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Das Gesetz der Straße

In der Peripherie vieler britischer Großstädte hat sich eine Subkultur der Straßenbanden breit gemacht. Sie ist umso besorgniserregender, als sich Gewaltbereitschaft mit anachronistischen Autoritätsritualen paart. Ruth Rach berichtet.

20.02.2007
    Karibische Cafés, türkische Kebab-Buden, Wettbüros, Pfandhäuser, Billigläden. Eine Anwaltskanzlei für Strafverteidigung, 24 Stunden am Tag geöffnet: die Lower Clapton Road in Hackney - auch Mördermeile genannt, eine der berüchtigsten Gegenden in Ostlondon.

    "Das ist mein Revier", sagt OG. Hier ist er aufgewachsen. Hier kam er auf den falschen Weg. Schulschwänzen, Drogen, Dealen. Hier wurde sein Bruder erschossen. Für ihn hat er den Song "Murdermile" geschrieben.

    OG, das steht für Original Gangster. OG ist noch nicht 30, aber er hat müde, alte Augen. Vielleicht liegt es daran, dass er ein Drittel seines Lebens hinter Gittern verbrachte, oder daran, dass in seinem Viertel schon wieder zwei Leute ermordet wurden. Zumeist handle es sich um Bandenkämpfe. OG kennt sich aus. Bevor er in den Knast kam, kontrollierte er die Gegend um Kings Cross:

    "Jede Bande hat ihr Revier, E5, E9, E8 und so weiter. Wer die Grenzen missachtet, wird gnadenlos bestraft."

    OGs Vater ist auf den Bahamas. Seine Mutter stammt aus Jamaika, sie ist Krankenschwester und gläubige Christin. Als OG anfing, die Schule zu schwänzen, hat sie ihn fest vermöbelt. Aber das habe ihn noch mehr abgehärtet. OG hörte Gangsta Rap, träumte davon, wie Al Capone zu leben. Es sei viel leichter und lukrativer, für einen Drogendealer zu jobben als für eine Bank.

    OG wohnt in einem Backsteinlabyrinth: Hunderte von Sozialwohnungen, fünf Minuten von der Murdermile entfernt. Vor der Wohnungstür ein massives Eisengitter. In der Küche ein Zwinger. Dort wohnt Blood, sein Pitbull.

    "Ich habe drei Verteidigungslinien: mein Gitter, mich selbst und meinen Hund. Jeder hier im Block hat seinen Pitbull. Die Tiere sind treu und bewachen Dich."

    Erst im Gefängnis lernte OG lesen, und schreiben. Inspiriert von dem amerikanischen Autoren Donald Coins, begann er, seine Story aufzuschreiben, komponierte Songs. Keinen Gangsta Rap, sondern Hip Hop mit positiven Botschaften. "Wer meine Geschichte hört, will kein Gangsta werden." Die Jungs haben keine positiven Vorbilder, keine Treffpunkte, keine Sportklubs, und viel zu wenig zu tun, meint OG. Er sagt, sie sollen etwas lernen: Billard, Boxen, Musik. Theater. OG glaubt, wenn die Jungs in seinem Block überhaupt auf jemand hören, dann .am ehesten auf ihn.

    "Mein Name allein gilt etwas auf der Straße. Ich kontrolliere die Wohnungen hier. Nichts passiert, ohne dass ich davon Wind bekomme. Alte Leute, junge Leute, wenn sie Hilfe brauchen, kommen sie zu mir. Ich finde den Schuldigen, ich vermittle. Jeder braucht einen Führer."

    OG trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "no snitching". Hier wird niemand verpfiffen. Auch wenn sich OG auf dem Pfad der Tugend wähnt: Polizei und Sozialarbeiter seien weiterhin unerwünscht.

    "Ich bin der Sozialarbeiter. Bei mir laufen die Fäden zusammen."

    OGs Lieblingslied. Seiner Mutter gewidmet. Ohne sie hätte er den Absprung nicht geschafft. Sie habe immer an ihn geglaubt. Die Mama sitzt im Wohnzimmer und trinkt eine Tasse Tee. Gütig, warmherzig, unendlich gelassen.

    "Du liebst sie heiß und innig, Deine Kinder, auch wenn sie manchmal ein Alptraum sind. Aber du darfst nie die Hoffnung verlieren. Du musst beten und auf Gott vertrauen."

    Für den Rückweg bestellt OG seinen Freund Dynamo - als Leibwächter. Dynamo ist ein weißer Rapper, 21, ebenfalls vom

    "Das geht oft wahnsinnig schnell - ein falscher Blick, schon sind die Typen gekränkt. Wollen einen Fight. Und wenn dann noch Waffen mit im Spiel sind, wird das sehr hässlich. Du darfst keine Schwächen zeigen, sonst hast Du sofort verloren. Viele meinen sie brauchen eine Gang, die sie beschützt, praktisch wie eine Familie. Aber die gefährlichste Gang ist die Polizei, die ist korrupt und gewalttätig. Jeder hasst sie. Hier in der Siedlung werden nur die Feuerwehr und die Ambulanz respektiert, weil sie versuchen Leben zu retten."