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"Das Exil ist eine Krankheit"

Sie war nach 1945 die "große Dame" des deutschsprachigen Kulturjournalismus: Der Respekt ihr gegenüber galt nicht nur ihrem Schreibtalent, sondern auch der Zeitzeugin, die in ihrer Autobiografie die Schrecken der Flucht vor den Nazis und einem Emigrantenleben in England verfasst hatte.

Von Christian Linder | 19.10.2011
    Zu welcher Musik sie "in die Ewigkeit oder in das Nichts" eingehen wolle, überlegte Hilde Spiel in ihrer Autobiografie, und anstelle der früher favorisierten Melodien Schuberts entschied sie sich am Ende für das letzte der "Vier letzten Lieder" von Richard Strauss, eine Musik, die ihr ein Traumbild ihres zweiten Ehemanns Hans Flesch-Brunningen nahe gebracht hatte und in der sie das Motiv von "Tod und Verklärung" wunderbar aufgehoben fand:

    Nun gut, sagte ich mir, wenn das der Vorschlag aus dem Jenseits ist, dann will ich ihn annehmen. Ich habe mich im Grunde immer einem Wink, der von außen kam und einsichtig war, gefügt.

    Fügen wollte Hilde Spiel sich nicht immer, sondern musste "in den hellen und den finstern Zeiten", wie sie später den ersten Band ihrer Memoiren nannte, auch Widerstand leisten - und von diesem Widerstand zeugt ihr literarisches und publizistisches Werk als Bericht über die größte Heimatvertreibung im 20. Jahrhundert. Geboren am 19. Oktober 1911 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Wien, hatte sie früh ihr Schreibtalent offenbart und noch während des Philosophiestudiums als 22-Jährige mit dem 1933 erschienenen Roman "Kati auf der Brücke" debütiert, sie veröffentlichte auch bald in Zeitungen, die führenden Wiener und Prager Blätter rissen sich um ihre Texte - da entschloss sie sich 1936 zusammen mit ihrem ersten Ehemann Peter de Mendelssohn zur Emigration nach England. Sie wurde dort sehr freundlich aufgenommen, etablierte sich sehr schnell auch als Autorin, weil sie bald dank ihres Sprachtalents mühelos auf Englisch Texte für Zeitungen wie "Daily Express" oder "New Statesman" schreiben konnte, aber trotz dieses Wohlgefühls in England litt sie immer auch unter dem Exil, das sie als eine Krankheit beschrieb:

    Es ist eine physische und wahrscheinlich auch eine seelische und auch eine vererbbare Krankheit. Das Exil ist eine Krankheit unter anderem deswegen, weil man das Gefühl hat, dauernd an einer Wunde zu leiden, die einen erinnert, dass man etwas verloren hat, dass einem etwas weh tut, und man lebt also tags und schläft nachts mit dieser Wunde, die nicht loszukriegen ist.

    1946 Rückkehr nach Wien mit einer Akkreditierung als Korrespondentin des "New Statesman", kurz darauf Weiterreise nach Berlin, von wo aus sie als Theaterkritikerin für die Zeitung "Die Welt" schrieb, dann ging sie aber doch wieder nach England und arbeitete nun für die "Süddeutsche Zeitung" und die Schweizer "Weltwoche". Von London aus unternahm sie aber zugleich immer wieder neugierige Reisen nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. "Welche Welt ist meine Welt?" überschrieb Hilde Spiel später den zweiten Band ihrer Autobiografie. Es war die Frage nach ihrem Zuhause.

    Ich glaube schon, dass ich in einem höheren Maße in Wien zu Hause bin als in England, obwohl - wann immer ich nach England, nach London gehe - sofort das Gefühl absoluter Vertrautheit mit allem besitze und auch das Gefühl eines Hingehörens, aber doch nicht eines so totalen und auch nicht mit einem Bezug zu meiner Kindheit, was ja unglaublich wichtig ist, denn gerade für Schriftsteller ist ja die Kindheit das bestimmende Element.

    So entschloss sie sich 1963, endgültig nach Wien zurückzukehren, wurde Kulturkorrespondentin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und schrieb nebenbei ihre Bücher. Zu ihrem vielfältigen Werk gehören neben Romanen und Erzählungen biografische Arbeiten wie über "Fanny von Arnstein", eine hoch gerühmte Studie über Emanzipation oder sie beschrieb ihre "Englischen Ansichten" sowie den "Glanz und Untergang" Wiens in den Jahren 1866 bis 1938. Ihr Talent, fasste Joachim Kaiser einmal zusammen, bestand in der Fähigkeit, in großen Kulturen und Gedankenwelten wirklich zu Hause zu sein. Es war vor allem das alte Wien, das sie in vielen Arbeiten immer wieder beschwor. Mit diesen Erinnerungen nahm sie auch sehr kritisch das Wien der Nachkriegszeit wahr und warb für einen liberalen Humanismus.

    Es war nach den Worten ihrer Freunde eine Lauterkeit, die ihr Schreiben und ihre Erinnerungen und Wahrnehmungen als Zeitgenossin bestimmte, und der letzte Blick - Hilde Spiel starb am 30. November 1990 in Wien - signalisierte Einverständnis:

    Das war eine sehr interessante Zeit, und da ich das Glück hatte, in ihr nicht unterzugehen, kann ich nur froh sein, an ihr teilgenommen zu haben.