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Das global vernetzte Gerücht

So wie Gene kennen Gerüchte eigentlich nur ein Interesse: weitergegeben zu werden. Was sich früher von Mund zu Mund und bestenfalls im Tagestakt der gedruckten Zeitung verbreitete, kann sich heute nahezu lichtschnell im Internet fortpflanzen. Clevere PR-Berater und Geldmarktkriminelle nutzen das längst.

Von Bernd Schuh | 01.08.2010
    "It's a rumor"
    "Ist nur ein Gerücht"
    "...der pure Klatsch"
    "Hab ich vom Hörensagen"
    "Juicy gossip"
    "...reines Gemunkel"
    "Schon gehört? Der Müller von Müller-Milch unterstützt die Nazis…"
    "Wie aus gewöhnlich gut informierten Kreisen zu hören war, hat Westerwelle bevorzugt FDP-Spender auf Reisen mitgenommen…"
    "Es wird gemunkelt, dass auch der Kölner Kardinal was mit kleinen Jungs…"
    "Angeblich hat die Pooth ja jetzt angefangen, Deutsch zu studieren, in…"
    "Man sagt, der Papst wisse mehr in der Missbrauchsaffäre…"
    "Es ist ja allgemein bekannt, dass Cholesterin das Schlaganfallrisiko erhöht…"
    "Aus gut unterrichteter Quelle verlautet, dass Kempter nicht der einzige Schiri ist, der.."

    "Ein Gerücht ist eine ungesicherte Botschaft aus ungesicherter Quelle."

    Am 26. Februar 2008 betritt der PR-Berater Norbert Essing um 12:13 Uhr die Autobahnraststätte Nievenheim West. Er erkundigt sich an der Kasse nach einem Fax-Gerät. Gegen 12:15 Uhr sendet er ein Fax, kann sich aber heute nicht mehr erinnern, an wen. Zur gleichen Zeit geht bei der Weberbank ein Fax mit obskuren Vorwürfen ein. Essings Aktion wird von zwei Überwachungskameras aufgezeichnet.

    Ein Zitat aus dem "Spiegel", Heft 5/2010. Der PR-Berater Essing hat, nach seinem Verständnis - seinen Job gemacht. Ein PR-Berater ist ein Mensch, der anderen Menschen, die wichtig sind und bestens verdienen, dabei hilft, weiterhin wichtig und teuer zu sein. Das macht er oder sie mit Hilfe guter Kontakte, geschuldeter Gefallen, überzeugender Argumente und viel Öffentlichkeit. Die stellt er gelegentlich auch mit Hilfe von gezielt gestreuten Gerüchten her. Wie dem, das in dem Fax steht.

    Das ist doch sicher Herr Christ?

    Steht handschriftlich auf dem Fax, unter dem Abdruck einer kurzen dpa-Meldung. Die berichtet, dass ein pädophiler Banker vom BND erpresst worden sei. Das Fax ist an den damaligen Chef der Weberbank gerichtet, geht aber an eine Zentralnummer des Geldhauses. Möglichst viele Menschen in der Bank sollen es sehen.

    "Das geht in die Richtung, dass es Leute gibt, die ein Gerücht erfinden, um anderen zu schaden."

    Klaus Merten, emeritierter Professor der Kommunikationswissenschaften, betreibt selbst eine PR-Agentur.

    "Ich kenne einen hochrangigen Politiker, der mir wörtlich erzählt hat: 'Es gehört zu meinen Aufgaben, Gerüchte zu verbreiten, weil die anderen es auch so machen.'"

    Andere anschwärzen oder Jubelnachrichten im Interesse der eigenen Partei, Person oder Firma zu verbreiten, gehört zu einem Typ von Gerüchten, die Merten "Artefakte" nennt. Sie sind künstlich erzeugt, meist in böser Absicht und müssen nur den Anschein von Plausibilität besitzen, um sich in dem anvisierten Kreis zu verbreiten.

    "Es ist sehr viel leichter geworden, Gerüchte zu verbreiten. Und der Zwang das zu tun, kommt daher, dass alle viel leichter Gerüchte verbreiten können, so dass man selber von den Dingern getroffen werden kann."

