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"Das Ergebnis war wunderbar volltönend"

Das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks gilt in Fachkreisen als Mahler-Orchester. Das geht zurück auf den Kraftakt des früheren Chefdirigenten Eliahu Inbal, Mitte der 1980er-Jahre mit diesem Klangkörper sämtliche Sinfonien Gustav Mahlers in Frankfurt zyklisch aufzuführen. Das war damals noch eine Pioniertat, denn der große Spätromantiker schien nahezu vergessen, was man sich heute kaum vorstellen kann.

Von Ludwig Rink | 14.06.2009
    Paavo Järvi aus Estland, seit 2006 Chefdirigent dieses hr-Sinfonieorchesters, scheint jetzt an diese große Tradition anknüpfen zu wollen. Die neue, bei Virgin Classics erschienene CD des Orchesters, wirkt jedenfalls wie eine Wiederannäherung der Frankfurter an Mahlers Sinfonik - wie eine Art Vorspiel zu größeren Taten. Sie bietet vier Sätze aus Mahlers sinfonischem Schaffen: Einer wurde aus einer Sinfonie wieder entfernt, ein anderer nur als Torso überliefert, der dritte in leicht veränderter Form als Satz einer Sinfonie wiederverwendet und der vierte schließlich ist ein von einem späteren Komponisten-Kollegen angefertigtes Arrangement für kleinere Besetzung.

    Ohne im engeren Sinne Programm-Musik zu sein, spiegeln Mahlers Sinfonien doch häufig wider, was psychisch und gedanklich in ihm vor sich ging. Oft haben sie deutliche Bezüge zu Ereignissen in seinem Leben. Die 5. Sinfonie zum Beispiel schrieb er nach einem gefährlichen Blutverlust, der ihn 1901 fast das Leben gekostet hätte - die Sinfonie beginnt ungewöhnlicherweise mit einem Trauermarsch, endet dann aber mit einem dankbaren, dem Leben wieder zugewandten Finale. Und wenn das "Lied von der Erde" und seine 9. Sinfonie den Konflikt zwischen Freude und Depression, zwischen Leben und Tod zum Thema machen, so ist dies sicher eine Folge der zuvor gestellten Diagnose seines Arztes, dass er wegen einer schweren Herzerkrankung voraussichtlich nur noch wenige Jahre zu leben habe.

    Jahre vorher, bei der Komposition seiner 2. Sinfonie, war Mahler in eine Art Schaffenskrise geraten. Nach der Fertigstellung des ersten Satzes hatte er das Gefühl, diese Sinfonie niemals beenden zu können. So strich er den Titel Sinfonie durch und ersetzte ihn durch das Wort "Totenfeier". Mahler schien den strahlenden Held seiner 1. Sinfonie hier zu Grabe tragen zu wollen mit einer Art Tondichtung, die in dieser hier vom hr-Sinfonieorchester eingespielten Form auch für sich stehen könnte.
    Gustav Mahler
    aus: Totenfeier (1888)
    Dauer: 1'30
    hr-Sinfonieorchester, Leitung: Paavo Järvi
    EMI Records/Virgin Classics (LC 07873) 50999 2165762 7

    Zum Glück gewann Mahler 1893 seine Schaffenskraft zurück, komponierte bis zum Sommer den zweiten, dritten und vierten Satz der Sinfonie, überarbeitete den inzwischen etwa fünf Jahre alten ersten und stellte bis Jahresende den fünften, abschließenden Chorsatz fertig, der dem Werk schließlich den Titel "Auferstehungs-Sinfonie" gab: von der Totenfeier des ersten Satzes zur Überwindung des Todes im letzten.

    Mahlers Arbeitsweise lief öfter so ab, dass er während seiner Sommerferien eine Sinfonie skizzierte, um sie dann im darauf folgenden Winter als Partitur auszuarbeiten. So war es auch mit der 10. Sinfonie, deren Musik er im Sommer 1910 notierte. Die Fertigstellung dieser Skizzen im Winter danach wurde aber durch notwendige Überarbeitungen der 9. Sinfonie unterbrochen, und da Mahler im Mai 1911 starb, hinterließ er seine 10. Sinfonie in einem keineswegs aufführungsreifen Zustand. Nur der erste Satz war so gut wie fertig, ein ausgedehntes Adagio, das, wenn man so will, das Finale der vorangegangenen 9. Sinfonie weiter spinnt: mit einem ausgedehnten Dialog zwischen einem gesanglichen und einem hymnischen Thema. In großem Kontrast dazu der Höhepunkt der Coda: eine schneidende, grelle Dissonanz aus neun Tönen mit einem scharfen, ausgehaltenen Ton der Trompete. Hier haben wir ihn wieder, den Bezug zum Leben: Mahler soll diesen Aufschrei spontan notiert haben, als er von der Untreue seiner Frau Alma erfahren hatte.

