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Das Grundgesetz als Magazin
Gänsehaut beim Blättern

Zwischen Frauenzeitschriften und Autoheftchen liegt im Kioskregal ein neuer Hochglanztitel: das Grundgesetz. Der Journalist Oliver Wurm hat es als Magazin herausgebracht. Das sei politisch korrekter Patriotismus, findet Arno Orzessek in seiner Medienglosse.

Von Arno Orzessek | 28.11.2018
    Vier Hefte übereinander: das Grundgesetz als Magazin
    Das Grundgesetz gibt es jetzt auch als Hochglanz-Magazin. (Lars Krüger)
    Was die gemeine Gänsehaut – medizinisch: Piloerektion – betrifft, lassen sich zwei Typen unterscheiden. Der erste Typus tritt bei Kälte, Angst oder drastisch negativer Erregung auf. Der zweite wird von plötzlich hereinbrechenden, überwältigend positiven Emotionen verursacht.
    Und diese erstrebenswerte Gänsehaut ist es, die das mediale Schicksal unseres Grundgesetzes, unter Kennern: GG, massiv beeinflusst. Denn bei dessen Lektüre wurde der Journalist Oliver Wurm "an vielen Stellen" von Gänsehaut Nr. 2 beglückt ... Wobei nicht härchenhaltige Stellen am Körper, sondern Text-Stellen gemeint sind.
    Ranga Yogeshwars Verfassungslob
    Falls Sie nachher auch mal versuchen wollen, sich per Grundgesetz-Lektüre stabile Piloerektionen zu verpassen, dürfte Ihnen auffallen: Nicht jeder wird von Verfassungsprosa so beneidenswert stark erregt. Dass sich Wurm seiner Sensibilität fürs GG überhaupt bewusst wurde, schiebt er übrigens auf Ranga Yogeshwar. Der TV-Moderator und Physiker hatte bei "Markus Lanz" im ZDF gesagt, unsere Verfassung sei "wunderschön".
    Und das empfand Wurm sofort ganz genauso, obwohl er nach eigener Auskunft seine Nase seit Schulzeiten nicht mehr in die Verfassung gesteckt hatte. Aber stören wir uns nicht an logischen Wacklern in der Ursprungslegende. Wurm ist ein Mann der Tat – nur darauf kommt es an!
    Sexy wie eine Staubsauger-Anleitung
    Zur Erinnerung: 2011 hatte Wurm das christliche Abendland bereits mit einer stylischen Kiosk-Ausgabe des Neuen Testaments verwöhnt, laut Tageszeitung "Die Welt" "das heiligste aller Hochglanzmagazine". Und als solches gesättigt mit Sentenzen von hohem Piloerektion-Faktor, darunter das ganzseitig weiß auf rot präsentierte Versprechen Jesu: "Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt."
    Ungefähr bis dahin soll auch das Grundgesetz gelten. Dessen greifbare Ausgaben aber fand Wurm nach Besichtigung krass undufte. Und man versteht ihn! Das GG etwa, das die Bundeszentrale für politische Bildung für null Euro plus Porto abgibt, ist so sexy wie die Bedienungsanleitung eines Staubsaugers. Außen geht’s noch. Aber innen, puh! Kleine Schrift, gequetschte Zeilen, Seiten-Gestaltung wie in Nachkriegszeitungen, kurz: Bleiwüste.
    Ein Exemplar für Habermas, bitte!
    Prunkfeindliche Protestanten, die mit Luther allein an das Wort glauben, mögen sagen: Aber das GG ist doch selbst auch nur eine Bedienungsanleitung, und zwar für unseren Staat - damit man weiß, wie es laufen soll. Wozu also protzen?
    Da ist etwas dran! Andererseits: Luther ist jetzt auch schon ein Weilchen tot. Und ein ästhetischer Qualitätsvorsprung des Grundgesetzes gegenüber Bedienungsanleitungen für Staubsauger beweist gewiss noch keinen nationalistischen Hochmut.
    Das Gegenteil stimmt. Wurms neues Kiosk-GG feiert vor unser aller Augen den politisch besonders korrekten Verfassungspatriotismus. Man wünscht sich spontan, dessen oberster Vertreter auf Erden, Jürgen Habermas, würde viele Gratis-Exemplare erhalten. Und nicht nur, wie von Wurm zugesagt, der Astronaut Alexander Gerst, der aus der Weltraumstation ISS die Erde fotografiert hat.
    Fotos direkt aus dem Weltall
    Gersts Fotos schmücken nämlich, von Designer Andreas Volleritsch aufs Proportionierlichste eingefügt, Wurms Magazin – die Europäische Weltraumorganisation ESA hat's erlaubt. Zwar könnten sich stramme Rechtsaußen angesichts des erhabenen Miteinanders von Grundgesetz und über-irdischen Fotos motiviert fühlen, "Deutschland, Deutschland über alles" zu summen. Aber das verstieße gegen den lauteren Geist des Magazins.
    Wenn Marshall McLuhans "das Medium ist die Botschaft" zutrifft, wird das Hochglanz-Heft dem GG neue Resonanzräume unter designmäßig hippen Leuten erschließen und am Kiosk mindere Blättchen mit seiner Majestät umstrahlen. Unser Urteil steht jedenfalls fest: Die Würde des neuen Grundgesetz-Magazins ist unantastbar. Wir schlagen Oliver Wurm für das Bundesverdienstkreuz vor.