    Das Internet hilft dabei ungemein. Per E-Mail lassen sich Kettenbriefe verschicken, in sozialen Netzwerken Freundeskreise unterrichten, in Foren und Blogs gezielt Geschichten platzieren. Ein sehr beliebtes Mittel sind auch Videoportale wie Youtube. Solche Kanäle werden von den Werbestrategen schon seit einigen Jahren bewusst genutzt. Zum Beispiel, um eine neues Auto einzuführen. Zitat aus einem Lehrbuch über Markeninszenierung:

    Die Vorfreude der Mini-Fans auf Mini United 2007 wurde bereits im Vorfeld des Events durch breit eingesetzte Kommunikationsmaßnahmen entfacht. In ausgewählten Internetforen wurden vorab Gerüchte über Event und Veranstaltungsort gestreut. Auf diese Weise wurden bestehende Fan-Communities genutzt und ein Spannungsbogen aufgebaut.

    Als besonders gelungen darf derlei Marketing dann gelten, wenn es Wirkung zeitigt, aber nicht als lanciert erkannt wird.

    "Hände mal ans Lenkrad."
    "Weniger Gas, oder mehr?"
    "Nicht so dicht auffahren."
    "Ach Hände dran lassen?"
    "Die hält man auch die ganze Zeit dran."
    "Die nimmt man nicht weg?"

    So ist seit einigen Jahren der Kabarettist Hape Kerkeling in seiner Rolle als Horst Schlämmer im Internet als Fahrschüler zu sehen. Er lernt auf einem VW Golf, was auch des öfteren zur Sprache kommt. Volkswagen leugnet, die Schlämmervideos als Werbekampagne initiiert zu haben. Branchenkenner schätzen, dass die Clips dem Konzern 90.000 zusätzliche Probefahrten beschert haben. Ein Werbeäquivalent von über 6 Millionen Euro.

    Weil sich diese Art bewusst platzierten Hörensagens in den neuen Medien wie ein Erreger epidemisch verbreitet, spricht die Fachbranche auch von "viralem Marketing". Merten:

    "Es ist geradezu ein gemeiner Nährboden. Man kann auch da nicht nachweisen, wer es ist, auch das dauert, zweitens die Verbreitung geschieht sehr viel schneller als früher, und sie geht über große Strecken, das heißt wenn Sie das aufklären wollen, müssen sie quasi ganze Kontinente durchforsten, um zu klären, wo das Gerücht langmarschiert ist."

    Die Anonymität seiner Herkunft macht das Gerücht nicht nur zum idealen Instrument für Positivwerbung; auch wer anderen schaden will, aus was für einem Grund auch immer, muss nur in bereits kursierende üble Gerüchte einstimmen, sie weiter verbreiten, oder eben neue erfinden. Wie die im Netz kursierenden Fake-spots über den Internetkonzern 1&1. Da wird ein echtes Werbevideo des Unternehmens übertextet, um seine Botschaft ins Lächerliche zu ziehen. Oder ein komplett neuer Spot verspottet eine Marke. Wie bei einem angeblichen Audi-Werbefilm, den Fokus-Online beschreibt:

    Ein Geschäftsmann will sich in einem gefälschten Spot das Leben nehmen, indem er die Abgase des Auspuffs in den Innenraum leitete. Allerdings misslingt der Suizidversuch, weil der saubere Diesel kaum Abgase produziert, so die Message des Films.

    Audi distanzierte sich von dem geschmacklosen Video und unternahm alles, den Film aus dem Internet verschwinden zu lassen. Natürlich nur mit begrenztem Erfolg.

    Wie ein Pilzgeflecht breiten sich Gerüchte im Netz blitzschnell aus, tauchen auf, zuweilen in den Massenmedien, verschwinden dann wieder, um bei der nächsten passenden Gelegenheit wieder da zu sein. Klaus Merten:

    "Das Wichtigste, was ein Kommunikationsprozess macht, er versucht sich am Leben zu erhalten. Das ist analog zu biologischen Wesen, wir nennen das dann Erhaltung der Art, genau das machen auch Gerüchte."

    Zur giftigen Gerüchtesorte gehören die Mutmaßungen über den Hersteller der Müllermilch-Produkte.

