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Das Familiengeheimnis der Kommunen-Kinder

Marie Kreutzer hat in ihrem Debüt-Film die Gespenster der 68er Revolte beschworen: Vier junge Leute treffen sich am Sterbebett ihres Vaters. Doch die Geschwister wissen nicht recht, wie genau sie miteinander verwandt sind. Denn ihr Vater war das Oberhaupt einer Kommune.

Von Josef Schnelle | 04.08.2011
    "Wenn es eine Art Führerschein für Eltern geben würde, dann hätte der Hans doch nie Kinder haben dürfen. Wir waren doch nur die bunte Tapete für seine Selbstverwirklichung. Für uns hat sich keiner interessiert." – Wir haben doch immer machen dürfen was wir wollten." – " So lang es antikapitalistisch, umweltfreundlich und mindestens zehn Meter von ihm entfernt war."

    Was ist eine glückliche Kindheit? Eine Ereignislose die keinerlei Verletzungen hinterlässt? Oder eine mit Höhen und Tiefen aber mit einem klaren Profil? Filme, die sich mit der Klärung dieser Fragen beschäftigen, gibt es wie Sand am Meer. Die Kinder, verstreut in alle Welt, finden noch einmal zusammen. Am Totenbett des Vaters werden dann Familiengeheimnisse aller Art enthüllt. Das sind beliebte Ensemblefilme, die viele Lebensgeschichten miteinander verschränken und ein besonders verbreitetes Sujet bei Jungfilmern sind, die gerade ihren ersten Film drehen.

    Der Blick zurück in die Kindheit hat dann etwas von einem Kriminalfall, dessen Lösung Spannung und Erkenntnisgewinn garantiert. Der Vater steht meist im Zentrum solcher Geschichten als Urgrund aller Defizite. In "Die Vaterlosen" geht es auch um solch einen Partriarchenvater. Eben jenen Hans.

    Doch Hans gehört einer besonderen Gattung von Vater an. Er ist das Oberhaupt einer Kommune gewesen. In einem nunmehr halbverfallenen Haus auf dem Land haben unter seiner Führung ein paar Hippies mit Gemüsebeeten eine neue Lebensform erprobt. Vier Kinder dieser alternativen Lebensgemeinschaft wollen bis zum Begräbnis des Alten herausfinden, was es mit alledem auf sich gehabt hat. Mit dem Dorf in der Nähe haben die Kommunarden jedenfalls nichts gemeinsam gehabt – oder etwa doch?

    "Dös ist überhaupt nicht so wie in der Stadt. Und außerdem hat hier jeder jederzeit hinkommen können und mitessen." – "Haben eure Nachbarn das wirklich gemacht? Einfach hereinspaziert und mitgegessen?" – "Na – irgendwie waren wir halt doch anders." - "Das ist jedenfalls der Mythos." – "Es hat immer Vorbehalte gegeben, kann man doch verstehen – umgekehrt genauso." – "Dabei fand der Hans die Leut aus dem Dorf total lustig mit ihre Häuserl und ihre Hunderl, ihre Trachten. Er wär gern mit deene auf e Bier gegangen und hätt übers Leben geredt." – "Aber irgendwann haben se sich eh an uns gewöhnt." – "Mama, die haben halt das Interesse verloren weil net mehr soviel rumgefickt worden ist."

    Hans ist so etwas wie ein Guru gewesen für die Kommune, hat die Maßstäbe vorgegeben und manche Grausamkeit begangen. Nun müssen die Kinder das Mosaik ihrer zersplitterten Erinnerungen neu zusammensetzen. Ein Mädchen ist aus der kollektiven Erinnerung fast vollständig getilgt worden. Nun fordert sie ihren Anteil an der Vergangenheit.

    Dunkle Geheimnisse und vergessene Erinnerungen wollen enthüllt werden. Auch die sentimental besetzten Liebesverhältnisse werden neu bewertet, nachdem irgendwann die revolutionäre Lebensgemeinschaft auseinandergebrochen ist. In Rückblicken werden manchmal die schönen Zeiten der ungewöhnlichen Großfamilie erneut heraufbeschworen und auch deren schmerzhaftes Ende. Manche möchten festhalten – sagen wir es ruhig – an der Utopie.

    Andere möchten Verletzungen und Liebesentzug, die bösen Zeiten eben, nur noch vergessen. Marie Kreutzer entfaltet das Tableau der Irrungen und Wirrungen dieser Patchwork Familie ohne Scheuklappen und versucht, allen gerecht zu werden. Den Opfern der Wucht der Umwertungen aller Lebensverhältnisse und dem verführerisch schönen Zwinkern des revolutionären Augenblicks. Alles könnte anders werden - jetzt gleich und für alle Zeit: Liebe, das Streben nach Glück und die Bewässerung der Gemüsebeete.

    Jede Figur sucht in diesem wunderbar geschriebenen und inszenierten Film nach ihren eigenen Ausweg. Doch: Die Geheimnisse der Hippiekommune unterscheiden sich kaum von denen einer ganz normalen bürgerlichen Familie und den Trost für alle Leidenden und Verzweifelten verkündet Rio Reiser im leitmotivische positionierten Lied des Films.