum. Die nächste Gelegenheit böte sich im Jahr 2011, bei der nächsten Vollversammlung der Weltmaßhüter. Andrew Wallard:

"Wenn die Experimente konsistente und überzeugende Ergebnisse liefern, dann spricht vieles dafür. Aber wir Metrologen sind in der Regel sehr konservativ. Wenn wir wissenschaftliche Zweifel haben, werden wir diesen Schritt nicht tun."

Eine Neudefinition ist prestigeträchtig. Eine ganze Generation von Metrologen bemüht sich derzeit darum, an einem Eintrag in die Geschichts- und Lehrbücher beteiligt zu sein. Ernst-Otto Göbel:

"Vielleicht ist es das hehre Streben, das Einheitensystem noch einmal mit zu verbessern und zu erneuern und da einen wesentlichen Beitrag geleistet zu haben."

"Wir können im Moment Tag und Nacht forschen. Weil es eine absehbare Zeit ist, ist man dann eben auch mal bereit 50 Prozent mehr zu arbeiten. Obwohl es dann auch schon an dem ganzen Umfeld kratzt. Familie und was dann so betroffen ist – ja."

"Physiker und Wissenschaftler sind ja auch manchmal verspielt. Wollen auch noch das letzte Detail klären. Manches kann man sich jetzt nicht mehr erlauben. Das muss man verschieben auf später."

"Als Wissenschaftler ist es eher auch so mein Bestreben, jeden Messwert zweimal gesehen zu haben, um dann ganz sicher angeben zu können, jawohl das ist es. Und dafür stehe ich gerade. Hier ist es alles ein bisschen knapp gerechnet, wir können wahrscheinlich gerade so jedes Experiment nur einmal durchführen, und das ist schon so ein bisschen beunruhigend, weil man ja doch an einer ziemlich großen Tat beteiligt ist."

In einem weitläufigen englischen Garten im Londoner Vorort Teddington steht etwas versteckt hinter einem dreistöckigen, herrschaftlichen Landhaus aus dem 17. Jahrhundert ein mächtiger Apfelbaum. Über seinen bemerkenswerten Stammbaum gibt ein Hinweisschild Auskunft.

"Dieser Baum stammt aus einem Trieb eines alten Baumes der einst in Isaac Newtons Garten wuchs, als dieser ein junger Mann war. Der Überlieferung zufolge war es ein Apfel, der von diesem Baum fiel, der Newton davon überzeugte, dass die Gravitationskraft, die den Apfel herunter zog, die gleiche Kraft war, die auch den Mond auf seiner Bahn hielt."

Ian Robinson geht seit über 30 Jahren an diesem Baum vorbei, wenn er in seinen Arbeitspausen durch den Park des National Physics Laboratory schlendert. Sein Labor erstreckt sich über mehrere verwinkelte Wohnräume des ehemaligen Landhauses, hier tüftelt er an einer sogenannte Watt-Waage. Ein Instrument, das schon bald das Urkilogramm ersetzen könnte.

Die Watt-Waage besteht aus einer schrankgroßen Balkenwaage, mit Gewichten auf der einen und einem Elektromagneten auf der anderen Seite. Mit diesem Experiment könnte es möglich werden, die Basiseinheit des Kilogramms über eine Naturkonstante aus der Quantenwelt zu definieren: das Planck’sche Wirkungsquantum. Max Planck brachte es Ende des 19. Jahrhunderts ins Spiel, als klar wurde, dass Licht und Energie immer in klar definierten Päckchen vorkam. Das Wirkungsquantum ist eine Konstante und: Es taucht in etlichen Formeln der Physiker auf. Als Hilfsgröße eignet es sich deshalb bestens, um elektrische Kräfte zu ermitteln. Spannung und Strom in dem Magneten kann Robinson mit extrem genauen Instrumenten messen, und somit über einen Kräftevergleich die Masse eines Gewichts absolut bestimmen. Doch ganz so weit ist es noch nicht. Ian Robinson:

"Die Justage des Apparates ist derzeit die größte Fehlerquelle. Denn die Spule des Elektromagneten kann Kräfte in alle möglichen Richtungen ausüben und Spannungen und Torsionen verursachen. Mit der Elektronik habe ich dafür seit zehn Jahren keine Probleme mehr. Ich habe die meisten Geräte in diesem Labor selbst entwickelt – und sie so rauscharm gebaut, dass sie für meine Zwecke gerade gut genug sind."

Ian Robinson begann bereits in den 70er Jahren an der Watt-Waage zu arbeiten. Zunächst gemeinsam mit seinem Kollegen Bryan Kibble, dem Erfinder dieses Gerätes. Als dieser in Rente ging, baute Ian Robinson eine zweite, verbesserte Version auf. 16 Jahre lang legte er keine neue Fachpublikation vor. Die Tücken seiner speziellen Messelektronik machten ihm zu schaffen, ebenso winzige Veränderungen des Luftdrucks sowie des Grundwasserspiegels, die das Gewicht der Massen auf seiner Waage beeinflussten.