    Das mit dem Herrn Müller der die Nazis also die NPD unterstützt, hab’ ich schon vor ein paar Jahren gewusst. Aber was ich neulich erfahren hab’ war echt der Hammer! Und zwar: Weihenstephan gehört auch dem Herrn Müller! Also alle dran denken: Kein Müller und auch kein Weihenstephan mehr kaufen!

    Meldungen über angebliche Spenden des Firmenchefs Müller an die rechtsextreme NPD kursieren seit Jahren, obwohl mehrfach von der Pressestelle von Müllermilch dementiert, unter anderem mit Verweis auf Theo Müllers Mitgliedschaft in der CSU. Die Blogosphäre kratzt das nicht:

    Gut, dass hier über diesen ekelhaften Zusammenhang berichtet wird. Mein großer Freundeskreis wird unterrichtet. Ist dieser Fall nicht etwas für den Staatsanwalt?

    Er soll einfach an seinen Produkten verrecken. Mit viel Glück frisst ihn vielleicht auch das Kind aus der Werbung auf…


    Klaus Merten:

    "Wenn Sie einen plausiblen Aufhänger finden, könnten Sie mir richtig schaden. Und dieser Effekt nimmt zu. Mit Gerüchten, die früher ihre Zeit brauchten. Heute schicken Sie das Ihren Freunden, die Netze sind ja alle miteinander vernetzt, das geht drei Netze weiter, dann ist das Gerücht schon anonymisiert, keiner weiß mehr wo es herkommt, aber jeder verbreitet es, weil es aus Freundeskreisen herkommt, und Sie können es nicht mehr stoppen, und Sie können es nicht mehr rückwärts verfolgen."

    "Psssst, schon gehört? Die Fischers schlagen ihre Kinder."
    "Der neue Mieter lässt seinen Hund ins Treppenhaus scheißen."
    "Auch schon über den Krach geärgert? Der kommt von diesem Hippiepaar im dritten Stock!"

    Zum Herziehen über die Nachbarschaft bewegte man sich in den USA vor kurzem noch auf den Seiten von "rottenneighbor.com". Dort konnte man Schmähgerüchte über unliebsame Nachbarn verbreiten. Da wird zum Beispiel ein Streit bei Nachbarn belauscht und als Video ins Netz gestellt. Oder der Kleinkrieg um die richtige Gartenrandbepflanzung mit versteckter Kamera dokumentiert. Als auch deutsche anonyme Verleumder ihre Nachbarn an den Pranger stellten, schaffte die Seite den Sprung in deutsche Massenmedien.

    Dank des Medienechos kam die Skandalwebsite zwischenzeitlich auf Hunderttausende Aufrufe täglich. Was für die obskure Nachbarschaftsplattform zutraf, gilt für Gerüchte schlechthin: Um Durchschlagskraft zu bekommen, müssen sie das Internet verlassen und den Sprung in die Massenmedien schaffen.

    "In den USA gab es größere Fälle, wo Informationen über Blogs weitergegeben wurden, die dann zum Rücktritt von Politikern geführt haben, oder zu Imageschäden von Unternehmen."

    Für Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger, der mit seiner Arbeitsgruppe die wechselseitige Beeinflussung von Journalismus und Internet untersucht, ist es wichtig, die Unterschiede zwischen Netz und hergebrachten Medien herauszuarbeiten.

    "Das Internet funktioniert ja grundsätzlich anders als die klassischen Massenmedien. Wir haben in Presse und Rundfunk ja diese zentralen Gatekeeper, also die Redaktionen, die entscheiden, was publiziert ,was nicht publiziert wird, und damit soll, zumindest dem Anspruch nach, eine Qualitätssicherung verbunden sein. Was also im Falle eben von Gerüchten, wenn sie in die Redaktion vordringen, dazu führen sollte, dass das dann eben gründlich geprüft wird, und im Zweifel auch darüber berichtet werden sollte, dass das als Gerücht kursiert, und dass versucht wird, das richtig zu stellen, oder dass man überhaupt nicht darüber redet und damit auch nicht die Verbreitung befördert. Das Internet funktioniert anders, dort hat jeder, jede Organisation die Möglichkeit, etwas zu publizieren, und es gibt dann nicht mehr diese flächendeckende Qualitätssicherung."

