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Das Gedicht lebt, solange Honig klebt

Die in Berlin lebende Schriftstellerin Monika Rinck wurde für ihre Werke vielfach ausgezeichnet. In ihrem Gedichtband "Honigprotokolle" trägt sie Erlebtes, Erinnertes, Geträumtes, Gedachtes und Gelesenes in quadratisch kompakten Verstexten zusammen.

Von Michaela Schmitz | 07.11.2012
    Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Verrücktheiten. Im Dialog mit dem Unsinn entsteht oft erst der Sinn. Oder vielmehr das, was wir gemeinhin dafürhalten. Denn Sinn ist eben mehr als die Summe folgerichtiger Denkschritte. Diese logische Unschärfe ist die Bedingung der Möglichkeit von Poesie. Für die Dichtung gibt es weder Sinn noch Unsinn. In der Poesie sind alle Denkmöglichkeiten gleich gültig. Und sämtliche Verknüpfungen und Verkehrungen nicht nur erlaubt, sondern geboten. Darin sind Monika Rincks "Honigprotokolle" Poesie in Reinform.

    Auch für Rincks neuen Lyrikband gilt: Der Zyklus ist mehr als die Summe seiner Honigprotokolle; und die Gedichte mehr als die Summe ihrer Verdrehtheiten. Kohärenz heißt es da, sei ein Fetisch, sogar Fluch. Sechsundsechzig Texte werden im Index aufgeführt. Paarweise – oder vielmehr beinchenweise. Denn wie die Biene an ihren zwei Hinterbeinen klebrigen Pollen für Honig in den Bienenstock trägt, sammelt das fleißige Lyrikbienchen hier Honigprotokolle für seine Gedichte. An einer aufmerksamen Sammlerin bleibt eben von überallher immer ein bisschen süßer Wahrnehmungspollen hängen. Dieser klebt dann scheinbar wie von selbst zu köstlichem lyrischem Honig zusammen. Das ist der poetische Lebenssaft, aus dem Monika Rincks "Honigprotokolle" sind.

    Pollenweise trägt sie Erlebtes, Erinnertes, Geträumtes, Gedachtes und Gelesenes in quadratisch kompakten Verstexten zusammen. Gegensätzlichstes aus unterschiedlichsten Denkblüten bindet die Autorin hier durch ausgefeilte poetische Klebetechnik aneinander. Die minimale Differenz zwischen "finden" und "erfinden" scheint dabei, von Gedicht zu Gedicht stärker zu verschwimmen. Schon in diesen ersten Zeilen wird das Vorstellungsvermögen der Leser bis an die Grenze beansprucht:

    "Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, in Bernstein und Amber:
    fürstlich (oder fürchterlich?) paart sich im Dickicht das Wiesel
    mit der Zylinderkopfdichtung. Schläuche, Keilriemen, zuckige Teile.
    (...) Unio Wiesel Finito."


    Wer meint, skurille Bilder wie das Unio Wiesel seien nicht darstellbar, der wird von den begriffsgenauen Zeichnungen des Illustrators Andreas Töpfer auf dem Buchumschlag eines Besseren belehrt. Hier findet man auch zu schrägsten Wortkompositionen wie dem "Augenfühlerfisch", den "Lichtmaschinen imitierenden Birken" oder einem "Maximum Zander" philosophische Illustrationen, die jede visuelle Orientierung auf den Kopf stellen. Jenseits der Konvention, weiß das lyrische Ich, muss eben alles neu berechnet werden.

    "Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, ..." - mit dieser altertümelnden Anrufung beginnen fast alle Gedichte im Band. Doch der hohe Ton wird schon im Ansatz durch die forsche alliterierende Kombination sinnferner Begriffe ins Lächerliche gezogen. Kein Pathos ohne Ironie, weiß das traditionsbewusste lyrische Ich als spätes Kind der Romantik. Sich selbst verhöhnend, konstatiert es das Scheitern des eigenen pathetischen Rückgriffs: Denn die Intuition habe ihre Unschuld verloren für immer, das Ende der "Anmuth" sei da, der schönen Seele gehe es schlecht.

    "Anfangs irgendwas mit Wittgenstein: Sprache, Denken, Grenzen etc.
    Aufgabe beinah übermenschlich, zu beschreiben mit der Sprache,
    wenn das Denken ausfällt, ja, ihr lieben Protokolle, ihr eilt dem Hohn
    nur nach, den ich für mich längst vorgesehen, voilà. ( ... )"


    Aber die lyrische Sprecherin wäre nicht eine poetische Stimme Monika Rincks, wenn sie nicht sogar das Scheitern als neuen Antriebsimpuls zu nutzen verstünde. "Sei dein eigener Hohn", ruft sie kämpferisch und fordert dazu auf, die Ironie noch ein weiteres Mal zu ironisieren. Ein Appell, den die lyrische Sprecherin frei nach ihrem Motto "Aufbrauchen durch Duplizieren" nicht nur an sich selbst, sondern auch an all ihre Leser richtet. Denn eine Biene macht noch keinen Honig.

    "Es bleibt wie eine winzige Flagge inmitten
    tosender Pollen und Bienen die Frage, ob man nicht klug sein müsse,
    um so großer Torheiten fähig zu sein. Nicht bei vernünftigem Bewusstsein
    dichten sich diese herrlichen Lieder. Es sammeln die einen für die andern,
    und keiner tut etwas für sich ganz alleine. Der Honigmagen ist der Magen
    der Gesamtheit. ( ... ) Hört, hört."


    Das hoch reflektierte Lyrik-Bienchen weiß: Poetischer Honig lässt sich heute wie seit jeher nur im Dialog mit anderen gewinnen. Denn die Summe aller Waben macht erst den Honig. Deshalb treiben Rincks Gedichte mit unermüdlichen und affektgeladenen Anrufungen sich selbst und den Leser immer neu zum aktiven Mitsammeln an. Erst ein lebendig kommunizierender poetischer Bienenstock ist mehr als die Summe seiner Honigprotokolle.

    Monika Rincks "Honigprotokolle" sind ein amüsanter, kreativer und kluger Aufruf zum poetischen Ungehorsam. Ihre Texte machen Mut und Spaß und sind ein bezaubernder respektloser Beweis, dass das Gedicht lebt, solange Honig klebt.

    Monika Rinck: Honigprotokolle. Sieben Skizzen zu Gedichten, welche sehr gut sind.
    Gedichte.
    kookbooks Verlag 2012, 80 Seiten
    19,90 Euro