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Das Faustische im Menschen

Freiheit und Verantwortung, soziale Prägungen oder Erbsünde: Der englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton macht deutlich: So einfach ist das nicht mit dem Bösen – und schon gar nicht, wenn daraus eine politische "Achse des Bösen" konstruiert wird.

Von Detlef Grumbach | 18.07.2011
    Wer oder was ist "böse”, woher kommt das Böse in die Welt? Das sind theologische Fragen, philosophische, moralische und politische. Angesichts despotischer Herrscher, weltweitem Terrorismus und brutaler Kriminalität aber auch ganz praktische. Sind Menschen böse, wenn sie Gewalt gegen ein Kind ausüben, ein Selbstmordattentat verüben, in verantwortlicher Positionen die Umwelt vergiften, andere Menschen ausbeuten, Kriege führen? Wie kann man das Böse erfolgreich bekämpfen? Der bald siebzigjährige englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton beginnt seinen Essay über das Böse mit der Bemerkung eines Polizisten über zwei Zehnjährige, die ein Kleinkind zu Tode gequält hatten. Er habe auf den ersten Blick gesehen, dass die beiden böse seien, wohl weil er sich die Taten unschuldiger Kinder nicht erklären konnte, weil es keinen Grund dafür gab. Doch was hat der Polizist gesehen? Eagleton pointiert mit dem ihm eigenen Humor einige verbreitete Hinweise auf das Böse aus der Literatur, ein falsches Lächeln, schottische Vorfahren beispielsweise, und folgert:

    "Nichts davon ergibt einen Sinn, aber so ist das nun einmal mit dem Bösen. Je weniger Sinn es hat, desto böser ist es. Das Böse verweist auf nichts als sich selbst, also auch auf keinen Grund."

    Was wollte der Polizist mit seiner Dämonisierung der beiden Täter erreichen? Keine Erklärung, kein Verständnis, keine Toleranz! Dem Beispiel der Kinder stellt der Autor islamistischen Terrorismus, Verbrechen des Kapitals oder politische Säuberungen gegenüber. Die Täter haben Motive und Ziele, folgen zumindest einer eigenen Logik. Darf, wer auf vernünftige Weise böse ist, deshalb auf Verständnis hoffen?

    "Entweder sind menschliche Handlungen erklärbar, dann können sie nicht böse sein, oder sie sind böse, dann lässt sich nichts mehr über sie sagen."

    So formuliert der Autor die Pole, zwischen denen er sich bewegt.

    "Diesem Buch liegt die Auffassung zugrunde, dass keiner dieser Standpunkte richtig ist."

    Bevor er seine eigenen Auffassungen entwickelt, untersucht Eagleton die Bilder des Bösen, die über die Jahrhunderte in der Religion und der Literatur konserviert und tradiert werden. Er bezieht sich dabei auf die Bibel und auf zahlreiche Werke der Weltliteratur, auf John Miltons "Das verlorene Paradies”, die Dramen Shakespeares oder Thomas Manns "Dr. Faustus”. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen Begriffe wie Freiheit und Verantwortung, Vernunft, Autonomie und soziale Prägungen, großen Raum nimmt die Erbsünde, auch ein sozialer Determinismus, ein. Wie verhalten sich die Sphären dieser Begriffe zueinander? Ist das Böse die Option eigenverantwortlicher Freiheit, oder wird der Mensch zum Bösen gemacht?

    "Verantwortlich zu sein meint nicht Freiheit von sozialen Einflüssen",

    so positioniert sich der marxistisch orientierte Autor:

    "sondern eine bestimmte Beziehung zu solchen Einflüssen. Das ist mehr als nur ihre Marionette zu sein? 'Monstrum' hatte in der Antike unter anderem die Bedeutung, dass ein Geschöpf von allen anderen unabhängig war."

    Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er muss seine Verantwortung in sozialen Kontexten, in christlichem Verständnis innerhalb einer göttlichen Ordnung, wahrnehmen. Vom Bösen besessen ist er aus diesen Zusammenhängen herausgehoben. Wozu soll das gut sein? Ist es Bestandteil einer göttlichen Schöpfung, weil nur aus dem Bösen auch Gutes entstehen kann? Empfinden die Menschen es nur als böse, obwohl es von einer höheren Warte aus betrachtet zum Guten gehört? Ist das Böse der Schatten des Guten? Vordergründig politisch sind Eagletons Überlegungen nicht, doch anhand solcher Fragen blitzen immer wieder die politischen Dimensionen des Themas auf, auch eine tiefe Skepsis gegenüber utopischem Denken. Von einem Marxisten könnte man erwarten, dass er die Sphäre des Dämonischen grundsätzlich ablehnt und alles Böse aus gesellschaftlichen Verhältnissen erklärt, ihm deshalb auch in der Sphäre des Gesellschaftlichen entgegentritt. Bei aller scharfsinnigen und auch lustvoll vorgetragenen Ideologiekritik, die Eagleton leistet, bleibt aber auch bei ihm ein unerklärlicher, ein unbegreiflicher und furchterregender Rest. Um diesem Rest auf die Spur zu kommen, setzt er dem Begriff des Bösen zunächst den des Schlechten gegenüber.

    "Ein Großteil alles Bösen",

    so zitiert er die britische Moralphilosophin Mary Midgley,

    "wird durch friedliche, achtbare und harmlose Motive wie Faulheit, Furcht, Habsucht und Gier verursacht."

    Eagleton fügt hinzu:

    "Nach der Begrifflichkeit des vorliegenden Buchs wären diese Motive eher als schlecht oder unmoralisch denn als böse zu bezeichnen. In den meisten Fällen haben wir uns vor Eigennutz und Habgier der altmodischen Art zu fürchten, nicht vor dem Bösen. Ungeheuerliche Taten werden nicht immer von ungeheuerlichen Menschen verübt. Zweifellos gibt es viele CIA-Folterer, die liebevolle Ehemänner und Väter sind."

    Durch die Unterscheidung von böse und schlecht reduziert der Autor die Sphäre des Bösen auf einen Kern, der nicht aus der Welt zu schaffen, aber auch nicht so wirkungsmächtig ist. Diesen Kern interpretiert er als Ausdruck des Faustischen im Menschen, auf den Drang, seine Grenzen zu überschreiten, ins Unendliche zu streben, am Ende dem Nichts zu begegnen. Damit ist es, so Eagleton, Ausdruck dessen, was Freud den Todestrieb nennt. Das Schlechte ist demnach ganz von dieser Welt, es ist gebunden an Interessen und Institutionen, es lässt sich analysieren, einordnen, verhindern und bekämpfen. Aber nur dann, wenn man es nicht dämonisiert. Deshalb hat er seinen Essay wohl Henry Kissinger gewidmet, der das Böse politisch instrumentalisiert, wenn er von "Schurkenstaaten” oder der "Achse des Bösen” spricht. Und so kommt er am Schluss auf die aktuelle politische Ebene des Themas. Er endet mit dem Satz:

    "Wenn wir Terrorismus als böse definieren, verschärfen wir das Problem, und wenn wir das Problem verschärfen, spielen wir eben jener Barbarei in die Hände, die wir verurteilen."

    Dieser Schluss ist angesichts des intellektuellen Aufwands nicht gerade originell oder ergiebig. Doch wer konkrete Rezepte und politische Lösungen erwartet, ist mit diesem Buch sowieso falsch beraten. Eagleton wird vor allem jene Leser erfreuen, die in den tagespolitischen Debatten mal die Luft anhalten wollen und sich jenseits allen Eskapismus oder religiöser Denkansätze, mit beiden Beinen in der Realität des 21. Jahrhunderts, den Blick auf universelle Fragen nicht verstellen lassen wollen.

    Terry Eagleton: "Das Böse". Ullstein, 208 Seiten, 18 Euro. ISBN: 978-3-550-08830-8.