    Ich bin optimistisch, dass dank des Internets jetzt viel mehr Menschen leben, die sich von der konservativen Mediendiktatur der USA nicht mehr blenden lassen.

    Es ist gelungen, mit den Klimadiskussionen Politiker, Wirtschaft und Bevölkerung von den eigentlichen Problemen - der steigenden Bevölkerungszahl und damit der Verteilungsgerechtigkeit - abzulenken.

    Das ist der totale Machtverlust für bestimmte Gruppen. Und er wird kommen. Auch hier.


    Stimmen aus dem Internetblog der Tagesschau, pünktlich zu Beginn des Kopenhagener Klimagipfels, Anfang Dezember vorigen Jahres. Kurz zuvor hatte eine Netznachricht den rasanten Sprung in die Massenmedien geschafft: "Klimaforscher fälschen Daten!" Die Affäre begann mit dem Auftauchen eines 61 Megabyte großen files auf einem russischen FTP-Server Mitte November 2009. Ein Hacker hatte sich Zutritt zu den Computern eines englischen Klimainstituts verschafft, Hunderte Emails kopiert und ins Netz gestellt. Einige wenige Mails wurden herausgepickt und öffentlich gemacht, um Zweifel an den lauteren Absichten der Klimaforscher und einigen ihrer Resultate zu wecken.

    Wieso berichten Sie nicht über den jüngst aufgedeckten Skandal, der die Fälschung von Klimadaten durch renommierte Wissenschaftler (beweist), von denen diese Lüge erdacht wurde und aufrechterhalten wird?

    Empörte sich ein Deutschlandfunk-Hörer als Reaktion auf die umlaufenden Gerüchte. Seine Reaktion ist typisch. Aus einer Unstimmigkeit in den Klimaberechnungen wird gleich eine Fälschung in großem Stil, aus der möglichen Verfehlung einer Person gleich eine Generallüge der gesamten Forschergemeinde. So brachten die gehackten Emails kurzzeitig den weltweiten Kampf gegen die Erderwärmung in Misskredit. Ein altes Gerücht erhielt neue Nahrung: Der Klimawandel ist eine Erfindung ehrgeiziger und arroganter Klimaforscher. Die Medien hatten ihr "'climategate". Und so sprach der Blog:

    Der durch Menschen gemachte Klimawandel ist getürkt. Seit zehn Jahren sinkt die Durchschnittstemperatur wieder, und der Klimarat wusste das. Der Hockeyschläger-Trick ist aufgeflogen, alles manipuliert und das wissentlich.

    Diese Hacker müssten noch einen Orden bekommen, weil sie der Öffentlichkeit gezeigt haben, wie solche Erkenntnisse erstellt und getürkt werden.

    Wir können den Leuten, die die Emails gehackt haben dankbar sein, dass es noch Personen mit Courage gibt. Wo bleibt unser Verfassungsschutz, die Staatsanwaltschaft?


    Zwei Faktoren kamen zusammen. Das Gerücht konnte auf starke Unterstützung durch die ohnehin vorhandene Community der Zweifler hoffen, und damit auf dem Nährboden des "Seht Ihr, wir haben es ja schon immer gesagt" wachsen. Zum Zweiten hatte die Nachricht kurz vor dem Klimagipfel in Kopenhagen hohen Skandalwert und wurde damit für die Verbreitung in den herkömmlichen Massenmedien attraktiv. Neuberger:

    "Es ist entscheidend für die Wirkung, dass die klassischen Medien darauf anspringen. "

    Schon die Namensgebung "climategate" ist Teil dieser Skandalisierung. Auf diese Weise kann auch eine unter Umständen wenig substanzielle Nachricht den Sprung in die Medien schaffen und deren Torwächter umgehen oder austricksen. Ein Mechanismus, den man eher von der Klatschpresse kennt. Die Glaubwürdigkeit einer Nachricht hängt - so zeigen alle bisherigen Untersuchungen - entscheidend von deren Herkunft ab. Christoph Neuberger:

    "Die Studien, die es dazu gibt, sind nicht sehr tief gehend, die besagen aber doch, dass es im Internet tief greifende Unterschiede gibt in der Glaubwürdigkeitseinschätzung. Wenn man den Anbieter einer Website kennt, dass man dann in der Lage ist, dem eine höhere Glaubwürdigkeit beizumessen, was ja auch ganz sinnvoll ist."