"Es kann sehr schwer werden, die eigenen Ergebnisse deutlich zu übertreffen, wenn man schon einmal ans Limit gegangen ist. Ich arbeite langsam, aber dafür verstehe ich meinen Apparat genau. Wenn ich eine Messung mache, nehme ich danach das Gerät auseinander, schraube es wieder zusammen, justiere es neu und schaue dann, ob ich dasselbe Resultat noch einmal erhalte."

Wenig Verständnis für ein solch penibles Vorgehen hatte die neue Leitung des britischen Metrologie-Instituts, das vor einigen Jahren privatisiert wurde. Sie hat Ian Robinson unlängst andere Aufgaben zugewiesen und seine Watt-Waage an Forscher in Kanada verschenkt. Robinson aber hat noch eine letzte Publikation vorlegen können: Die Messwerte seiner Wattwaage lagen am Ende recht nahe bei Ergebnissen, die zuvor Forscher vom US-amerikanischen Maßinstitut, dem National Institute of Standards and Technology, erzielt hatten.

"Hier mit dem Schild 'Nicht berühren' das ist die Kugel aus Silizium 28. Das ist also die wertvolle Kugel. Ich geh jetzt hier linksrum in diese Handschuhe rein."

Noch ist aber nicht entschieden, ob die Watt-Waage sich durchsetzen wird. Es befindet sich noch ein zweites, völlig anderes Objekt im Rennen um die Neudefinition des Kilogramms: Eine dunkel glänzende Kugel aus reinstem Silizium-Kristall. Ein makellos poliertes, geheimnisvoll spiegelndes Rund, knapp zehn Zentimeter hoch, ziemlich genau ein Kilogramm schwer, aufbewahrt in einem durchsichtigen Plexiglasbehälter an der Physikalisch Technischen Bundesanstalt.


"Die Außenseite dieses Handschuhs ist jetzt eine saubere vorher gewaschene. Ich löse jetzt drei Schrauben, mit denen ein Plexiglasrohr angeschraubt an eine Bodenplatte. Dieses Plexiglasrohr kann man entfernen – und hat jetzt die Kugel auf einem Plexiglassockel vor sich liegen. Die Kugel ist jetzt so positioniert, dass ich sie direkt mit diesem gereinigten Handschuh anfassen kann."

Mit ruhiger Hand trägt Arnold Nicolaus die Kugel zu einem großen Labortisch, der überfüllt ist mit Linsen, Spiegeln, Glasfaserkabeln und Feinjustage-Schrauben. Mittendrin: ein Sockel für die Kugel. Nicolaus:

"Es ist ein notwendiges Messobjekt. In dem Moment ist es für mich völlig egal, ob das Ding nun ein oder zwei Millionen gekostet hat. Es stellt für mich sowieso ein sehr wertvolles Messobjekt dar. Und mit dem gehe ich so oder so ordentlich um. Also insofern gibt es da keine Aufregung oder feuchte Hände oder so etwas – die sowieso ja durch die Handschuhe abgeschirmt werden."

Arnold Nicolaus und seine Kollegen vermessen die Kugel in mehreren Speziallabors auf der ganzen Welt. Sie wollen möglichst genau ermitteln, wie viele Silizium-Atome sich in ihr befinden. Dazu bestimmen sie die Größe des Kristallgitters der Kugel, die Zusammensetzung der Silizium-Isotope und den Durchmesser der Kugel aus verschiedenen Winkeln. Nicolaus:

"Sagen wir einmal, in der Auflösung von drei Atomen können wir sagen, wie die Topographie der Kugel aussieht. Abweichungen von der absoluten mathematischen Rundheit können wir benennen. Wir können die Kugel in allen drei Richtungen drehen und auch beäugen. Und die Gesamtunsicherheit für den Durchmesser liegt bei knapp unter einen Nanometer. Also alle Abweichungen die diese Kugel haben kann, werden von uns gnadenlos detektiert."

Gelingt die Volkszählung der Siliziumatome in der Kristallkugel genau genug, ist der Weg frei, zunächst für eine Neudefinition des Mol, der Einheit der Stoffmenge. Darüber hinaus könnten die Physiker auch die Masse neu definieren: Über eine Vergleichswägung der Kugel mit dem Urkilogramm können sie mit großer Genauigkeit ermitteln, wie schwer die Kugel ist und dann ausrechnen wie viele Atome sich im Urkilogramm befinden. Mit einem Würfel aus Silizium wäre dieses Kunststück übrigens nicht möglich.

