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Das Ende eines Publikumsmagneten

Kaum vier Monate benötigten die Bauarbeiter für die Errichtung der riesigen Halle für die Londoner Weltausstellung von 1851: Aus vorgefertigten Eisen- und Glaselementen entstand der Crystal Palace, der Kristallpalast, in Rekordzeit. Später als Sporthalle, Konzert- oder Festsaal genutzt, wurde die provisorische Gewächshaus-Konstruktion von Joseph Paxton zur Attraktion. Bis dann vor 75 Jahren ein Großbrand das filigrane Monument zerstörte.

Von Jochen Stöckmann | 30.11.2011
    Mehr als 200 Meter hoch loderten am Abend des 30. November 1936 im Londoner Vorort Sydenham die Flammen eines Großbrandes. Bis an die Küste von Brighton war das Feuer zu sehen.

    Als Winston Churchill davon hörte, konstatierte der spätere Kriegspremier:

    "Dies ist das Ende eines Zeitalters."

    Was da brannte, war der Kristallpalast. Eigentlich ein Provisorium, hatte sich die vom Tüftler Joseph Paxton für die Weltausstellung 1851 gebaute, einem enormen Gewächshaus ähnliche Halle zum Wahrzeichen einer Epoche gemausert. Der monumentale Glasbau von über 600 Meter Länge und 150 Meter Breite verkörperte die Erinnerung an einen friedlichen Wettbewerb von Nationen, die Kunst, Kultur und vor allem ihre Wirtschaftskraft zur Schau stellten. Deshalb wurde der Komplex aus genormten Glaselementen und Eisenstreben nach dem Ende der Expo 1851 zwar wie vorgesehen demontiert, dann aber zwei Jahre darauf in Sydenham wieder zusammengesetzt. Die Weltausstellung mit sechs Millionen Besuchern hatte das Verlangen nach einer großen Konzert- und Veranstaltungshalle geweckt.

    Und Crystal Palace entpuppte sich als Publikumsmagnet, zog bis in die 30er-Jahre mit Konzerten und Festivals mit bis zu 200 Blaskapellen die Massen an.

    Die Meinungen über die ebenso filigrane wie monumentale Architektur gingen auseinander:

    "Die Menge an Einfällen, die das Gebäude ausdrückt, ist, wie ich annehme ein einziger und sehr bewundernswerter Gedanke Sir Joseph Paxtons, vermutlich in keiner Weise brillanter als die Tausende von Gedanken, die ihm stündlich durch sein aktives und intelligentes Gehirn gehen, nämlich dass es möglich sein könnte, ein Gewächshaus zu bauen, das größer ist als irgendein je zuvor gebautes."

    So spottete 1851 der englische Maler und Publizist John Ruskin, während der Pariser Dichter Charles Baudelaire sich bei seinem Poem "Der schlechte Glaser" von Paxtons Glaskathedrale inspirieren ließ:

    "'Was? Sie haben keine bunten Scheiben? Rosa, rote, blaue Scheiben, magische Fenster, paradiesische Fenster? Sie wagen es, im Armenviertel herumzulaufen und führen nicht einmal Scheiben, durch die man das Leben in Schönheit sieht?' - Und heftig stieß ich ihn zur Treppe, über die er brummend stolperte ... und, da der Stoß ihn umwarf, zerbrach er unter seinem Rücken sein ganzes armseliges Hausierervermögen, das wie ein vom Blitz getroffener Kristallpalast laut zerklirrte."

    Dass Glas brennen würde, hatte sich selbst der fantasiereiche Dichter nicht vorstellen können. Ursache war die Masse der hölzernen Einbauten, der Laufstege und Tribünen, mit denen Paxtons Koloss für den Publikumsbetrieb hatte ausgerüstet werden müssen. Die schiere Größe - auf der Weltausstellung noch Symbol für die Wirtschaftskraft des Empires - wurde zum Problem. Bereits 1911 hatte die Betreibergesellschaft Bankrott angemeldet. Im Ersten Weltkrieg dümpelte das Gebäude dann vor sich hin als "Her Majesty's Ship Crystal Palace", genutzt fürs Trockentraining der britischen Marine.

    Nach 1918 nahm der Kristallpalast noch einmal Fahrt auf. Und für die Londoner blieb "Crystal Palace" ein attraktiver Ort, auch nach dem Brand: In der "Financial Times" hieß es:

    "Londons erste Autorennbahn, gebaut für 25.000 Pfund, wurde gestern auf dem Gelände des Kristallpalasts eröffnet."

    Auf den ersten Seiten der internationalen Presse hatte am 1. Dezember 1936 die Eilmeldung von der Brandkatastrophe in London neben Fotos jener Verwüstungen gestanden, die General Francos Bomber im republikanischen Madrid anrichteten. Ein Menetekel:

    Wenige Jahre später wurden die vom Feuer verschonten Doppeltürme, die "Twin Towers" abgerissen. Zumindest indirekt fielen sie - wie Baudelaire geahnt hatte - einem "Blitz" zum Opfer: Der deutschen Luftwaffe, "the German Blitz", hätten die auffälligen Glastürme als Orientierungspunkt für Bombenangriffe dienen können. Mit 30 Kilogramm Dynamit sprengte das britische Militär 1941 die Reste des "viktorianischen Monstrums", wie Crystal Palace am Ende genannt wurde.