    Wenn die Bild-Zeitung eine ungeprüfte Klatschmeldung ins Netz stellt, wird das eher geglaubt als die Verbreitung einer Neuigkeit in einem x-beliebigen Forum. Im Internet spielt vor allem die Aufmachung einer website für die Vertrauenswürdigkeit eine wichtige Rolle. Neuberger:

    "Laien orientieren sich sehr viel stärker an Gestaltungsmerkmalen, also dass irgendetwas den Eindruck hinterlässt, dass es Journalismus ist, das heißt dass so ein Vorgehen auch leicht durch die Imitation von Journalismus unterlaufen werden kann. Und man kann durchaus beobachten, dass auch Organisationen, die bestimmte Interessen verfolgen, versuchen sich daran anzulehnen. Die versuchen Glaubwürdigkeit dadurch zu steigern, dass sie Journalismus imitieren. Das führt dazu, das konnte man zeitweise auf der CDU-website sehen, dass da noch ein DPA-Ticker zu finden war. Dass da eine Vermischung stattgefunden hat von seriösen journalistischen Informationen und der Öffentlichkeitsarbeit einer Partei. Solche Vermischungstendenzen kann man im Internet sehr häufig finden."

    Auch den Journalismus selbst hat das Internet verändert. Es liefert Raum für Nachrichten und Meinungen abseits des Establishments, erschwert jegliche Zensur und verhilft der Informationsfreiheit zu ihrem Recht. Aber die Fülle dieser neuen Quelle ist so überwältigend, dass kaum Zeit bleibt, die einzelnen Informationen zu bewerten und zu filtern. Das beklagten zahlreiche Redaktionsleiter schon vor drei Jahren in einer von Christoph Neuberger und seinen Mitarbeitern durchgeführten Studie.

    "Unsere Studie bezog sich auf die Frage, wie Journalisten mit dem Internet als Recherchemedium umgehen. Eine These ist die der Googelisierung des Journalismus, also die Sorge, dass Journalisten sich auf die einfachste und billigste Form der Recherche konzentrieren, nämlich einfach in Google ein paar Stichworte einzugeben und sich dann mit den ersten Treffern zu begnügen."

    Eine These, die sich in der Untersuchung leider bestätigte. Ebenso ein weiterer Effekt: die "Wikipedisierung": Wenn es um die Absicherung von Informationen geht, greifen alle Befragten gern auf das Internet-Lexikon Wikipedia zu. Neuberger:

    "Das hat uns sehr erstaunt bei der Wikipedia. Was man mit Sorge sehen muss, ist die Verdrängung anderer Recherchewege, im Zusammenhang mit der Ökonomisierung von Redaktionen, also dass Redaktionen kleiner werden, dass man weniger Zeit hat, deswegen muss man das auch mit Sorge betrachten."

    "Pssst, schon gehört?"
    "Der Climategate-Hacker könnte aus dem Institut selbst sein."
    "Ein Maulwurf hat Climategate ans Licht gebracht."
    "Nein, es war der russische Geheimdienst."
    "Ist doch kein Zufall, dass Präsident Medwedew in Kopenhagen weit gehende Zugeständnisse gemacht hat."
    "Bestimmt steckt der Chaos- Computer-Club dahinter."

    Wahrscheinlicher ist, dass die gehackten Emails auf das Konto der gut gesponserten Gemeinde der Zweifler am Klimawandel geht - eine Art viraler Marketing-Coup der amerikanischen Öl- und Energieindustrie. Aber das ist auch nicht mehr als ein Gerücht. Aus der Fundamentalsicht des Gerüchtetheoretikers haben es politische, gesellschaftliche Gerüchte mit abweichender Meinung immer dann leicht, wenn ein Informationsdefizit besteht oder ein Mangel an Werten zu verzeichnen ist. Klaus Merten.

    "Wenn es gesellschaftliche Risiken gibt, dann gibt es immer Leute, zwei Parteien. Die eine Partei sagt: Wir haben das im Griff. Siehe Atomenergie, und dann gibt es die Warner, die sagen: Nein, es ist ja ganz grässlich, Ihr habt es nicht im Griff. Und die Medien bevorzugen das Negative, die würden im Zweifelsfalle immer die Warner mehr herausheben, das ist typisch für die Risikokommunikation, so dass sie manchmal mit dem gesunden Menschenverstand nicht weiter kommen, gegen Leute die ganz grauenhafte Sachen erzählen."