"Es hat sich gezeigt, dass es einen idealen Würfel nicht gibt. Wir verlieren an den Ecken, die ja mikroskopisch scharf sein müssten, bei jedem Handeln mit der Kugel, bei jedem Bewegen verlieren wir Hunderte von Milliarden Atomen an diesen Kanten die abbrechen. Und das war nachher der Grund zu sagen: wir können diese Genauigkeit für einen Würfel überhaupt nie erreichen. Weil wir nie genau wissen, wie viele Atome sind den überhaupt noch da."

Die Herstellung der Kugel, die aus 99,99-prozentigem Silizium-28 besteht, war die größte Herausforderung für das so genannte Avogadro-Projekt. Geliefert wurde dieses extrem reine Material im Jahr 2006 aus Labors in St. Petersburg und Nischnij Nowgorod. Die Wissenschaftler dort nutzten zur Anreicherung des Siliziums ein Zentrifugensystem, mit dem früher einmal Uran für Atombomben hergestellt worden war. Peter Becker von der Physikalisch Technischen Bundesanstalt war derjenige, der diese ungewöhnliche Bestellung aufgab. Kostenpunkt: 2 Millionen Dollar.

"Da bin ich natürlich hierher gekommen, zu unserem Chef. Mit Russland! Da zieht man erstmal die Augenbrauen hoch - ob das wohl klappt? Aber ich glaube, die russische Seele ist so, wenn man etwas in die Hand versprochen bekommen hat, dann ist das genauso wie ein Vertrag."

Die Russen lieferten also pünktlich. Kristallzuchtexperten in Berlin verwandelten das rohe Silizium-28-Material in einen zylinderförmigen Silizium-Kristall. Zum großen Glück der Forscher reichte das Materialvolumen gerade aus, um zwei Silizium-Kugeln aus ihm herauszusägen. Ihre Kristallsäge mussten sie auf einen Millimeter genau ansetzen, bei einer größeren Abweichung wäre zumindest eine Kugel verloren gegangen. Nach dieser ersten Zitterpartie ging es dann ans Rundschleifen und Polieren der Kugel. Arnold Nicolaus hat dabei einiges gelernt:

"Es ist klar, wenn man jetzt so eine Stelle ausgemacht hat, die zu dick ist, also so einen kleinen Hügel auf einer Kugel. Dann muss man ihn wegpolieren. Wenn man jetzt aber nicht früh genug angehalten hat und zu tief geraten ist. Dann hat man eine Beule drin. Die kriegt man aber nur weg, wenn man den Rest der Kugel so viel kleiner macht, dass die Kugel wieder verschwindet. Das ist die große Herausforderung, dann noch da noch die Nerven zu behalten und zu sagen: Na, OK, dann fange ich morgen wieder von vorne an."

Den Feinschliff der Kugeln übernahm Achim Leistner, ein gelernter Feinoptiker aus Sachsen, der in den 50er Jahren aus der DDR geflohen und nach Australien ausgewandert war. Niemand kann Kugeln so perfekt polieren wie er. Insgesamt verbrachte er sechs Monate damit, die beiden Kugeln so rund wie möglich zu machen: Wären diese so groß wie die Erde, würde ihre größte Erhebung nur vier Meter betragen. Ein Ergebnis, mit dem alle zufrieden waren, berichtet Arnold Nicolaus. Alle außer Achim Leistner.

"Er hat von einem sehr schmerzlichen Hügelabschleifvorgang berichtet, wo er kurz vor Weihnachten fast fertig war und es war nur noch so eine Stelle übrig. Und er ist beim Abschleifen etwas zu tief geraten. Damit war eben der Rest der Kugel, der so perfekt rund war, verloren, und er hat es auch nicht wieder in den Zustand zurück gebracht."

Wichtiger noch als die Rundheit ist für die Zählung der Siliziumatome aber die Glattheit der Kugeln und ihre Masse. Mit diesen beiden Parametern war auch Achim Leistner sehr zufrieden: Die Kugeln hatten am Ende nur eine Handvoll feinster Kratzer abbekommen. Der deutsche Schleifmeister aus Australien hatte seine Mission also erfüllt und Arnold Nicolaus flog mit einer der beiden Kugeln nach Deutschland zurück. Doch dann wurde es noch einmal kritisch: Bei einem Zwischenstopp in Asien erweckte das Handgepäck den Argwohn der Flughafen-Security: Diese hatte die undurchsichtige Kugel in ihrem Röntgengerät ausgemacht. Nicolaus:

"Die wollten dann tatsächlich wissen, was das für eine Kugel ist, ob man die mal aufmachen kann, ob man die mal zeigen kann. Dann muss man schon ziemlich hartnäckig darauf bestehen, dass es unter keinen Umständen aufgemacht wird! Und schon gar nicht vorne in diesem Sicherheitsbereich, wo ja beliebige Umweltbedingungen sind, aber keine guten für die Kugel. Als ich mich dann geweigert habe und gesagt habe: 'Nein, auf keinen Fall!' Da haben sie erst so eine Sekunde gezuckt und dann gingen die Maschinengewehre in Anschlag."

