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Das große Schmelzen

Glaziologie. - Der antarktische Eispanzer ist der größte Süßwasserspeicher der Erde und das größte Risiko für den Anstieg des Meeresspiegels. Entscheidend für seine Stabilität sind die vorgelagerten Schelfeise. Ein US-amerikanisches Forscherteam hat sich diese nun genauer angeschaut und untersucht, durch welche Prozesse die antarktischen Schelfeise Masse verlieren.

Von Monika Seynsche | 14.06.2013
    Fast sechs Jahre lang hat Eric Rignot Puzzleteile zusammengesetzt: Der Professor für Erdsystemwissenschaften an der Universität von Kalifornien in Irvine und seine Kollegen haben unzählige Satellitendaten gesammelt und etliche radarbasierte Eisdickenmessungen von Flugzeugen ausgewertet. Herausgekommen ist eine Bestandsaufnahme sämtlicher Schelfeisplatten vor den Küsten der Antarktis.

    "Wir haben beobachtet, wie schnell die Schelfeise sich aufs Meer hinaus schieben, wieviel Masse sie durch Schneefall hinzugewinnen und wie diese sich verändert, während sie auf dem Wasser schwimmen. Daraus haben wir abgeschätzt, wie schnell die Schelfeise von unten schmelzen."

    Auf dem antarktischen Kontinent liegt soviel Eis, dass sich der Eispanzer durch sein eigenes Gewicht in die Breite drückt, hin zu den Küsten. Dort schiebt sich das Eis in Form von Schelfeisplatten aufs Wasser hinaus. Lange Zeit dachten Forscher, dass diese Platten in erster Linie dadurch Masse verlieren, dass hin und wieder Eisberge von ihnen abbrechen. Eric Rignot und seine Kollegen konnten jetzt aber zeigen, dass der warme Ozean deutlich stärker an ihnen nagt, als die abbrechenden Eisberge. Durch ihn verlieren die Schelfeisplatten jedes Jahr etwa dreizehnmal so viel Wasser, wie der Rhein pro Jahr in die Nordsee spült. Und das war nicht die einzige Überraschung.

    
"Eigentlich hätten wir gedacht, dass die größten Schelfeisplatten dann auch das meiste Schmelzwasser produzieren. Aber das stimmt nicht. Es sind relativ kleine Schelfeise, die das meiste Eis verlieren. Aber diese kleinen Platten liegen eben über besonders warmen Ozeangebieten. Dadurch schmelzen sie so schnell."

    Die Forscher haben zehn kleine Schelfeisplatten entdeckt, die für die Hälfte des gesamten Schmelzwassers verantwortlich sind. Und das, obwohl sie gerade einmal acht Prozent der gesamten antarktischen Schelfeisgebiete ausmachen. Von den zahlreichen in der Studie genannten exakten Zahlen ist Robert Bindschadler ein wenig irritiert. Der emeritierte Wissenschaftler und Fernerkundungsspezialist des Nasa Goddard Space Flight Centers hat fast 30 Jahre lang die Antarktis erforscht.

    "Meiner Meinung betont der Artikel etwas zu stark die Genauigkeit der Ergebnisse. Die Autoren nutzen einige Abschätzungen und Annäherungen. Ich denke, die grundlegende Aussage ist auf jeden Fall richtig, es sind nur diese ganz präzisen Zahlen, die mich etwas irritieren, wenn die Unsicherheiten in Wirklichkeit bei bis zu 20 Prozent liegen können. "

    Trotz dieser Kritik hält Robert Bindschadler die Studie für sehr wichtig, da sie zeige, wie stark die Schelfeisgebiete durch die thermischen Prozesse im Ozean beeinflusst werden. Noch schwimmen die größten Schelfeise der Antarktis über kalten Meeresregionen. Aber die Ozeanströmungen können sich jederzeit ändern. Und sollte eines der Warmwassergebiete unter eine der großen Schelfeisplatten rutschen, käme es zu einem dramatischen Eisverlust, befürchtet Eric Rignot. Ein Eisverlust, der sich indirekt auch auf den Meeresspiegel auswirken könnte.

    "Die Schelfeise schwimmen schon auf dem Wasser, deshalb verändern sie den Meeresspiegel nicht direkt, wenn sie schmelzen. Aber sie sind extrem wichtig für die Stabilität des Eispanzers. Denn wenn sie sich aufs Meer hinausschieben, verhaken sich die Platten an einigen Stellen an felsigen Untiefen, die wie Anker wirken und die von hinten drückenden Eismassen abbremsen. Wenn die Schelfeise verschwinden, geht diese Bremswirkung verloren, und das Eis der Gletscher kann ungehindert in den Ozean fließen und dann auch den Meeresspiegel in die Höhe treiben."