    Hallo Leute, habe hier ein paar spannende Fakten zum Thema Schweinegrippe bekommen. Ich leite die Mail praktisch unbearbeitet an euch weiter.

    Ähnlich wie bei climategate gab es auch im Fall der Impfkampagne gegen die Schweinegrippe berechtigte Kritik. Am selbstherrlichen Gehabe der Verantwortlichen, an ihrem laxen Umgang mit Fakten, an der schlechten Organisation. Aber es kamen auch abstruse Behauptungen auf, die unter normalen Umständen wenig Chancen gehabt hätten sich durchzusetzen. Im Internet aber konnten sie sich schnell und massenhaft verbreiten. Aus einer Email mit der Aufforderung, sie weiter zu schicken:

    Hi, ich finde einige der unten aufgeführten Fragen interessant und auf jeden Fall lesenswert.
    - Warum wurden in den letzten Jahren mehr als 800 Konzentrationslager in den Vereinigten Staaten errichtet (im Augenblick stehen sie noch leer)?
    - Warum sind diese durch die Fema (Federal Emergency Management Agency) verwaltet, die sonst nur bei großen Katastrophen zum Einsatz kommen wie beispielsweise dem Hurrikan Katrina?
    - Wieso wurde angeordnet, Hunderttausende von Särgen in allen amerikanischen Staaten zu lagern und warum wurden vorsorglich Gemeinschafts-Gruben (Massengräber) in jedem einzelnen Distrikt ausgegraben.


    Es geht um Schweinegrippe wohlgemerkt. Hier wird unausgesprochen ein millionenfaches Massensterben prognostiziert. Aber nicht aufgrund des Virus, sondern aufgrund der Impfung. Denn, so geht es in dem Kettenbrief weiter:

    Wenn die Impfstoffe angeblich so wenig Nebenwirkungen haben, wie die Gesundheitsbehörden dies ununterbrochen versichern, wie erklären Sie sich dann, dass die Anzahl der an Multipler Sklerose Erkrankten nach einer Hepatitis B Impfkampagne in Frankreich von 25.000 auf 85.000 hochgeschossen ist?
    Weswegen wird verheimlicht, daß ohne Ausnahme alle Epidemien des 20. Jahrhunderts durch vorherige Impfkampagnen ausgelöst wurden?
    Wieso wird im künftigen Impfstoff gegen die Grippe A/H1N1 ein Zusatz wie Squalen bewilligt, das 180.000 GIs krank gemacht hat, also 25 Prozent der Soldaten im 1. Golfkrieg als Folge einer Injektion des Impfstoffes gegen Anthrax?


    Die unterschwelligen Beschuldigungen stammen angeblich von einer Allgemeinmedizinerin aus Frankfurt.

    Leider war meine Homepage aufgrund massiv gestiegener Zugriffszahlen einige Tage nicht erreichbar, aber ab dem 24.11.2009 sind wir wieder im Netz.

    Auf Nachfrage erklärt diese, zwar eine impfkritische Mail an einige Bekannte geschrieben zu haben, aber nicht diese Kettenmail in dieser Fassung. Aber das Gerücht lebt weiter. Mit oder ohne Verknüpfung zu ihrem Namen. In Foren und Blogs werden sich die unterschwelligen Warnungen zweifellos noch lange halten. Der Impfverstärkerzusatz Squalen wird weiterhin als Verursacher des Golfkriegssyndroms verteufelt werden. Wer liest schon noch, was die Ärztin auf ihrer Homepage nun schreibt:

    Ich habe mich in meiner Ursprungsmail auf Arbeiten bezogen, die einen Zusammenhang zwischen Squalen und Golfkriegssyndrom gesehen haben. Ich gebe zu, dass das nicht so geschickt war, weil einige Autoren später darlegten, dass das Golfkrieg-Syndrom nichts mit Squalen zu tun gehabt haben kann, weil in dem Impfstoff kein Squalen vorhanden gewesen sein soll.