    Gustav Mahler
    aus: Sinfonie Nr. 10: Adagio
    Dauer: 2'40
    hr-Sinfonieorchester, Leitung: Paavo Järvi
    EMI Records/Virgin Classics (LC 07873) 50999 2165762 7

    Neben der "Totenfeier" und dem Torso der 10. Sinfonie bietet die neue CD des hr-Sinfonieorchesters zwei weitere Einzelsätze mit hellerem, lyrisch-pastoralen Charakter: "What the Wild Flowers Tell Me", eine Bearbeitung des 2. Satzes von Mahlers 3. Sinfonie durch den englischen Komponisten Benjamin Britten sowie ein Andante unter dem Titel "Blumine", das einst als zweiter Satz der ersten Sinfonie gedacht war, dann aber dort von Mahler wieder entfernt wurde. Entstanden war "Blumine" 1884 als Bestandteil einer Bühnenmusik für das Schauspiel "Der Trompeter von Säckingen". Hier diente es als Serenade im Mondschein, auf der Trompete über den Rhein geblasen. Auch hier gibt es wieder einen biografischen Hintergrund: Mahler hatte sich in Marion von Weber verliebt, die Gattin des Enkels von Carl Maria von Weber, und das letzte Blatt von Mahlers "Blumine" trägt eine Widmung zu Marions Geburtstag.

    Gustav Mahler
    Schluss aus: Blumine (Sinfoniesatz)
    Dauer: 3'22
    hr-Sinfonieorchester, Leitung: Paavo Järvi
    EMI Records/Virgin Classics (LC 07873) 50999 2165762 7

    Davon, dass Mahlers Musik hierzulande erst seit etwa 30 Jahren wieder zum Standard-Repertoire der großen Sinfonieorchester gehört, war bereits vorhin die Rede. Aber auch anderswo war Mahlers Musik längere Zeit aus der Mode. So berichtet der englische Komponist Benjamin Britten, wie er Anfang der 30er-Jahre ein Klavierkonzert hören wollte, dabei aber vorher eine Sinfonie von Mahler über sich ergehen lassen musste: " Ich stöhnte natürlich in Erwartung von 45 Minuten Langeweile," berichtet Britten.

    "Aber was ich zu hören bekam, war nicht, was ich erwartet hatte. Erstens überraschte mich die Orchestrierung. Sie war im Wesentlichen 'solistisch', vollkommen klar und transparent. Die Klangfarben wirkten bis ins Kleinste ausgearbeitet, und das Ergebnis war wunderbar volltönend. Ich langweilte mich für keine einzige der 45 Minuten ... Die Form war so klug ausgedacht, jede Durchführung überraschte und wirkte doch zwangsläufig. Vor allem war das Material bemerkenswert, die melodischen Ausformungen waren höchst originell, mit solch rhythmischer und harmonischer Spannung von Anfang bis Ende."

    Britten war bekehrt und setzte sich fortan für Mahlers Werk ein. Er war es, der den vorhin angespielten Satz "Blumine" erstmals in neuerer Zeit wieder als Einzelstück aufführte, und er fertigte von einem stimmungsmäßig verwandten Satz der 3. Sinfonie ein kleiner besetztes Arrangement an. Geprägt von seinen pantheistischen Vorstellungen, erzählt Mahler in seiner 3. Sinfonie in einem gewaltigen Entwicklungsbogen das Hohelied von der Liebe - von der erwachenden Natur im Sommer, über die Blumen auf der Wiese, die Tiere im Wald, den Menschen und die Engel im Himmel bis hin zur allumfassenden Liebe Gottes. Britten wählte den 2. Satz dieser Sinfonie für seine Bearbeitung; er steht unter dem Motto "Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen". Laut eigener Aussage sah Mahler darin das Unbekümmertste, das er je geschrieben habe, "so unbekümmert, wie nur Blumen sein können. Das schwankt und wogt alles in der Höhe aufs leichteste und beweglichste, ohne Schwere nach unten in die Tiefe, so wie Blumen im Winde auch biegsam und spielend sich wiegen.

    Freilich bleibt es nicht bei der harmlosen Blumenheiterkeit, sondern plötzlich wird alles furchtbar ernst und schwer, wie ein Sturmwind fährt es über die Wiese und schüttelt die Blätter und Blüten, die auf ihren Stängel wimmern, als flehten sie um Erlösung in ein höheres Reich."

    Gustav Mahler/Benjamin Britten
    Schluss aus: "What the Wild Flowers Tell Me"
    Dauer: 4'26
    hr-Sinfonieorchester, Leitung: Paavo Järvi
    EMI Records/Virgin Classics (LC 07873) 50999 2165762 7

    Die Neue Platte - heute mit der Neuaufnahme von vier Sinfonie-Sätzen aus der Feder Gustav Mahlers. Sie hörten das hr-Sinfonieorchester unter Leitung seines Chefdirigenten Paavo Järvi. Die CD ist bei Virgin Classics erschienen. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.