Nicolaus hielt seine offiziellen Begleitpapiere hoch und erhielt Gelegenheit, mit dem Chef der Security zu verhandeln. Inzwischen sind die Silizium-Kugeln wieder in Braunschweig bei der PTB angekommen. Die ersten Messungen stimmen Arnold Nicolaus und seine Kollegen optimistisch. Ihre endgültigen Ergebnisse wollen sie Ende 2010 publizieren. Denn im Jahr 2011 tagt die Weltversammlung der Maßhüter in Paris und entscheidet über mögliche Neuerungen im SI-Einheitensystem. Nicolaus:

"Das Kilogramm hat nun 120 Jahre überlebt. Und dann sollte man eigentlich auch mit einem sehr guten Gefühl da reingehen. Wir werden es sehen, in einem Jahr, wie weit wir sind. Sonst muss man einfach sagen, wenn man nicht sicher genug ist: 'Wir verschieben es noch einmal.'"

Noch Anfang 2009 waren die Kilogrammforscher eher pessimistisch. Es hatte in den Jahren zuvor so ausgesehen, als lägen die Messergebnisse der beiden konkurrierenden Verfahren - Watt-Waage und Silizium-Kugel – sehr weit auseinander. Solange die Physiker keine Erklärung für diese Diskrepanz hatten, war an eine Abschaffung des Urkilos im Jahr 2011 nicht zu denken. Dann aber änderte sich die Lage. Die Kugelphysiker hatten einige ihrer Messverfahren an dem Siliziummaterial überarbeitet und sich dem Ergebnis der Watt-Waage angenähert. Peter Becker.

"Wir können wirklich mit gutem Gewissen sagen, dass wir da sicherlich noch ein Wörtchen mitreden können, wenn die Neudefinition des Kilogramms ansteht."

Nachdem es lange so ausgesehen hatte, als ob die Wattwaage am Ende das Rennen machen würde, ist jetzt so etwas wie ein Gleichstand eingetreten: Ende des Jahres werden voraussichtlich beide Methoden akzeptable Ergebnisse vorzuweisen haben. In jüngster Zeit zeichnet sich darum ein Gesinnungswandel unter den Maßhütern ab: Die meisten von ihnen wollen den Wettstreit beilegen und beide Methoden in die neue Definition einfließen lassen. Sie wollen eine Art Durchschnittswert bestimmen, bei dem sowohl die Ergebnisse der Wattwaagen als auch der Silizium-Kugeln berücksichtigt werden. Entweder gleichberechtigt oder mit eine Art Gewichtungsfaktor: Die genauesten Messungen, also jene mit der kleinsten Unsicherheit, würden dann den größten Einfluss auf die neue Definition bekommen. Arnold Nicolaus:

"Es wird sicherlich eine Doppeldefinition werden. Und es wird einem nachher eine Realisierungsmöglichkeit gegeben, die sich aller empfohlen Wege bedient. Wir können eine Wattwaage nehmen, eine Avogadrokugel, und wahrscheinlich wird auch die Ableitung von einem Masserepräsentanten in Zukunft noch erlaubt sein."

Am Ende werden also viele Wege zum Kilogramm führen. Selbst das alte Pariser Metalltönnchen wird voraussichtlich nicht im Museum landen, sondern es wird für praktische Vergleichs-Wägungen in Zukunft weiterhin genutzt werden. Aber es wird nicht mehr das Maß aller Massen sein. Die Einheit des Kilogramm wird über eine abstrakte Definition neu festgelegt werden. Kernstück dieser Definition wird eine Naturkonstante sein: Das Planck’sche Wirkungsquantum. Für den Laien wird am Ende kaum nachvollziehbar sein, wie das Kilogramm genau definiert ist. Aber die Physiker werden einen Standard für die Masse haben, der unabhängig von Ort und Zeit ist und der überall dasselbe Messergebnis liefert. Franz-Josef Ahlers:

"Und wenn eine Zivilisation in einem anderen Sonnensystem ein Experiment machen würde, und wir würden sagen: Mach das so und so, und wir würden uns darauf einigen, würden wir die gleichen Werte messen."

Und noch einen weiteren Vorteil hat die zukünftige Definition des Kilos: Während der Wechsel von der D-Mark zum Euro nicht leicht fiel, wird die Umstellung auf die neue Kilogramm-Definition kein Problem sein. Denn diese ist letztlich nur für Metrologen relevant. Im praktischen Leben wird sich rein gar nichts ändern.