    Jeder kann praktisch alles behaupten und dies auch noch schnell und effektiv via Blog, Twitter und Co. verbreiten. Führt das nicht letztlich zur Orientierungslosigkeit? Und damit schließlich zu einer Erosion der Glaubwürdigkeit vertrauter Wissensquellen?

    "Vor dem Internet, grob gesagt, gab es dieses Problem nicht. Entweder ich hatte Spezialwissen, dann kam es aber auch einher mit Leuten, mit Experten, die Geltungsbehauptungen hatten, oder aber es war klar, es war Schulwissen oder Volkshochschulwissen, dann war es klar, das kann man verstehen, wenn man sich nur hart genug dahinter klemmt."

    Der Psychologe Rainer Bromme hat untersucht, wie Internetnutzer an die Suche und Beurteilung von Information herangehen. Er bescheinigt ihnen ein durchweg gesundes Urteilsvermögen.

    "Wir haben zum Beispiel eine Studie gemacht, die Leute mussten ankreuzen, wen sie fragen würden. Und was wir haben zeigen können, dass die Versuchspersonen, auch wenn sie von der Sache selbst wenig verstehen, doch eine realistische Einschätzung haben, wen sie fragen können. Das sehen wir als erste Indizien dafür, dass es offenbar eine gute Einschätzung darüber gibt, wer was wissen könnte."

    Angeregt zu eigenen Forschungen auf diesem Gebiet wurde der Professor für pädagogische Psychologie in Münster durch Vorarbeiten eines amerikanischen Kollegen mit Kindern.

    "Der amerikanische Kollege hat folgendes gemacht: der hat Kindern, Sechsjährigen, gesagt: Stelle Dir vor, Du kennst jemanden, der Dir sagen kann, warum Fische unter Wasser atmen können. Und stelle Dir vor Du kennst jemanden, der weiß, warum Glühbirnen leuchten. Und jetzt willst Du wissen, warum ein Auto funktioniert, der Motor läuft. Wen würdest Du denn jetzt fragen zu dem Autothema? Den Menschen mit der Glühbirne, oder denjenigen, der weiß, warum Fische atmen können? Und die Kinder wissen überproportional, dass man hier den mit der Glühbirne fragen würde. Wem kann man vertrauen und wer ist zuständig. Das sind die beiden Fragen die gelöst werden müssen."

    Die grundsätzliche Kompetenz zur Beantwortung dieser Fragen sei vorhanden, so die Psychologen. Allerdings kann Rainer Bromme den Einfluss des Internet auf veränderte Formen der Meinungsbildung nicht leugnen.

    "Das Internet verstärkt und erhöht Geschwindigkeiten von Effekten, von Prozessen, die es aber auch ohne das Internet gibt. Und das gilt sicher auch für Gerüchte. Was sicher neu ist durch das Internet, nämlich dass die Grenze zwischen dem, was man als Laie verstehen kann, und dem Wissen, das man als Laie nicht verstehen kann, wo man notwendigerweise auf den Rat und letztlich auf die Bewertung von Experten angewiesen ist, diese Grenze ist fließend geworden. Ich illustriere das immer gern mit einer Bibliothekstür. Die physische Tür der Universitätsbibliothek. Sie war die Markierung für Laien früher, das Wissen, das da drin ist, ist Wissen, das nicht zum Laienwissen gehört. Wo ich Experten brauche, die mir das Wissen interpretieren. Und das Internet hat keine Bibliothekstür mehr, ich kann jederzeit alle Arten von Informationen haben, denen nicht mehr äußerlich anzusehen ist, ob sie so sind, dass ich überhaupt eine Chance habe, sie als Laie zu verstehen, oder ob ich keine Chance habe, sie als Laie zu verstehen."

    Die Bibliothekstür ist verschwunden. Mehr noch, die Bibliothek ist ein Kiosk. Heute müssen Menschen selbst entscheiden, welches Wissen sie beurteilen können, welches nicht. Ob und wie sie das tun, testen Rainer Bromme und seine Gruppe anhand von alltagsnahen medizinischen Fragen. Etwa der, ob hohe Cholesterinwerte Herzerkrankungen befördern oder nicht. Die dazu im Internet verbreiteten Behauptungen sind uneinheitlich bis geradezu konträr.

    "Wir konfrontieren die Leute mit Internetseiten, die sich widersprechen. Und dann müssen die sich die Frage stellen, ist das ein Widerspruch, den ich hier sehe, kann ich den überhaupt auflösen, also hat das mehr damit zu tun, was ich denken und schaffen kann, oder muss ich es ohnehin aufgeben und mich nur noch mit dem Problem beschäftigen, wer ist hier eigentlich glaubwürdiger? Und das ist eine neue Herausforderung, dass die Leute diese Unterscheidung treffen müssen. Vor dem Internet, grob gesagt, gab es dieses Problem nicht."

    Die Vermutung liegt nahe, dass am Ende die Wissenschaft selbst an Glaubwürdigkeit verlieren könnte. Zumal es Hinweise gibt, dass Laien ohnehin ein eher zwiespältiges Verhältnis zur Wissenschaft haben. Als eine stetig und systematisch wachsende Sammlung von gesichertem Wissen, einen quasi auf wohlgegründetem Fundament allmählich wachsenden Backsteinbau sehen Menschen die Wissenschaft keineswegs durchgängig; sie tun es vor allem dann, wenn sie Erwartungen an sie haben. Rainer Bromme:

    "Menschen differenzieren, das heißt, wenn man sie über Wissenschaft befragt, die sie nicht unmittelbar betrifft, dass sie dann zumindest so eine Ahnung davon haben, dass Wissenschaft nicht nach diesem einfachen Backsteinbauprinzip funktioniert. Dass aber, wenn es darum geht, dass sie für sich Ergebnisse haben wollen, dass sie dann natürlich hier mit einem gewissen Recht auch auf diesem Backsteinmodell bestehen. Weil sie letztendlich doch wissen wollen, sind nun die Handystrahlen gefährlich oder nicht?"

    Der eine warnt, der andere wiegelt ab. Der eine wirbt für die Grippeimpfung, der nächste lehnt sie ab. Der Spezialist im weißen Kittel rät zur OP, der Leidensgenosse im Gesundheitsforum zur Kräuterkur. Vermutlich ist die ausufernde widersprüchliche Information in den neuen Medien nicht unschuldig an einer wachsenden Verunsicherung bis hin zur Orientierungslosigkeit der Laienwelt. Rainer Bromme warnt aber vor einer vorschnellen Ursachenzuschreibung.

    "Der Glaube an Naturheiler oder dass die über das Internet Erfolg haben, ist kein Ergebnis des Internet, sondern die haben so viel oder so wenig Erfolg wie das Arzt-Patient-Verhältnis ein Problem ist, oder nicht ein Problem ist."

    Zugespitzt: Nicht das Internet, sondern die Experten selbst haben das Vertrauen in ihre Aussagen zerstört. Dazu passt die grundlegende Erkenntnis aus der Gerüchteforschung: Der Nährboden für Gerüchte ist das Informationsdefizit, ein Mangel an Werten oder ein moralisches Defizit. Das Gerücht will eine Lücke füllen, es sucht sich quasi eine ökologische Informationsnische. Das Internet ist die dazu passende Biosphäre. Es unterwandert die journalistische Recherche, es kopiert den journalistischen Gestus und trägt so dazu bei, dass sich die Grenze zwischen geprüfter und ungeprüfter Information in eine vernebelte Grauzone verwandelt, in der Wissen, Halbwissen und Unwissen, Wissenschaft und Pseudowissenschaft ununterscheidbar geworden sind. Das Gerücht, hier fühlt es sich wohl. Klaus Merten:

    "Kommunikationsprozesse sind soziale Systeme, die sich verselbstständigen, das Wichtigste, was ein Kommunikationsprozess macht, er versucht sich am Leben zu erhalten. Das ist analog zu biologischen Wesen, wir nennen das dann Erhaltung der Art, genau das machen auch Gerüchte."

    Das Internet hat dem "biologischen Wesen" Gerücht einen neuen Entfaltungsraum geschaffen. Viel schneller und weiter kann es sich nun ausbreiten, im Untergrund wachsen wie ein Pilzmyzel, um gelegentlich aus dem Boden zu schießen und seine Konsumenten zu nähren oder zu vergiften.